Inschriftenkatalog: Stadt Goslar
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 45: Stadt Goslar (1997)
Nr. 59 Rathaus, Ratsstube vor 1505–nach 1510
Beschreibung
Wand- und Deckenmalereien in Leimfarbentechnik auf Lindenholz (Wände) sowie Fichten- und Lärchenholz (Decke)1). Der gesamte Raum ist mit Holztafeln verkleidet, auf denen Sibyllen und Kaiser sowie Propheten, Evangelisten und Szenen aus dem Leben Jesu dargestellt sind. Über den Tafeln der Sibyllen und der Kaiser sind geschnitzte Schleierbretter mit Kielbogenabschluß angebracht, die nur noch über einzelnen Bildfeldern erhalten sind. Die Ausmalung des Raums wurde 1858 durch den Hildesheimer Dombibliothekar Johann Michael Kratz der Öffentlichkeit bekannt gemacht2). Seither wurden immer wieder Sicherungs-, Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten an der gesamten Ausmalung oder an einzelnen Tafeln vorgenommen3). Inwiefern die Darstellungen und Inschriften dabei überfaßt wurden, ist noch nicht dokumentiert. Seit September 1997 findet eine umfangreiche Restaurierung statt. Nach Abschluß der Arbeiten sollen die Tafeln wieder in der Ratsstube angebracht werden.
Die Spruchbänder vor allem der Propheten, aber auch der Sibyllen sind vielfach verschlungen und gedreht. Würde man sich bei der Edition streng nach dem Verlauf der Bänder richten, ergäben sich gelegentlich sinnentstellende Wortketten. In solchen Fällen werden die Wortfolgen so wiedergegeben, daß inhaltlich sinnvolle Aussagen entstehen. Bei der Gestaltung der Prophetensprüche sowie in geringerem Ausmaß bei einigen Sibyllensprüchen (A1, A2) sind auffällig viele, d. h. oft zwei bis drei unmittelbar aufeinanderfolgende Worttrenner verwendet worden.
Wände mit Sibyllen- und Kaiserdarstellungen:
An der Westwand ist die zentrale Darstellung der Strahlenkranzmadonna angebracht; Maria steht auf der Mondsichel und hält das Jesuskind im Arm. Links von ihr und auf sie ausgerichtet, aber durch einen Wandschrank getrennt, kniet eine männliche Person in einem langen Mantel mit Pelzbesatz, die eine goldene Kette um den Hals trägt; das diese Figur umgebende Spruchband ist leer. Der ikonographischen Tradition zufolge müßte es sich um den betenden Kaiser Augustus handeln. Man hat jedoch auch vermutet, daß ein Bürgermeister4) oder ein wohlhabender Bürger5), vielleicht als Stifter, dargestellt sein könnte. Rechts von der Madonna schließen sich im Wechsel die etwa lebensgroßen Ganzfiguren von zwölf Sibyllen und elf Kaisern an. In der Regel sind jeweils eine Sibylle und ein Kaiser einander zugewandt; die Reihe beginnt mit der Sibylla Tiburtina. Während die Kaiser nicht durch Tituli oder individuelle Attribute spezifiziert sind6), lassen sich die Sibyllen anhand der Weissagungen auf den sie umgebenden Spruchbändern (A1–A12) identifizieren. Nur eine von ihnen wird – wenn auch falsch – namentlich bezeichnet: Auf der Kopfbedeckung der Sibylla Persica findet sich das Wort LIbICA (A9). Nahezu alle Inschriften sind einzeilig auf die Spruchbän-der gemalt; lediglich die Spruchbänder zweier Sibyllen (A7, A8) sind zweizeilig beschriftet und entsprechend in kleineren Buchstaben ausgeführt. Auf der von der Sibylla Hellespontica gehaltenen Tonne ist ein Zeichen aufgemalt, das einem f der gotischen Minuskel ähnelt. Dasselbe Zeichen befindet sich in Stein über dem Durchgang zur Trinitatiskapelle.
Die Reihe der Kaiser und Sibyllen endet mit einer verhältnismäßig schmalen Tafel, auf der ein junger Mann in einem langen, weiten Gewand dargestellt ist, das bis auf seine unbekleideten Füße fällt; auch ihn umgibt ein Spruchband (A13). An den Seiten der vertäfelten Fensterlaibungen der West- und Nordwand sind wichtige Schutzheilige Goslars dargestellt (Matthias und Anna, Simon und Judas, Cosmas und Damian, Nikolaus und Katharina). Die Inschriften sind in schwarzer Farbe auf den hellen Untergrund aufgetragen.
Maße: H. (einer Wandtafel einschließlich Schleierbrett) 195 cm, Br. 85 cm, Bu. 4,5–5,5 cm (A1–A6, A9–A12), 3 cm (A7, A8).
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien in gotischer Majuskel (A1–A13) und Kapitalis (A9).
