Inschriftenkatalog: Greifswald

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 77: Greifswald (2009)

Nr. 113 St. Nikolai nach 1420

Beschreibung

Malereien im Gewölbe der drei östlichsten Joche des südlichen Seitenschiffs und des sich anschließenden südöstlichen Chorumgangsjochs. Die figürlichen und ornamentalen Malereien und Schriftbänder wurden vor 1985 freigelegt, und, soweit es der heutige Zustand erkennen lässt, teilweise verfälschend restauriert.1)

Sechstes Joch von Westen: In der östlichen Gewölbekappe eine sitzende menschliche Gestalt mit angewinkelten Beinen und einer Stange(?) in der Hand, darüber in einem Spruchband die zweizeilige Inschrift A; in den Gewölbezwickeln über zwei Köpfen die Inschriften B und C. In der nördlichen Gewölbekappe ehemals ein kleiner Vogel2) und ein Adler, darüber jeweils die einzeiligen Spruchbänder D und E. Das westliche Gewölbefeld ist leer, im südlichen eine sitzende menschliche Gestalt, die eine turbanähnliche Kopfbedeckung trägt, ebenfalls einen Stock in einer Hand zu halten scheint und mit der anderen Hand auf seine Nase zeigt, mit einem hinter der Figur platzierten, nicht mehr lesbaren zweizeiligen Spruchband. Oberhalb des Bogens zur Seitenkapelle Inschrift F.

Siebtes Joch: In zwei Zwickeln des östlichen Gewölbefeldes die Inschriften G und H, dazwischen drei Blüten, im westlichen Gewölbefeld I und J. Nur noch im nordöstlichen Zwickel ist unter der Inschrift ein Kopf zu sehen, der ursprünglich sicher auch in den anderen Zwickeln vorhanden war. Oberhalb des Bogens zur Seitenkapelle Inschrift K.

Achtes Joch: In der östlichen Gewölbekappe ein Christuskopf gehalten von zwei Engeln,3) darüber in einem Spruchband Inschrift L. In der westlichen Kappe der Kopf Mariens, ebenfalls gehalten von zwei Engeln, darüber Inschrift M, im Zwickel rechts ein Krug, darüber Inschrift N, im Zwickel links ein nur noch schwach zu erkennender Kopf, darüber Inschrift O. Im nordöstlichen Zwickel der nördlichen Gewölbekappe ein Kopf, zu dem die heute nicht mehr sichtbare Inschrift P gehörte. Oberhalb des Bogens zur Seitenkappelle die kaum noch lesbare Inschrift Q.

Südöstliches Chorumgangsjoch: In der westlichen Gewölbekappe ein Vollwappen gehalten von zwei Löwen(?), darüber das Inschriftenfragment R. Oberhalb des Bogens zur Seitenkapelle die besonders im Oberlängenbereich stark beeinträchtigte Inschrift S. In allen Jochen zu beiden Seiten der Gewölberippen Kleeblattbänder, in den Gewölbescheiteln vegetabiles Rankenwerk. Worttrenner in Form von vierteiligen Blüten (A, D, E), Hochpunkten (B, F, K, N, S) und drei Punkten untereinander (M).

Im Editionsteil wird soweit möglich der aktuelle Befund wiedergegeben (August 2007; vgl. den Kommentar), wobei zweifelsfreie Lesungen nicht immer zu erreichen waren und auf Text-Rekonstruktionen und -Ergänzungen möglichst verzichtet wird. In einer Fußnote folgt jeweils die von Thümmel publizierte, stärker rekonstruierende Textfassung, falls sie vom heutigen Befund abweicht.4)

Inschrift P nach Thümmel.

Maße: Bu. ca. 10–13 cm.

Schriftart(en): Minuskel (A, C–J, L, N–R), mit Versalien (B, K, M, S).

  1. A

    ˑ dv ˑ scholt ˑ g̣he[.]ne to ˑ der kerke ˑ [.]haen / vn(de) ˑ den ˑ [...](n) ˑ de(n) ˑ scholtu ˑ nycht ˑ vorˑsmaena)

  2. B

    Neenb) ˑ ik ˑ en ˑ wil nycht

  3. C

    tappe supen bole

  4. D

    wol ˑ wj ˑ wịyịt ˑ [...] ˑ [ - - - ]c)

  5. E

    ˑ vond) ˑ vle ˑ o[.] ˑ s[...] ˑ [...] ˑ [....]ẹ ˑ vaghel ˑe)

  6. F

    [.]oh[..]lles ˑ [.] ˑ ịṇ ˑ [...] der werldẹ ˑ kust ˑ dar ˑ mede ˑ he [g]od vorlusṭ w[an] ỵt gheyt a[ - - - ]f)5)

