Inschriftenkatalog: Stadt Goslar

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 45: Stadt Goslar (1997)

Nr. 68 Berlin-Tempelhof, Pfarrkirche Herz Jesu 1517 ?

Beschreibung

Tafeln außen auf den beiden Flügeln eines Altarretabels, Eichenholz, Temperamalerei. Die Holztafeln stammen älteren Notizen zufolge1) wahrscheinlich aus der Stiftskirche St. Simon und Judas und könnten zu einem Marienaltar gehört haben, den die wohlhabende Familie Mechtshusen möglicherweise 1517 für die kleine Krypta2) unter dem Kapitelsaal stiftete. Wahrscheinlich wurde er 1812 zusammen mit dem übrigen Stiftsinventar verkauft. Die Tafeln gelangten über die Münzenberger Sammlung in Frankfurt, wo sie ein erstes Mal restauriert wurden, 1906 in die Herz Jesu-Kirche3).

Auf den Außenseiten der Altarflügel sind links die Verkündigung an Maria und rechts die Geburt Jesu dargestellt4). In der Verkündigung spricht der Engel, ein Spruchband mit Inschrift A in der Hand haltend, Maria an; sie wendet sich ihm zu und antwortet (B). Die Buchstaben sind in dunkler Farbe zwischen einfachen Linien auf die Spruchbänder aufgemalt. Die Schwingungen der Bänder führten dazu, daß bestimmte Buchstabengruppen gestürzt oder von rechts nach links verlaufend aufgetragen wurden. Auf den beiden Seiten des auf einem Lesepult liegenden Buchs der Maria befindet sich die ebenfalls in dunkler Farbe aufgetragene Inschrift C. Auf der Tafel des rechten Altarflügels liegt der neugeborene Jesus auf dem Boden vor der kniend betenden Maria und dem sitzenden, ebenfalls betenden Joseph in rotem Mönchsgewand. Der gesamte Altar wurde zuletzt 1962–1964 restauriert; dabei wurden alte Ölfarben-Übermalungen entfernt und offensichtlich auch die Buchstaben überformt. Im Zuge dieser Arbeiten entdeckte man am Mittelteil des Altars an nicht näher bezeichneter Stelle die Jahreszahl 1517, über deren Ausführung und Alter keine Angaben gemacht werden5).

Maße: H. (Mittelteil) 152 cm, Br. 154 cm, H. (Tafeln der Außenflügel) 117 cm, Br. 68 cm, Bu. 2 cm (A, B), 0,4 cm (C).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, B), Minuskelbuchstaben mit Versal (C).

Inschriftenkommission Göttingen [1/1]

  1. A

    AVE GRA[TI]Aa) PLENA DOMIIN[S]b) TECVc)6)

  2. B

    · ECCE · ANCILLA DOMINI · FIAT MIHI [S]ECVNd) VERBVM7)

  3. C

    Ecce vir(go) / (con)cipiet / et pariet / filiu(m) [et vo]/cabit[. . .]e)8) / butirum et / mel come/det vt sciat / reprobare [. . .]f)9)

Übersetzung:

Sei gegrüßt, Gnadenvolle, der Herr (ist) mit dir. (A)

Siehe, (ich bin) die Magd des Herrn. Mir geschehe nach (deinem) Wort. (B)

Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und sein Name wird (...) sein. Er wird Butter und Honig essen, damit er (...) zu verwerfen (...) weiß. (C)

Kommentar

Auffällig sind die epsilonförmigen E, die aus zwei übereinandergesetzten und sich in den meisten Fällen nicht berührenden Bögen bestehen. Die in der Inschrift verwendete Schriftform der frühhumanistischen Kapitalis sowie die am Altar entdeckte Jahreszahl 1517 unterstützen die übliche Datierung des Altars in dieses Jahr. Die Indizien, die Tafeln als Bestandteile des Marienaltars von St. Simon und Judas und als dessen Stifter die Familie Mechtshusen zu identifizieren, sind jedoch nicht zwingend10). Die beiden Darstellungen entsprechen fast völlig denen auf den Außenseiten eines Altars von 1499, der sich im Städtischen Museum Göttingen befindet und der Werkstatt Hans von Geismars zugeschrieben wird11). Bei den Goslarer Altarbildern handelt es sich um eine von einem „künstlerisch sehr dürftigen Mitarbeiter“12) Hans von Geismars angefertigte Kopie des Göttinger Altars.