- A1
Nascet(ur) · (christus)a) · i(n) bethlehem · (et) · anu(n)ciabit(ur) · i(n) · nazaret rege(n)te · tauro · pacifico · fu(n)dato(r)e · q(u)iet(is) · O felix · illa · mat(er) · (et)c ·
- A2
Magn(us) · ab · i(n)tegro · s(e)clormb) · nascit(ur) · ordo· Ia(m) · redit · (et) · virgo rediuntc) · sat(ur)nia · regna7)· (et)c ·
- A3
Eecced) veniet diues (et) nascet(ur) de paup(er)cula (et) bestie t(er)rar(um) adorabu(n)t eu(m) Clamabu(n)t (et) dice(n)t laudate eu(m) i(n) atrijs celorum
- A4
De excelso celor(um) habitac(u)lo p(ro)spexit hu(m)iles suos (et) nascet(ur) i(n) dieb(us) nouissimis de v(ir)gi(n)e hebrea cu(m) cu(n)abil(is) terre
- A5
In p(ri)ma facie v(ir)gi(ni)s asce(n)det puella facie pulchra capill(is) p(ro)lxae) sede(n)s sup(er) sedem stratu(m)f) pueru(m) nut(ri)e(n)s da(n)s ei ad co(m)mede(n)du(m) ius p(ro)p(ri)u(m) lac de celo missu(m)
- A6
vlti(m)a etate hu(m)iliat(ur) deus hu(m)anabit(ur) p(ro)les di(vi)nag) vniet(ur) hu(m)anitati d(e)itas iacebit in feno agn(us) (et) puellari offic(i)o educah)
- A7
Invisibile v(erbu)m palsabit(ur)i) Germinabit vt radix siccabit(ur) vt folium no(n) appa(r)eb(i)t ve(n)ustas ei(us) Circu(m)dabit(ur)j) aluus mat(er)n(us) (et) flo(re)bit de(us) leticia sempit(er)na (et) ab ho(m)i(ni)b(us) (con)colcabit(ur)k) / Nascet(ur) ex matre vt deus co(n)u(er)sabit(ur) vt p(e)ccator(um) homo quidam ge(n)til(is) vid(i)t hanc gloriam
- A8
Ecce ve(n)iet dies (et) illu(m)inabit d(omi)n(u)s de(n)sa · tenebrarum (et) soluet(ur) · nexus sinagoge (et) desi(n)e(n)t labia ho(m)i(nu)m debu(n)tl) uiuent[ium]m) (et) / tenebit illum i(n) g(re)mio v(ir)go d(omi)na · ge(n)cium (et) regnabit i(n) mise(r)icordia (et) vter(us) matris ei(us) erit statera
- A9
L·I·b·I·C·A· // Ecce bestia co(n)culcaber(is) (et) gignet(ur) d(omi)n(u)s i(n) orbem t(er)rarum (et) g(re)miu(m) v(ir)gi(ni)s e(r)it salu(us)n) ge(n)cium (et) pedes ei(us) i(n) valitudi(n)e ho(m)i(nu)m i(n)uisibile v(erbu)m palpiabo)
- A10
Nascet(ur) p(ro)pheta abquep) · matris coitu ex uirgine · ei(us)
- A11
Ex olimpo excesusq) veniet (et) firmabit (con)silium i(n) celo (et) anu(n)ciabit(ur) virgo i(n) vallib(us) desertorum
- A12
Veniet ille (et) t(ra)nsibit colles (et) latice(s) olimpi regnabit i(n) paup(er)tate (et) d(omi)nabit(ur) i(n) sile(n)cio (et) eg(re)diet(ur) de · vtero · v(ir)ginis ·
- A13
Enes ma(n)nes redeeijn(n) halbe redeMen sal sij hore(n) bede8)
Übersetzung:
[Sibylla Tiburtina:] Christus wird in Bethlehem geboren und in Nazareth verkündet werden, wenn das Sternbild des Stieres, des friedfertigen Ruhestifters, regiert. O, glücklich (ist) jene Mutter usw. (A1)
[Sibylla Cumana:] Von neuem ersteht eine gewaltige Ordnung der Welt. Bald kehrt die Jungfrau zurück, und die Herrschaft Saturns (das goldene Zeitalter) bricht von neuem an usw. (A2)
[Sibylla Samia:] Siehe, ein Reicher wird kommen und wird von einer ganz Armen geboren werden, und die Tiere der Erde werden ihn anbeten und schreien und sagen: Lobt ihn in den Hallen der Himmel. (A3)
[Sibylla Hellespontica:] Vom hohen Wohnsitz der Himmel hat er die demütigen Seinen erblickt und er wird in den letzten Tagen von einer hebräischen Jungfrau in einer Wiege der Erde geboren werden. (A4)
[Sibylla Cimmeria:] Beim ersten Erscheinen des Sternbilds der Jungfrau wird eine junge Frau heraufsteigen, mit schönem Antlitz und langem Haar, sitzend auf einem gepolsterten Thron, das Kind nährend, und sie gibt ihm zu essen seinen (Gottes) eigenen Saft, die vom Himmel gesandte Milch. (A5)
[Sibylla Erythraea:] Im letzten Zeitalter wird Gott gedemütigt, das göttliche Kind wird Mensch werden, die Gottheit wird mit der Menschheit vereint werden, das Lamm wird im Heu liegen und von der Fürsorge der jungen Frau aufgezogen werden. (A6)
[Sibylla Agrippina:] Das unsichtbare Wort wird liebkost werden, es wird aufkeimen wie eine Wurzel, vertrocknen wie ein Blatt, seine Anmut wird nicht sichtbar sein. Ein Mutterleib wird es umgeben, und Gott wird in ewiger Freude erblühen und wird von den Menschen mißachtet werden. Er wird als Gott von einer Mutter geboren werden, er wird wie ein Mensch mit Sünden leben. Ein Heide hat diesen Ruhm gesehen. (A7)
[Sibylla Libyca:] Siehe, der Tag wird kommen, und der Herr wird die Dichte der Dunkelheit erleuchten, und der Knoten der Synagoge wird gelöst werden, und die Münder der Menschen werden verstummen. Sie werden (den König) der Lebenden sehen, und eine Jungfrau, die Herrin der Völker, wird ihn auf dem Schoß halten, und er wird mit Barmherzigkeit herrschen. Der Schoß seiner Mutter wird eine Waage (für alle) sein. (A8)
[Sibylla Persica:] Die Libysche (Sibylle). Siehe, Bestie, du wirst zertreten werden, und es wird ein Herr kommen auf den Erdkreis, und der Schoß einer Jungfrau wird das Heil der Völker sein, und seine Füße (werden) in der Menschen Kraft (sein). Das unsichtbare Wort wird liebkost werden. (A9)
[Sibylla Delphica:] Ein Prophet wird geboren werden von einer Jungfrau ohne die geschlechtliche Vereinigung seiner Mutter. (A10)
[Sibylla Phrygia:] Aus dem Olymp wird der Erhabene kommen und den Ratschluß im Himmel erfüllen. Und die Jungfrau wird in den Tälern der verlassenen Einöde angekündigt werden. (A11)
[Sibylla Europaea:] Jener wird kommen und Hügel und Flüsse des Olymp überqueren. Er wird in Armut regieren und im Schweigen herrschen und aus dem Schoß einer Jungfrau hervorgehen. (A12)
Die Rede eines Mannes (ist nur) eine halbe Rede. Man soll beide (Parteien) hören. (A13)
Versmaß: Hexameter (A2).
Anmerkungen
- Diese Hypothese wird durch die Beobachtungen von Lehmler u. a. (wie Anm. 1), S. 213f, gestützt, denen zufolge die Wandtafeln in situ, die Deckentafeln aber wohl auf einer Staffelei bemalt wurden.