  7. G

    yo vṛo ˑ yo ˑ [...]g)

  8. H

    elde wath)

  9. I

    welke ˑ hergenscheit ˑ is dat

  10. J

    vo sat em dar nochi)

  11. K

    Ḍ[...]t ˑ [..] ˑ ịr ṣyn ˑ [.]o[.]enẹ [.]eyḅe [.]il leṿe dat ged[..] ˑ ỵẹ y[.]ej) ˑ nyne ṣunder wedek) ˑ [..]ṛỵda(n) [ - - - ] m[..]e ỵt [ - - - ] nycht ˑ me[..] ˑ to ˑ mỵḍe ho[.] ˑ we ˑ [.]ḥ ˑ ṿọ[...]e [ - - - ]l)

  12. L

    en iste formosus6)

  13. M

    Jsta ˑ est ˑ speciosa7)

  14. N

    ˑ schenghe ˑ beer ˑ

  15. O

    yk wil tum) dy kamen

  16. P†

    sta[ - - - ]esio

  17. Q

    [ - - - ]r gụd streụet ụnden) [ - - - ]o)

  18. R

    [ - - - ] pictorvmp)

  19. S

    Salomon ˑ de ˑ al[.]er ˑ wọṛḍe ˑ wysheyt ˑ eyn ˑ fundame(n)t ˑ ys ˑ dat ˑ me ˑ gode ˑ lef ˑ heft ˑ vnde ˑ ene ˑ bekent ˑ vnde ˑ anbedet ˑ enen ˑ god ˑ vnde ˑ he[.]t ˑ dar mede syngẹṇ ˑ [....]ia ˑ maria ˑ p̣[....] ad ˑ do[....] ˑ [....] ˑq)

Übersetzung:

Du sollst gerne in die Kirche gehen und den (...), den sollst du nicht verschmähen. (A) Nein, ich will nicht. (B) Zapfe (zu) saufen, Freund. (C) (...) der Welt erwählt, wodurch er Gott verliert, wenn es geht (...). (F) Was für eine Hurerei ist das. (I) Siehe, dieser ist schön. (L) Diese ist schön. (M) Schenke Bier aus. (N) Ich will zu dir kommen. (O) (...) Besitz strebt und (...) (Q) (...) der Maler. (R) Salomon, der ein Fundament aller (...) Weisheit ist, (spricht), dass man Gott lieben und ihn bekennen und (nur) einen Gott anbeten soll (...). (S)

Wappen:
Malerzunft

Kommentar

Der schlechte Erhaltungszustand und die nicht fehlerfreie Restaurierung der Inschriften erschweren die Lesung der Texte. Da Inschrift P nicht mehr vorhanden ist und auch die heute zu sehenden Darstellungen teilweise nicht mit dem 1990 beschriebenen Zustand übereinstimmen, müssen die Malereien danach noch einmal übergangen worden sein.8) Im Rahmen der Restaurierungsmaßnahmen wurden Quadrangeln nicht berücksichtigt oder falsch gesetzt, sodass sinnwidrige Schaftverbindungen entstanden. Ursprünglich wohl vorhandene Kürzungsstriche sind nicht mehr zu erkennen, und statt der zweistöckigen a der gotischen Minuskel wurden häufig einstöckige a oder sogar o nachgemalt.9)

Die Datierung der Inschriften orientiert sich an bauhistorischen Befunden, denen zufolge die sechste und siebte Kapelle des südlichen Seitenschiffs um 1420/1430 entstanden.10) In mehreren Kirchen der Region lassen sich weitere Wandmalereien finden, die oft menschliche Köpfe zeigen und so um Gewölbeöffnungen herum aufgebracht wurden, dass diese Öffnungen wiederum als offene Münder der Köpfe dienen, denen dann Inschriften beigegeben werden. Die gut erhaltenen Inschriften in den Kirchen von Neuenkirchen (Ldkr. Vorpommern-Greifswald) und in Verchen (Ldkr. Mecklenburgische Seenplatte)11) zeigen, dass die gewählten Themen oft nicht geistlich-religiöser, sondern weltlich-humoristischer Art und auch als kurze Dialoge angelegt sind. Soweit noch erkennbar, bestand das Inschriftenprogramm im südlichen Seitenschiff von St. Nikolai aus niederdeutschen, kürzeren humoristischen Sprüchen oder Dialogen (B, C, I, N), längeren Spruchweisheiten und Lebensregeln (A, F, Q, S) sowie einem lateinischen Christus- und Marienlob (L, M). Bei Inschrift R handelt es sich vermutlich um den Rest einer Stifterinschrift der Malerzunft (vgl. deren Wappen).

