Inschriftenkatalog: Stadt Goslar

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 45: Stadt Goslar (1997)

Nr. 6(†) Neuwerkkirche um 1235

Beschreibung

Wand- und Deckenmalereien im Ostteil der Kirche und im Tympanon des nördlichen Eingangs. Sie wurden 1870 aufgedeckt, zwischen 1874/75 und 1950 dreimal freigelegt und retuschiert. Im Rahmen der letzten Restaurierung wurde ein Teil der Überfassungen des 19. Jahrhunderts wieder entfernt und nur noch wenig Originalsubstanz festgestellt1).

Mittelschiff. Im östlichen Joch zu beiden Seiten einer großen Rosette befinden sich Darstellungen zweier Engel. Beide halten Spruchbänder, nur eine der aufgemalten Inschriften ist noch zu erkennen (A).

Chorquadrat. Auf dem westlichen Schildbogen des Chors das Brustbild eines Heiligen, wohl Johannes Bap., auf dem gegenüberliegenden östlichen Schildbogen zum Mittelschiff hin ein Brustbild Christi, die rechte Hand segnend erhoben, mit einem offenen Buch in der linken Hand (Christus Pantokrator), auf den Buchseiten die Inschrift B. In den acht Gewölbezwickeln eine auf ihn bezogene Darstellung der himmlischen Gemeinde (zwei Gruppen von Engeln, Mönche, geistliche Machthaber, Nonnen, weitere weibliche Personen und schließlich zwei Gruppen von männlichen Personen). Auf der nördlichen Wand des Chorquadrats die Erzengel Gabriel und Michael, an der Südwand zwei Engel mit Lanze, Schild, Zepter und Globus.

Wölbung der Hauptapsis. Im Apsisscheitel befindet sich die gekrönte Maria in der Mandorla, auf Salomons goldenem Thron der Weisheit sitzend mit dem Jesusknaben auf dem Schoß (sedes sapientiae)2). Über dem Kopf der Gottesmutter sieben Tauben als Gaben des Hl. Geistes. Flankierend stehen Petrus und Paulus mit je einem vertikal verlaufenden Spruchband in den Händen (C, D), kniend der Erzengel Gabriel mit Brustpanzer, Lilienzepter und einem Spruchband (E) sowie der hl. Stephanus (F) mit horizontal verlaufenden Spruchbändern in den Händen. Nimben, einzelne Kleidungsbestandteile, die die Fenster flankierenden Säulen und Ornamente des Apsisbogens sind aus vergoldetem Stuck modelliert.

Apsiswände. Zu sehen sind Darstellungen aus dem Alten Testament: Jakobsleiter, Abraham opfert Isaak, Jephtha erschlägt seine Tochter, Judith mit dem Kopf des Holofernes; darüber Halbfiguren zweier Engel und der Propheten Jesaia und Jeremia. Das von Jesaia gehaltene Spruchband (G) befindet sich über der Jakobsleiter an der nördlichen Apsiswand. Die Inschriften A–G sind in schwarzen Buchstaben auf den hellen Hintergrund aufgetragen. Inschrift H ist auf einem gemalten Band zwischen Apsiswölbung und -wand an der Nordseite zu sehen. Die goldenen Buchstaben (römische Ziffern ?) sind deutlich größer als die Buchstaben auf den Spruchbändern ausgeführt.

Tympanon des Nordportals. Über einer Darstellung der thronenden Maria, flankiert von zwei knienden weiblichen Heiligen, geringe Reste der im Halbkreis wohl flach eingehauenen und hell gefaßten Inschrift I.

Inschriften A, B, I nach Autopsie; Inschriften C–H nach StA Goslar, Bau- und Kunstdenkmäler, Großvergrößerungen Neuwerkkirche.

Maße: Bu. ca. 12 cm.

Schriftart(en): Majuskelbuchstaben.

Stadtarchiv Goslar [1/1]

  1. A

    · SALVE · R[EGINA . . .]