- Dazu sowie zu älteren Zuschreibungen Gmelin, S. 675f; Goldberg, S. 95–104.
- Zu dessen Gestaltung und Bedeutung vgl. Goldberg, S. 89f, 93.
- Ebd., S. 90f.
- Nach StA Goslar, Buhmann, S. 4, finden sich in der mit „Buwerk Nr. 5158a“ bezeichneten Archivalie die Einträge 5 1/2 mth. mester Michel uppe dat beynhus sabato palmarum, 18 mk; 4 loth mester Mychel de cleynsmede vor negel unde dore unde slotte upp dat beynhus, sabato Misericordia die (letztes Wort richtig domini). Die Bezeichnung beynhus bezieht sich möglicherweise auf den im Keller unterhalb des Archivraums gelegenen, heute vermauerten Beinkeller (zur Baugeschichte vgl. Goldberg, S. 79–94). Die Bezeichnung „Buwerk“ konnte dagegen keiner Archivalie zugeordnet werden; vgl. Nr. 58, Anm. 9.
- Gmelin, S. 676.
- Goldberg, S. 107. Gmelin gibt in einem Nachtrag zu seinem Werk über die spätgotischen Tafelmalereien ohne Beleg eine These wieder, der zufolge die Malereien auf 1515 entstandenen Holzschnitten des Hans Schäufelein beruhen (Hans Georg Gmelin, Neufunde spätgotischer Tafelmalerei in Niedersachsen, in: De arte et libris. Festschrift Erasmus 1934–1984, Amsterdam 1984, S. 199–215, hier S. 199 Anm. 2). Diese These läßt sich nicht bestätigen, führt jedoch zur Vorlage der Secco-Malereien in der Trinitatiskapelle (vgl. Nr. 58).
- Vgl. besonders Goldberg, passim, und Gustav Müller-Grote, Die Malereien des Huldigungssaales im Rathaus zu Goslar, phil. Diss. Berlin 1891, Berlin 1892, passim.
- Es handelt sich um den 1517 im Augustiner-Chorfrauenstift Heiningen entstandenen Sibyllenteppich (Die Inschriften auf den Textilien des Augustiner-Chorfrauenstifts Heiningen, ges. und bearb. von Falk Eisermann [Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Jg. 1996, Nr. 6], Göttingen 1996, Nr. 4) sowie um den Weihnachtsteppich aus dem Benediktinerinnenkloster Lüne (um 1500, DI 24 [Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne], Nr. 57). Letzterer weist außer den zwölf Sibyllensprüchen auch die Weissagungen von 14 Propheten auf.
- Filippo Barbieri, Sibyllarum et prophetarum de Christo vaticinia, Rom: Johannes Philippus de Lignamine 1481 (GW 3385). Vgl. zu diesem Werk Emile Mâle, Quomodo Sibyllas recentiores artifices repraesentaverint, phil. Diss. Paris 1899, S. 27–30. Zum Erstdruck vgl. besonders Müller-Grote (wie Anm. 36), S. 73–79. Zum Autor vgl. Art. ‘Barbieri, Filippo’, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 1–45ff, Rom 1960–1995ff, Bd. 6, S. 217–221. Die textlichen Grundlagen für den Bezug der antiken Sibyllen-Weissagungen auf Christus finden sich bei Laktanz, Divinae institutiones, I 6, und Augustinus, De civitate dei, XVIII 23. Vgl. DI 24 (wie Anm. 37), Nr. 57, genauer S. 139; Art. ‘Sibyllen’ (Gerhard Seib), LCI 4, Sp. 150–153, hier Sp. 150. Zur Übernahme der Sibyllensprüche in christliches Gedankengut vgl. Bernhard Bischoff, Die lateinischen Übersetzungen und Bearbeitungen aus den Oracula Sibyllina, in: ders., Mittelalterliche Studien 1, Stuttgart 1966, S. 150–171.
- Zu diesem zweiten Druck (GW 3386) vgl. Müller-Grote (wie Anm. 36), S. 79–87. Die Beschreibung der Erythräischen, der Cumänischen und der Agrippinischen Sibylle fehlen im ersten Druck; die Sibyllen sind von leeren Spruchbändern umgeben. Im späteren Druck sind die fehlenden Beschreibungen und Weissagungen ergänzt, wohingegen die Prophetendarstellungen fehlen.
- So Eisermann (wie Anm. 37), S. 42. Für den deutschen Sprachraum konnten zwei (bzw. drei) Drucke der Sibyllenweissagungen in lateinischer Sprache nachgewiesen werden:
- 1. Blockbuch ‘Oracula Sibyllina’, um 1470–1475 (vgl. dazu Art. ‘Sibyllenweissagungen’ [Bernhard Schnell, Nigel F. Palmer], ²VL 8, Sp. 1140–1152, hier Sp. 1150; Anneloe Smits, Zu den Zyklen mit Sibyllen und heidnischen Propheten von Ludger d. Ä. und Hermann tom Ring, in: Die Maler tom Ring. Eine Ausstellung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Münster, 1. September – 10. November 1996, 2 Bde., hg. von Angelika Lorenz, o. O. 1996, Bd. 1, S. 77–87, hier S. 82).
- 2. Nachdruck der ‘Sibyllarum et prophetarum de Christo vaticinia’ des Filippo Barbieri, Oppenheim: Jakob Köbel 1517 (vgl. dazu Josef Benzing, Jakob Köbel zu Oppenheim 1494–1533. Bibliographie seiner Drucke und Schriften, Wiesbaden 1962, Nr. 55. Müller-Grote [wie Anm. 36], S. 91f, geht von zwei textgleichen Drucken aus der Offizin Köbels aus).
- Da die Sibyllenspruchbänder der Holzschnitte mit Text gefüllt sind, muß der zweite Druck Barbieris als Vorlage gedient haben; die Darstellungen finden sich in leicht veränderter Form wieder (vgl. Müller-Grote, S. 93f). Insgesamt fünf der Holzschnitte mit Sibyllendarstellungen finden sich bei Smits (wie oben), S. 80 Abb. 6–8, Müller-Grote, S. 95, 97, 99. Die Text- und Wirkungsgeschichte der verschiedenen lateinischen Sibyllen-Drucke bedarf jedoch einer genaueren Klärung. Zu dem 1516 bei Köbel entstandenen deutschsprachigen Druck mit Sibyllensprüchen vgl. Benzing (wie oben), Nr. 48; auch ²VL 8, Sp. 1150; Müller-Grote, S. 98, 100 (dort mit der Behauptung, der deutsche Druck sei später als der lateinische entstanden). Vgl. schließlich allgemein Carlo de
- Clercq, Les Sibylles dans les livres des XVe et XVIe siècles en Allemagne et en France, in: Gutenberg-Jb. 1979, S. 98–119.