Textkritischer Apparat

  1. AVE GRA[TI]A] T und I durch Restaurierung entstellt. Die Buchstaben verschwinden hinter dem Botenstab des Engels.
  2. DOMIIN[S]] Richtig DOMINVS; am Wortende heute ein sinnloses ornamentales Zeichen, möglicherweise auf unsachgemäße Restaurierung zurückzuführen.
  3. Inschrift bricht aus Platzgründen ab; nur linke Haste des V vorhanden.
  4. [S]ECVN] Richtig [S]ECVN[DVM]. Am Wortanfang heute ein sinnloses ornamentales Zeichen; Wortende aus Platzgründen nicht ausgeführt.
  5. Zu ergänzen ist vocabit[is nomen eius Emmanuel ]; vgl. Anm. 8. Die Inschrift wird teilweise durch die Hand der Maria verdeckt.
  6. Die letzten drei Zeilen der Inschrift durch Restaurierung entstellt. Zu ergänzen ist malum et eligere bonum; vgl. Anm. 9.

Anmerkungen

  1. Vgl. Hans-Günther Griep, Altarschrein aus dem Goslarer Dom, in: Harzer Heimatland (Geschichtsbeilage zur Goslarschen Zeitung) 4.5.1960.
  2. Zur genauen Lage dieser Krypta vgl. Klemm, Die Krypta des ehemaligen Domes in Goslar, in: Die Denkmalpflege 9, 1907, S. 111–113, hier S. 111 mit Abb. 1.
  3. So Griep, Altarschrein (wie Anm. 1); wie Griep auch Gmelin, S. 518.
  4. Die heute an der Innenseite angebrachten Schnitzfiguren gehören nicht zum ursprünglichen Altar und sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden.
  5. Ich danke Herrn Pfarrer Manthey, Pfarrkirche Herz Jesu, Berlin, für die Übersendung des Restaurierungsberichts und weiterer Informationen zu diesem Altar. Aus der Erwähnung der Jahreszahl im Restaurierungsbericht (S. 7) geht ebenfalls nicht hervor, ob sie auf einem ursprünglichen Bestandteil des Marienaltars angebracht war.
  6. Lc. 1,28.
  7. Lc. 1,38.
  8. Is. 7,14.
  9. Is. 7,15.
  10. In Kdm. Stadt Goslar, S. 42, worauf Griep, Altarschrein (wie Anm. 1), sich bei seiner Argumentation beruft, ist lediglich zu lesen: „1517 ließ die Familie Mechthusen diese Kluft neu einrichten“. Vgl. E. C., Geschichte, S. 203: „Im Jahre 1517 wurde die sogenannte Gruft unter der Kapitelstube neu gebaut“; ein Stifter wird nicht genannt. Der Marienaltar in dieser kleinen Krypta bestand offenbar schon vorher, denn er wird in einer Urkunde von 1516 erwähnt (StA Goslar, Urkunde Domstift Nr. 743 [1516 Sept. 26]). Eine Stiftung der Familie Mechtshusen zwischen 1500 und 1520 für St. Simon und Judas läßt sich in den Urkunden des Stadtarchivs Goslar nicht nachweisen. Personelle Beziehungen zum Stift St. Simon und Judas hat es jedoch gegeben: Der Vikar Henning Tunssel war ein Bruder von Margarete, der Ehefrau Berthold Mechtshusens (vgl. dazu StA Goslar, Urkunde Petersbergstift Nr. 64 [1484 Mai 19], Urkunde Stadt Goslar Nr. 879a2 [1483 Mai 7]; vgl. auch die zahlreichen Erwähnungen bei Graf, Anhang A ‘Die Pfründen der Pfarrkirchen, Kapellen und Hospitäler’). Zu einer weiteren, sehr umfangreichen Stiftung der Familie in dieser Zeit vgl. Engemann, S. 113.
  11. Dazu Gmelin, Nr. 174 S. 516–518; DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 57.
  12. Gmelin, S. 517.

Nachweise

  1. Hans-Günther Griep, Altarschrein aus dem Goslarer Dom, in: Harzer Heimatland (Geschichtsbeilage zur Goslarschen Zeitung) 4.5.1960.
  2. Gmelin, Nr. 175 S. 518–520.

Zitierhinweis:
DI 45, Stadt Goslar, Nr. 68 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di045g008k0006801.