  2. B

    EGO SUM / VIA VERI/TAS ET / VITA3)

  3. C

    N(ON) · [.]a) · AL[...] ALIO · SA[. . .]NI · [...]VE · ALIUD SVB · CELO · DATVM · / E[..]b) HOM[....]VSc) IN [. . .]AT NOSd) · SALVOS · FIERIe)4) ·

  4. D

    DIS[. . .] XMV[.]f)

  5. E

    SP(IRITV)S · S(AN)C(TV)S · SVPERVENIET · INg) · TE5)

  6. F

    DOMINE · NE · STATVAS · ILLIS · HOCh) · PECCi)6)

  7. G

    ECCE · VIRGO · CONCIPIET · ET · PARIET · FILIVM · / ET · VOCABITVR · NOMEN · EIVS · EMMANUEL7) ·

  8. H

    MCCC ·j)

  9. I

    [. . .]A [. . .] KAT[. . .]k)

Übersetzung:

Sei gegrüßt, Königin. (A)

Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. (B)

Denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden sollen. (C)

Der Heilige Geist wird über dich kommen. (E)

Herr, rechne es ihnen nicht als Sünde an. (F)

Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und sein Name wird Emmanuel sein. (G)

Kommentar

In der zweiten Zeile von Inschrift C sind als Überreste der Schrift des 13. Jahrhunderts zwei Buchstaben zu erkennen, welche deutlich kleiner und heller sind als diejenigen, die auf dem Photo von 1910 lesbar sind und wohl im 19. Jahrhundert aufgetragen wurden8). Auffallend und ein weiteres Indiz für spätere Übermalung sind die jeder Inschrift eigenen Zierformen, wie sie auf älteren Abbildungen zu erkennen sind. Diese Art der Formenvariation innerhalb eines Inschriftenprogramms ist aus mittelalterlichen Wandmalereien nicht bekannt. Besonders die Buchstaben von Inschrift E wurden stark normalisiert und modernisiert, worauf das Fehlen von Zierformen und Abschlußstrichen deutet. Bei den Inschriften F und G sind trotz Übermalung die ursprünglichen Buchstaben- und Zierformen wohl in wesentlich größerem Maße beibehalten worden. Beide Inschriften weisen mit Sporen, Abschlußstrichen sowie zahlreichen runden Buchstabenformen Kennzeichen der gotischen Majuskel auf. Eine detaillierte Schriftbeschreibung auf der Grundlage des jetzigen Zustands der Schriftbänder ist aber nicht sinnvoll, da die Buchstabenformen im Laufe der verschiedenen Restaurierungsmaßnahmen offensichtlich verändert wurden. Besonders die im 19. Jahrhundert vorgenommene fehlerhafte Ergänzung des letzten Wortes von Inschrift C zu ATERI (vgl. Anm. e) läßt aber erkennen, daß der Inschriftentext nicht völlig frei ergänzt wurde, sondern durchaus das Bemühen vorhanden war, noch erkennbare Buchstaben der Inschriften des 13. Jahrhunderts zu erhalten.

Mit dem Bau der Neuwerkkirche wurde in den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts begonnen; zwei Altäre wurden 1186 nacheinander von Bf. Adelog von Hildesheim geweiht9). Einigkeit besteht darüber, daß von der mit den Altarweihen zusammenhängenden frühen Bauphase (Vierung, Querschiffe, Chor und Apsis) eine zweite, spätere (Langhaus) zu unterscheiden ist10). Da urkundliche Nachrichten über die Baugeschichte der Kirche in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts fehlen, sind diese Bauabschnitte nicht sicher zu datieren. Auf eine Überfassung der Malereien im 14. Jahrhundert, wie sie Inschrift H nahelegen könnte, liegen keine Hinweise vor. Als mögliche Entstehungsdaten der Malereien, die aufgrund der Schriftüberformung nicht verifiziert werden können, werden um 1230 (Apsiswände), um 1235 (Apsiswölbung) und um 1240 (Chorquadrat, Mittelschiff) angegeben11). Das Portal an der Nordseite der Kirche war bis 1902 vermauert12). Die Echtheit des Tympanons und somit auch der Inschrift I wird bezweifelt und ein späterer Einbau des Portals für möglich gehalten13).