- Diese Behauptung zuletzt wieder bei Smits (wie Anm. 40), S. 81. Die Autorin will im Werk Barbieris die Vorlage sowohl für die Attribute als auch für die Weissagungen der Sibyllen sehen. Seit der Studie Müller-Grotes (wie Anm. 35) gilt jedoch als erwiesen, daß ein „direkte[r] Zusammenhang zwischen dem Bildercyklus zu Goslar und den Holzschnitten der Opuscula nicht an[zu]nehmen“ ist (S. 105).
- Hartmann Schedel, Liber cronicarum cum figuris et ymaginibus ab inicio mundi (Weltchronik), Nürnberg: Anton Koberger 1493 (Hain 14508). Benutztes Exemplar: Nds. SUB Göttingen, 2° H. un. II, 53b Inc. Die Sibyllensprüche und -darstellungen finden sich auf fol. 93v (Tiburtina), fol. 69v (Cumana), fol. 35v (Samia), fol. 64v (Hellespontica), fol. 78v (Cimmeria, genannt chimica), fol. 35v, 56v (Erythraea), fol. 35v (Agrippina, Libyca, Persica, Delphica, Phrygia, Europaea). Auch die Königin von Saba wird als Sibilla Saba zu den weissagenden Frauen gezählt (fol. 46v). Eine weitere, namenlose Sibylle wird fol. 35v genannt und als valde religiosa bezeichnet. Die Tatsache, daß sich auf fol. 35v der Weltchronik nur neun Sibyllenweissagungen und acht -darstellungen finden, wohingegen im gesamten Werk 14 Sibyllen genannt werden, deutet darauf hin, daß der Autor für die Wiedergabe der Sibyllen und ihrer Weissagungen auf mehr als eine Vorlage zurückgriff; vgl. dazu auch Anm. 51 sowie Müller-Grote (wie Anm. 36), S. 89f.
- Mâle (wie Anm. 38), S. 31–34. Hier wird der italienische Druck von 1481 mit Lesarten eines Autographs Barbieris (Paris, Arsenal, Cod. 243) wiedergegeben. In dieser Handschrift sind die Orakel der Sibyllen in dem Wortlaut verzeichnet, der dem genaueren und vollständigen Text des undatierten Neudrucks der Vaticinia entspricht (dazu Anm. 39).
- Schedel (wie Anm. 42), fol. 35v.
- Mâle (wie Anm. 38), S. 34.
- Schedel (wie Anm. 42), fol. 35v.
- Mâle (wie Anm. 38), S. 33.
- Schedel (wie Anm. 42), fol. 35v.
- Mâle (wie Anm. 38), S. 33.
- Vgl. etwa A7: in Goslar peccatorum statt des korrekten peccator bei Schedel und Barbieri. Vgl. auch A5: sedens super sedem stratum statt stratam (Schedel, Barbieri [nach Mâle, wie Anm. 38]); A8: debunt viventium statt videbunt regem viventium (Schedel, Barbieri [nach Mâle]).
- Diese zweifache, leicht variierende Wiedergabe läßt den Schluß zu, daß mehrere Varianten der Weissagung kursierten. Bei Barbieri (nach Mâle [wie Anm. 38], S. 32) lautet sie unietur humanitati divinitas.
- habens sub pedibus circulum aureum ornatum stellis ad similitudinem celi (Schedel [wie Anm. 42], fol. 56v).
- Vgl. Müller-Grote (wie Anm. 36), S. 83. Auch im lateinischen Druck Jakob Köbels (wie Anm. 40) steht die Sibylla Erythraea auf einem Sternenband; vgl. Smits (wie Anm. 40), S. 80 Abb. 7.
- Vgl. etwa die im Katalog Die Maler tom Ring (wie Anm. 40), Bd. 2, S. 294–303, wiedergegebenen Holzschnitte und Kupferstiche.
- ‘Oracula Sibyllina’ (wie Anm. 40). Die Weissagungen der Sibyllen in diesem Werk kommen als Vorlage für die Goslarer Sprüche nicht in Betracht. Sie zeichnen sich sowohl gegenüber der Weltchronik als auch den Vaticinia durch Eigenheiten aus, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Auch die Zitate aus dem Alten und Neuen Testament sind im Blockbuch andere als in der Ratsstube. Es bleibt jedoch die auffällige Übereinstimmung in der Gesamtkomposition der verschiedenen Elemente. Zu dem in einem einzigen Exemplar überlieferten Blockbuch vgl. Blockbücher des Mittelalters, hg. von Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg-Museum, Ausstellung 22. Juni 1991 – 1. September 1991, Mainz 1991, Nr. 21; de Clercq (wie Anm. 40), Abb. 13–17, 19, 20; auch Gustav Scherrer, Verzeichnis der Incunabeln der Stiftsbibliothek von St. Gallen, St. Gallen 1880, S. XVI–XVIII.
- Erwähnt sei weiterhin ein niederdeutsches Spiel über den Sündenfall, das um 1480 möglicherweise in Einbeck verfaßt wurde und dessen einzige erhaltene Handschrift etwas später in Goslar entstand (vgl. Art. ‘Immessen, Arnold’ [Brian Murdoch], ²VL 4, Sp. 366–368; Arnold Immessen, Der Sündenfall, hg. von Friedrich Krage [Germanische Bibliothek 2.8], Heidelberg 1913, S. 3f). Hier erscheinen ebenfalls zwölf Sibyllen, die ihre Weissagungen zunächst in einer lateinischen, anschließend in einer deutschen Version aussprechen; vgl. dazu auch Anm. 56. Der Sibyllenzyklus aus St. Godehard in Hildesheim (Anfang 15. Jahrhundert) ist nicht erhalten, seine Inschriften sind nicht überliefert.