Textkritischer Apparat

  1. Inschrift A: du + schalt + gḥẹṛne + to + de(r k)ẹrke + ghạẹṇ + unn + den (papen) den + scholtu + nycht + versmạen (Thümmel, S. 121).
  2. Neen] Zweites e verkleinert über der Zeile.
  3. Inschrift D: wol + wi(?, im, mi) + wiyst + ... + ......... (Thümmel, S. 121).
  4. von] Heutiger Befund, ursprünglich wohl van.
  5. Inschrift E: vạn + ule + ḍy(?, gy) + .... + .. + ..ḍe + vaghel (Thümmel, S. 121).
  6. Inschrift F: . oḥiules + de + .....eụe + der + werld + kunst + dar + mede + he + god + vor+lust .. v. yt + .beyt + a.... (Thümmel, S. 119).
  7. Inschrift G: * yd wa * yo * ... (Thümmel, S. 120).
  8. Inschrift H: elde war ... (Thümmel, S. 120).
  9. Inschrift J: ỵḍ (da? vo?) saṭ em darnoch (Thümmel, S. 121).
  10. y[.]e] e mit Kürzungszeichen?
  11. wede] Vielleicht auch we(n)de.
  12. Inschrift K: O wat de de sym (synr?) hopene ẹỵḥemt ḅeyt dat geelt ............ arme sunder welṛẹ ṿẹṛdampt unḍẹ .....es ... ṃyṇẹ ut ...... yt nycht ẉel .. to myne ḥod we ....te (Thümmel, S. 119).
  13. tu] Heutiger Befund, ursprünglich wohl to.
  14. ụnde] Anstelle u möglicherweise auch v zu lesen.
  15. Inschrift Q: e . r . gud ṣṭṛẹụẹṭ unde .......... de .. ves ..ṣẹṛ (syt?) wys (Thümmel, S. 118).
  16. Inschrift R: .e.s. victor sịṃ. „Der Anfang ist vielleicht Pingens zu ergänzen. ‚Im Malen(?) möge ich Sieger sein!‘“ (Thümmel, S. 121). Diese Ergänzung ist allerdings mit dem üblichen Formular mittelalterlicher Meisterinschriften nicht in Einklang zu bringen.
  17. Inschrift S: Salomon de alḷẹr wẹṛḷṭe wysheyt yn fundament ys dat me gade lef heft unde ene bekent unde unde anbedet enen god unde helt dar mede synghen + Maria + Maria + Maria per .. ad domine .. nrs ...; (ad dominum nostrum?) (Thümmel, S. 116).

Anmerkungen

  1. In frühen Publikationen zu den Malereien (Baier, Renovierung; Kluth, Farbfassung) werden die Inschriften nicht behandelt.
  2. Nach Thümmel, Inschriften, S. 121; heute ist der Vogel nicht mehr zu erkennen.
  3. Ders., S. 116, spricht von einem „Veronikatuch“, das allerdings heute nicht mehr zu sehen ist.
  4. Die in dieser ersten Edition (1990) verwendeten Zeichen (Klammern, Auslassungspunkte, Fragezeichen, Sternchen etc.) werden beibehalten.
  5. Vgl. Wander, Sprichwörter-Lexikon 5, Sp. 177 Nr. 508 (‚Wer die Welt erkiest, dass er Gott verliest, wenn es geht ans Scheiden, dann verliert er alle beiden‘), Spruch ohne weitere Nachweise. Ein Beispiel für die inschriftliche Verwendung dieses Spruchs auf einem „Vergänglichkeitsbild“ aus Lauenburg an der Elbe, das einem zwischen etwa 1490 und 1520 tätigen Meister zugewiesen wird, bietet Stange, Verzeichnis 1, S. 220 (Nr. 725): We de werlt utkust dar mede he got vorlust wan id gheit an ein sceide so is he quit van beide. Zur Datierung des Tafelbildes vgl. Stange, Verzeichnis 1, S. 219.
  6. Den Inschriften L und M liegt der Wortgebrauch des Hohen Liedes zugrunde; vgl. Ct. 2,10 (amica mea formosa) bzw. Ct. 2,13 (amica mea speciosa mea).
  7. Vgl. Anm. 6.
  8. Vgl. dazu Anm. 2, 3.
  9. Vgl. etwa Anm. d, m.
  10. Dank an André Lutze, Greifswald, für diese Informationen (August 2007).
  11. Dazu Thümmel, Inschriften, S. 120, Anm. 5.

Nachweise

  1. Thümmel, Inschriften, S. 116–121.

Zitierhinweis:
DI 77, Greifswald, Nr. 113 (Jürgen Herold, Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di077g014k0011302.