Textkritischer Apparat

  1. Hier Kürzungsstrich über der Zeile, wahrscheinlich Rest eines gekürzten E(ST).
  2. Hinter E halbkreisförmiger Buchstabenteil, vielleicht obere Hälfte eines S, dann zu EST zu ergänzen.
  3. HOM[...]VS] Die beiden abschließenden Buchstaben wurden im 19. Jahrhundert nicht überfaßt und sind daher deutlich kleiner und nur schwach zu erkennen.
  4. NOS] N entstellt als frakturähnliches Minuskel-h; ursprünglich wohl rundes N.
  5. FIERI] ATERI Photo; durch fehlerhafte Übermalung entstanden. – Heute sind von Inschrift C nur die Buchstaben NOS S zu erkennen. 1901 waren die Worte ALIUD SVB CELO DATVM zu sehen; vgl. Kdm. Stadt Goslar.
  6. Ursprünglicher Wortlaut der Inschrift unklar.
  7. IN] Fehlt Kdm. Stadt Goslar; Griep, Neuwerk; ders., Kunstwerke.
  8. HOC] Fehlt Kdm. Stadt Goslar; Griep, Neuwerk; ders., Kunstwerke.
  9. Inschrift bricht aus Platzgründen ab.
  10. Ursprünglicher Umfang und Alter der Inschrift unsicher. Vielleicht Jahresangabe?
  11. Die kniende Heilige rechts neben Maria trägt eine Krone. In Anbetracht der über ihr angebrachten Buchstaben KAT könnte es sich um die hl. Katharina von Alexandrien handeln. Die Lesung von Inschrift I durch Griep (+ MARIA REG(IN)A ... E KATER XPI ...) wäre dann im Hinblick auf die letzten drei Buchstaben XPI in Zweifel zu ziehen, könnte aber generell die Deutung der gekrönten Heiligen als Katharina unterstützen.

Anmerkungen

  1. Zu den Restaurierungen vgl. Griep, Neuwerk, S. 63; ders., Kunstwerke 1 H, S. 11 (beide Abhandlungen im Wortlaut weitgehend identisch). Vgl. auch den Datenerfassungsbogen ‘Wandmalereien in Niedersachsen’ zur Neuwerkkirche, NLVwA-IfD.
  2. Nach III Rg. 10,18–20. Zum Bildprogramm vgl. Robert Favreau, Origines et succès d’une formule épigraphique: In gremio matris residet sapientia patris, in: Discernere vera ac falsa. Mélanges Jósef Szymanski (Annales universitatis Mariae Curie-Sklodowska 45), Lublin 1992, S. 99–108. Wiederabgedruckt in: Robert Favreau, Etudes d’épigraphie médiévale, 2 Bde., Limoges 1995, Bd. 1, S. 505–514., bes. S. 507–510; Peter Bloch, Nachwirkungen des Alten Bundes in der christlichen Kunst, in: Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum 1963–1964, Handbuch, hg. von Konrad Schilling, Köln 21964, S. 737–781, hier S. 771f.
  3. Io. 14,6.
  4. Act. 4,12: et non est in alio aliquo salus nec enim nomen aliud est sub caelo datum hominibus in quo oportet nos salvos fieri. Der Übersetzung von Inschrift C liegt der Wortlaut dieses Bibelverses zugrunde.
  5. Lc. 1,35.
  6. Act. 7,59.
  7. Is. 7,14.
  8. Vgl. Anm. c.
  9. Vgl. UB Goslar 1, Nr. 306 S. 341f.
  10. Vgl. dazu Hölscher, Forschungen, S. 15, 32. Ähnlich Griep, Neuwerk, S. 9f. Zur Frage der Datierung der am Obergaden angebrachten Engelsskulptur mit Meisterinschrift vgl. Nr. 8.
  11. Griep, Neuwerk, S. 63; ders., Kunstwerke 1 H, S. 11.
  12. Vgl. StA Goslar, Die Freilegung einer Thüröffnung im nördlichen Portal der Kirche des Stifts Neuwerk, 1902, RR III 88 5. Die Inschrift wird nicht erwähnt.
  13. Hölscher, Forschungen, S. 29.

Nachweise

  1. StA Goslar, Bau- und Kunstdenkmäler, Großvergrößerungen Neuwerkkirche (C–H).
  2. Mithoff, Archiv, S. 22 (C).
  3. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 52 (C, E, F).
  4. Kdm. Stadt Goslar, S. 94 (C, G).
  5. Griep, Kunstwerke 1 H, S. 11–13 (A, B, E–G, I).
  6. Griep, Kunstwerke 2, S. 32 (A, B).
  7. Griep, Neuwerk, S. 63 (A, B), 67 (E–G).

Zitierhinweis:
DI 45, Stadt Goslar, Nr. 6(†) (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di045g008k0000601.