- Vgl. Anm. 55. Die lateinischen Weissagungen der Sibyllen finden sich in den Versen 2888f, 2923f, 2932f, 2957f, 2985, 3028f, 3055–57, 3103 u. 3105 u. 3107 u. 3109, 3119 u. 3121, 3168, 3192, 3218f. Die dort gebotene Fassung scheint eng mit den Sprüchen des Blockbuchs ‘Oracula Sibyllina’ (wie Anm. 40) verwandt zu sein.
- Dazu jetzt U. Meier, passim. Vgl. die Weltgerichtsdarstellung im Sitzungssaal des Goslarer Rathauses (Nr. 51, wohl um 1500). Für den norddeutschen Raum vgl. die Darstellung dieses Motivs im Lüneburger Rathaus (Gmelin, Nr. 12 S. 130–132, um 1482) oder die Herrscherreihe im Fürstensaal dieses Rathauses (ebd., Nr. 219 S. 677–868, wohl spätes 15. Jahrhundert, stark überarbeitet).
- In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß der Sitz im Leben der beiden in Kloster Lüne und dem Stift Heiningen entstandenen Sibyllenteppiche (wie Anm. 37) im Kirchenraum während der Weihnachtszeit zu suchen ist. Ihr Text-Bild-Programm weist deutliche Bezüge zur Weihnachtsliturgie auf.
- Vgl. dazu Art. ‘Augustus’, LCI 1, Sp. 225–228, v. a. Sp. 226f; Goldberg, S. 69–73, zu den Goslarer
- Darstellungen. Auch bei Schedel (wie Anm. 42), fol. 93v, wird die Prophezeiung der Sibylla Tiburtina in einem durch seine Größe hervorgehobenen szenischen Holzschnitt dargestellt.
- Schedel (wie Anm. 42), fol. 93v. Auch in der entsprechenden Illustration des lateinischen Sibyllen-Drucks des Jakob Köbel (wie Anm. 40) trägt Augustus keine Krone; vgl. die Abb. bei Smits (wie Anm. 40), S. 80 Abb. 8. Gleiche Art der Darstellung in: Oracula Sibyllina. Weissagungen der zwölf Sibyllen, hg. von Paul Heitz, Wilhelm Ludwig Schreiber, Straßburg 1903 (o. S.), Blatt Sibilla libica, Holzschnitt rechte Seite. In den drei hier angeführten Illustrationen liegt die Krone zu Füßen des Kaisers auf dem Boden; auf der Tafel der Ratsstube fehlt sie gänzlich.
Nachweise
- Mithoff, Archiv, S. 35f (ohne B, C17–C19).
- Mithoff, Kunstdenkmale, S. 69 (C1–C16).
- Müller-Grote, S. 21–23 (A1–A13), S. 25f (C1–C16).
- Kdm. Stadt Goslar, S. 272–276 (A1–A12), S. 279f (C1–C16).
- Goldberg, S. 114 (A1–A12).
- Gmelin, S. 664–666 (A1–A13), S. 668–671 (C1–C17).
Zitierhinweis:
DI 45, Stadt Goslar, Nr. 59 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di045g008k0005909.
Textkritischer Apparat
Anmerkungen
Handwerkervermerke: Im Rahmen der 1997 begonnenen Restaurierung wurde auf dem Sturz der Südtür, die in den alten Archivraum (sog. Münzkabinett) führt, Inschrift B1 aufgedeckt. Auf dem zu der Sibylla Libyca gehörenden Kielbogen ist auf der Rückseite Inschrift B2 angebracht. Der Kielbogen über der Sibylla Cumana trägt auf der Rückseite den Vermerk B3, auf dem Schleierbrett befindet sich B4. Der zu dem neben der Sibylla Tiburtina angebrachten Kaiserbild gehörende Kielbogen zeigt auf der Rückseite B5, das Schleierbrett B6. Mit Ausnahme des ersten Teils von Inschrift B6, der flach eingekerbt ist, sind alle Markierungen in Rötel auf Holz aufgemalt worden. Im Bild der Sibylla Samia ist im Bereich des Grünstreifens unter der Mauer die mit dem Pinselstiel in den nassen Farbgrund eingekratzte Inschrift B7 schwach sichtbar. Der Restaurator Friedrich Buhmann hatte 1931 ähnliche Rötelmarkierungen entdeckt9). Sie ließen sich aber nicht verifizieren und stimmen auch nicht mit den 1997 gelesenen Inschriften überein.
Maße: H. 13 cm, L. 112,5 cm, Bu. 1–2 cm (B1); Bu. 0,8–1 cm (B2), 1,4 cm (B3), 1 cm (B4), 1,2 cm (B5, B6), 5 cm (B7).
Schriftart(en): Kursive.
zu [.....] b[.] xlv [..] Gul [....] el[...]g [....]
p(ri)(mus)r) in oste(n) 7s) vndt) // Jm osten
p(ri)(mus)r) nord(en) // Jm nord(en)
p(ri)(mus)r) nord(en) // Jm nord(en)
7 [im] weste(n) // 7 [im] weste(n)
7 im weste(n) // 7 im weste(n)
[. .]x fl v
Die Inschriften B1–B7 sind sicher im zeitlichen Zusammenhang mit der Ausmalung der Ratsstube entstanden. Ob sie alle von einer Hand stammen, läßt sich nicht entscheiden. B1 und B7 könnten Reste von Lohn- oder Preisangaben sein, B2–B6 beziehen sich auf die Anbringungsorte der Kielbögen und Schleierbretter.
Textkritischer Apparat
Anmerkungen
Decke mit Propheten- und Evangelistendarstellungen sowie Szenen aus dem Leben Jesu: Wie die Figuren an den Wänden sind auch diese Darstellungen auf die Mondsichelmadonna an der Westwand ausgerichtet. Die Deckenverkleidung besteht aus zwanzig quadratischen, durch farbig gefaßte Profile miteinander verbundenen Tafeln. Vier größere Mittelfelder mit Szenen aus dem Leben Jesu sind von 16 kleineren Randfeldern umgeben. Auf den Tafeln in den vier Ecken sind die sitzenden Evangelisten mit Spruchbändern (C1, C5, C9, C13) dargestellt, dazwischen zwölf Propheten in gleicher Haltung, ebenfalls mit Spruchbändern (C2–C4, C6–C8, C10–C12, C14–C16). Deren Texte bestehen aus wörtlichen Bibelzitaten oder Paraphrasen der entsprechenden Verse. Mimik und Gestik zeigen sie in einem lebhaften Disput; dabei sind in der Regel zwei Propheten oder auch ein Prophet und ein Evangelist einander zugewandt. Die größeren Mitteltafeln zeigen die Verkündigung an Maria mit dem Gruß des Engels auf einem Spruchband (C17); die Geburt Jesu, über der Szene ein Eingel, der ein Spruchband mit Inschrift C18 hält; und die Anbetung durch die Könige. Die Szene der Darbringung Jesu im Tempel zeigt einen Altar mit einem Diptychon, auf dessen Seiten in heller Farbe auf dunklem Untergrund die in einem Merkspruch zusammengefaßten Initien der Zehn Gebote aufgemalt sind (C19). Die übrigen Buchstaben sind in schwarzer Farbe auf dem hellen Untergrund angebracht. Initialen zu Beginn der Inschriften sind oft in rot, selten auch in blau oder grün, die Worttrenner paragraphzeichenförmig ausgeführt.
Maße: H. 230 cm, Br. 230 cm (Mittelfelder), H. 150 cm, Br. 150 cm (äußere Felder), Bu. 5 cm (C1–C16), 3 cm (C17), 0,3–0,4 cm (C18), 2–2,5 cm (C19).
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (C1–C16, C18), frühhumanistische Kapitalis (C17, C19).
Cum · nat(us) esset · ihesus · in · betlehe(m) · ecce · magiu) · ab · orie(n)te ven[.....]v)10) [.]atheiw) iio
· Rex · isr(ae)l · d(omi)n(u)s · in · medio · tui11) · Sophonie · iiio ·
· Ecce · ego · venio · et · habitabo · Jn · medio · vestri12) · Zacharie · iio ·
· Veniet ad · te(m)plv(m) · s(an)ct(u)m · svv(m) · D(omi)nator · quem · vos · qverit(is)13) · mala·chie · iiio ·
· Cvm · in·dvcere(n)t pverv(m) ih(esu)m · pare(n)tes · eius · in · templvm14) lvce · iio ·
· Oriet(ur) · stella · ex · Jacob15) Balam xxiiiio
· Omnes · de · saba · veniv(n)t · avrv(m) · et · thvs · de·fere(n)·tes16) · Jsaie
· Reges · tarsis · et · insvle · mvne·ra · vfferu(n)tx)17) danil · xxjo y)
· Missus · est angelvs gabriel a deo [in]z)18) [lu]ceaa) i
Ecce virgo co(n)cipiet · et pariet · filiu(m) et · uocabit(ur) nome(n) · ei(us) emanuel19) isaie ocdauobb) · viicc)
· nouu(m) · faciet · d(omi)n(u)s · sup(er) · t(er)ra(m)dd) · m(u)lier · c(ir)cu(m)dabit · viru(m)20) · ie(re)mie · xxxi ·
· hec · porta · clausa · erit · et · d(omi)n(u)s · de(us) · israhel · i(n)·gressus · e(st) · p(er) · eam21) · ezochielis · xliiii ·
· Verbv(m) caroee) · factv(m) · est · Ioha(n)nes22) · io ·
· Tu · bethlehem · t(er)ra · iuda · no(n) · eris · minima23) · mychee · vo ·
· Jn · medio · d(om)ini · a(n)i(m)aliu(m) · co(n)gnoscet(is)ff)24) · Abacuck · iiio ·
Lapi(s) angvlar(is) abscis(us) e(st) sine ma(n)ib(us) de monte25) danielisgg) iio
· AVE · GR(ATI)A PLENhh) · D(OMI)N(V)S · TECVM26) ·
gloria i(n) exclsisii) Djj)27)
VNV(M) CRDEkk) · / DEVM / NEC FANAll) · / IVRA PER IP[SVM] /SABATA · / SA(N)CTIFICES // HABEAS I(N) ONOmm) / PARENTES NO(N) / SIS OCCISOR / FORnn) MECHVS / TESTIS I(N)IQOSoo) /ALTERIVS / NEC NVPTpp)28)
Übersetzung:
Als Jesus in Bethlehem geboren war, siehe, da kamen die Weisen aus dem Morgenland. (C1)
Der König Israels, der Herr in deiner Mitte. (C2)
Siehe, ich komme und werde in eurer Mitte wohnen. (C3)
Der Herrscher, den ihr sucht, wird zu seinem heiligen Tempel kommen. (C4)
Als die Eltern ihren Sohn Jesus in den Tempel führten. (C5)
Ein Stern wird aufgehen aus Jacob. (C6)
Alle aus Saba kommen und bringen Gold und Weihrauch. (C7)
Die Könige von Tharsus und von der Insel bringen Geschenke. (C8)
Der Engel Gabriel ist von Gott gesandt worden. (C9)
Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und sein Name wird Emmanuel sein. (C10)
Etwas Neues wird der Herr auf Erden schaffen, die Frau wird den Mann umfangen. (C11)
Diese Tür wird verschlossen sein, und der Herr, der Gott Israels, ist durch sie eingetreten. (C12)
Das Wort ist Fleisch geworden. (C13)
Du, Bethlehem im Land Juda, wirst nicht die Geringste sein. (C14)
Inmitten der Tiere des Herrn werdet ihr erkennen. (C15)
Ein kantiger Stein ist ohne Hände vom Berg abgespalten worden. (C16)
Sei gegrüßt, Gnadenvolle, der Herr ist mit dir. (C17)
Ehre sei Gott in der Höhe. (C18)
Glaube an einen Gott und schwöre nicht Falsches bei seinem Namen, heilige den Sabbat, ehre die Eltern, sei kein Mörder, Dieb, Ehebrecher, falscher Zeuge und (begehre) nicht die Ehefrau eines anderen. (C19)
Versmaß:
Hexameter (C19).Textkritischer Apparat
Anmerkungen
Die in gotischer Minuskel ausgeführten Inschriften zeichnen sich durch hohe, schlanke Buchstaben mit deutlichen Oberlängen und durch zahlreiche Abkürzungen aus. Die Inschriften der Wandtafeln weisen in A1 und A2 das Schluß-m in Form der Ziffer 3 auf. Häufig findet sich das Bogen-r, gelegentlich ein punkt-, haken- oder v-förmiges diakritisches Zeichen auf u und v. Obwohl die Inschriften der Deckentafeln in vergleichbaren Buchstabenformen ausgeführt sind, lassen sich doch einige Unterschiede erkennen. Die runden s am Wortende weisen durchgängig breitere Proportionen und einen Diagonalstrich auf. v am Wortanfang ist gelegentlich (C3, C10, C11) mit gebogenen, nicht gebrochenen Schräghasten ausgeführt. In C6, C7, C10, C15 findet sich unten offenes, gelegentlich auch geschlossenes kastenförmiges a. Vielleicht können diese geringfügigen Unterschiede zwischen Wand- und Deckeninschriften so gedeutet werden, daß sie in getrennten Arbeitsgängen oder von unterschiedlichen Meistern aufgetragen wurden29).
Die Identität des in der Ratsstube tätigen Malers ist nicht bekannt. Es wird davon ausgegangen, daß er aus dem sächsischen Raum stammte und möglicherweise süddeutsche Einflüsse verarbeitete30). Da keine archivalischen Aufzeichnungen vorliegen, aus denen die Datierung der Ausmalung hervorginge, kann nur ein ungefährer Entstehungszeitraum ermittelt werden. Die Trinitatiskapelle in dem an die Ratsstube angrenzenden Raum wurde 1505 eingerichtet, 1506 geweiht und nach August 1507 ausgemalt (vgl. Nr. 58). Daß die Ratsstube selbst bereits vor ihrer Ausmalung genutzt wurde, zeigt ein für die Vertäfelung teilweise abgearbeitetes, spitzbogiges Gewändeportal zwischen Ratsstube und Kapelle31). Falls der Einbau des Portals mit der Einrichtung der Ratskapelle 1505–1507 zusammenhängt, muß die Vertäfelung der angrenzenden Ratsstube, durch die das Portal völlig verdeckt wurde, später erfolgt sein32). Älteren Nachforschungen des Restaurators Buhmann zufolge verzeichnet eine städtische Quelle für das Jahr 1505 Schmiedearbeiten, die vielleicht der Anbringung von Riegeln und Schlössern am neben der Ratsstube nach Süden gelegenen Archivraum gedient haben33). Ein Meister Clawes soll 1505 zweimal Lohn für die Ausmalung einer Tür erhalten haben; dabei könnte es sich um die auf der Kapellenseite der Ratsstubenvertäfelung angebrachten Darstellungen des Schmerzensmanns und der Mater dolorosa handeln (vgl. Nr. 58). Sollte diese Annahme zutreffen, müßte die Vertäfelung vor 1505 angebracht worden sein. Stilistischen Erwägungen zufolge sind die Malereien zwischen 1505 und 151034) oder erst nach 151035) entstanden. Da das ikonographische Programm der Goslarer Ratsstube mehrfach Gegenstand ausführlicher Erörterungen gewesen ist36), soll im folgenden die bislang vernachlässigte Lesung und philologische Untersuchung der den Goslarer Sibyllen beigegebenen Texte im Mittelpunkt stehen, da gerade sie zu neuen Erkenntnissen über die Textvorlage für die Weissagungen führt. Im niedersächsischen Raum lassen sich für die Zeit um 1500 mindestens zwei Sibyllenzyklen finden37), deren Inschriften nachweislich auf der erstmals 1481 in einem Sammelband erschienenen Abhandlung ‘Sibyllarum et prophetarum de Christo vaticinia’ des italienischen Dominikaners Filippo Barbieri beruhen. Zum ersten Mal wurden dort in gedruckter Form Kleidung, Aussehen und Attribute der zwölf Sibyllen beschrieben sowie in ganzseitigen Holzschnitten abwechselnd mit Propheten dargestellt; auch Weissagungen waren ihnen zugeordnet38). Bald darauf erschien ein undatierter Neudruck dieses Werks, in dem der Wortlaut der Weissagungen nur geringe, die Holzschnitte aber erhebliche Veränderungen aufwiesen39). Dieser zweite Druck der Vaticinia wurde „traditionsbildend für die Textgestalt der den Sibyllen beigegebenen Beischriften auf bildlichen Darstellungen aller Art“40). Bisher wurden auch die Sibyllensprüche in der Goslarer Ratsstube auf dieses Werk zurückgeführt41). Vergleicht man jedoch die Goslarer Texte mit denen Barbieris, sind bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung Abweichungen festzustellen, die ausschließen, daß Barbieri als direkte Vorlage für die Weissagungen der Goslarer Sibyllen gedient hat. Vielmehr zeigen sie weitgehende Übereinstimmungen mit den Sibyllensprüchen in der 1493 in Nürnberg gedruckten lateinischen Weltchronik des Hartmann Schedel42). Eine Gegenüberstellung von drei Passagen in der Fassung der Goslarer Ratsstube (G.), der Schedelschen Chronik (S.) und der Vaticinia Barbieris nach der Textwiedergabe bei Mâle (B.)43) lassen die textlichen Beziehungen deutlich vor Augen treten:
Sibylla Agrippina (A7):(G.)Nascetur ex matre ut deus conversabitur ut peccatorum homo quidam gentilis vidit hanc gloriam.(S.)Nascetur ex matre ut deus: et conversabitur ut peccator: Homo quidam gentilis vidit hanc gloriam 44).(B.)nascetur ex matre ut Deus et conversabitur ut peccator 45).
Sibylla Phrygia (A11):(G.)Ex olimpo excesus veniet et firmabit consilium ...(S.)Ex olimpo excelsus veniet et firmabit consilium 46) ...(B.)Flagellabit dominus potentes terrae, et Olympo excelso veniet, et firmabit consilium 47) ...
Sibylla Europaea (A12):(G.)Veniet ille et transibit colles et latices olimpi ...(S.)Veniet ille et transibit colles et latices olimpi 48) ...(B.)Veniet ille et transibit montes et colles et latices sylvarum Olympi 49) ...
Die enge Übereinstimmung zwischen den Goslarer und den Schedelschen Sibyllensprüchen ist augenfällig. Demgegenüber zeichnen sich die Weissagungen bei Barbieri durch einen kürzeren (A7), längeren (A11) oder in einzelnen Worten abweichenden (A12) Wortlaut aus. Gelegentliche Übereinstimmungen zwischen Schedel und Barbieri bei gleichzeitig festzustellenden Abweichungen im Goslarer Wortlaut sind in allen Fällen auf fehlerhafte Ausführung der Goslarer Inschriften zurückzuführen, während Schedel und Barbieri sprachlich korrekte Texte bieten50). In keinem Fall weisen die Goslarer Sibyllen mehr Text als die Schedelsche Weltchronik auf. Daß die Vorlagenbestimmung dennoch nicht eindeutig zugunsten der Weltchronik vorgenommen werden kann, zeigt der Spruch der Sibylla Erythraea (A6), der bei Schedel zweimal mit abweichendem Wortlaut angeführt wird: auf fol. 35v heißt es Iungebatur humanitati deitas, auf fol. 56v Unietur humanitati divinitas51). Der Goslarer Text lautet Unietur humanitati deitas, bietet also eine Kontami-nation beider Varianten. Die Beziehungen zwischen dem Goslarer und dem Schedelschen Text können somit dahingehend gedeutet werden, daß beide möglicherweise auf einer gemeinsamen, unbekannten Textgrundlage beruhen.
Gestützt wird diese Vorlagenbestimmung durch Gemeinsamkeiten auch in der bildlichen Darstellung. Dabei ist zu beachten, daß in der Schedelschen Weltchronik die Sibyllen sowohl in halbfigurigen Holzschnitten dargestellt als auch im Text beschrieben werden. Wie nah die Ausführungen in Goslar und in der Weltchronik beieinander liegen, zeigt etwa die Darstellung der Sibylla Erythraea. In der Chronik heißt es, unter den Füßen der Sibylle sei ein goldener, mit Sternen geschmückter und dem Himmel ähnlicher Kreis zu sehen52); die Darstellung zeigt entsprechend einen in einer Hand gehaltenen, schmalen, sternenbesetzten Ring. Ein ebensolcher ist zu Füßen der Sibylla Erythraea in Goslar zu sehen. Bei Barbieri dagegen steht sie auf einem breiten, mit Sternen besetzten Band53). Die Suche nach der unmittelbaren Vorlage für die Goslarer Darstellungen müßte berücksichtigen, daß Sibyllendarstellungen offenbar häufiger als Brustbilder denn als Ganzfiguren überliefert sind54).
Einen weiteren Anhaltspunkt bietet schließlich die für die Ausmalung der Ratsstube gewählte Verbindung von Sibyllensprüchen mit Weissagungen der Propheten, Evangelistenzitaten und Szenen aus dem Leben Christi. Hier ist auf ein um 1470–1475 entstandenes Blockbuch zu verweisen, das jedem der zwölf größeren Holzschnitte, auf denen die thronenden Sibyllen (mit einer Beschreibung ihres Äußeren und der Wiedergabe ihrer Weissagung) zu sehen sind, jeweils zwei kleinere Darstellungen zuordnet, in denen auf die Geburt oder das Leben Christi bezogene Szenen sowie Prophetensprüche und Evangelistenzitate wiedergegeben werden55). Wenn auch eine unmittelbare Herleitung des gesamten Text-Bild-Programms der Sibyllen in der Goslarer Ratsstube bislang nicht möglich ist, muß doch festgehalten werden, daß vor allem zwischen den Texten, aber auch zwischen den Darstellungen in der Ratsstube und in der Weltchronik Hartmann Schedels enge Beziehungen bestehen, wohingegen die Vaticinia des Filippo Barbieri als Vorlage für die Sibyllen der Ratsstube auszuschließen sind. Vielmehr sollte wohl von Vorbildern aus dem deutschsprachigen Raum ausgegangen werden. Eine zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Goslar angefertigte Abschrift eines mittelniederdeutschen geistlichen Spiels, in dem Sibyllen und Propheten die Ankunft Christi weissagen, scheidet als Vorlage für die Sprüche der Ratsstube ebenfalls aus56).
Das Text-Bild-Programm der Goslarer Ratsstube ist in den weiteren Bereich der spätmittelalterlichen Rathausikonographie einzuordnen, die sich besonders die Themen ‘Herrschaft’ und ‘Gericht’ sowohl in ihren weltlich-städtischen als auch jenseitig-eschatologischen Ausprägungen zu eigen machte57). In Goslar ist nur der gereimte Spruch, der zu Unparteilichkeit bei Beratungen und Urteilen der städtischen Gremien auffordert (A13), der rein weltlichen Sphäre zuzuordnen. Anders als in vielen anderen Fällen dominieren die heilsgeschichtlichen und eschatologischen Aspekte des Programms58). Auch für die Inschriften gilt, daß sie vorrangig dem religiös-eschatologischen Bereich zuzuordnen sind, weil sie auf die Ankunft Christi verweisen, der als Weltenherrscher die römisch-deutschen Kaiser ablösen wird. Somit kommt den Spruchbändern der Sibyllen und Propheten die Funktion zu, die nur an den Wänden thematisierte Sphäre weltlicher Herrschaft mit dem an der Decke dargestellten Bereich der biblischen Heilsgeschichte zu einem größeren Zusammenhang zu verbinden. Die gleiche Bedeutung besitzt die zentrale Darstellung der Strahlenkranzmadonna mit den zu ihren Seiten befindlichen Figuren der Sibylla Tiburtina und des knienden Mannes mit einer Kette um den Hals. Ikonographisch beruht diese Figurenkonstellation auf der vor allem im Spätmittelalter verbreiteten Legende, die Sibylle habe dem römischen Kaiser Augustus die Ankunft Christi vorausgesagt, woraufhin ihm am Himmel eine Jungfrau mit einem Kind auf dem Arm erschienen sei59). Die Tatsache, daß die kniende Figur keine Kaiserkrone trägt, wurde dahingehend gedeutet, es sei ein reichsstädtischer Amtsträger oder wohlhabender Bürger dargestellt. Dieser Schluß ist jedoch nicht zwingend, denn Augustus trägt in verschiedenen Darstellungen seiner Vision keine Krone60).
Das komplexe Text-Bild-Programm der Ratsstubenausmalung läßt sich somit dahingehend zusammenfassen, daß aus reichsstädtischer Perspektive zunächst die für das Selbstverständnis Goslars wichtige imperiale Reichsidee in Erinnerung gerufen wird. In einem weiteren Schritt wird diese Vorstellung verbunden mit der Erwartung Christi, des himmlischen Herrschers, und einer durch ihn zu errichtenden neuen Weltordnung.