Inschriftenkatalog: Stadt Göttingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 19: Stadt Göttingen (1980)

Nr. 87 Göttingen, St. Marienkirche 1524

Beschreibung

Ursprünglich doppelter Flügelaltar mit folgendem Programm: Die Außenseiten der Außenflügel zeigten Bilder aus dem Marienleben (Verkündigung, Flucht nach Ägypten, Tod Marias, Krönung), auf den Innenseiten der Außenflügel und den Außenseiten der Innenflügel war die Passion dargestellt (Einzug in Jerusalem, Abendmahl, Gethsemane, Gefangennahme, Verhör vor Hannas, Verhör vor Kaiphas, Geißelung, Dornenkrönung, Ecce homo, Handwaschung des Pilatus, Kreuztragung, Kreuzigung, Kreuzabnahme, Grablegung, Vorhölle, Auferstehung), die Innenseiten der Innenflügel enthielten 16 Apostel und Heilige (linker Innenflügel: Paulus, Jakobus min., Philippus, Bartholomeus, Hieronymus, Ursula, Judas Thaddäus, Matthias; rechter Innenflügel: Petrus, Andreas, Jakobus mai., Johannes, Matthäus, Simon, Rupert, Elisabeth). Im Mittelschrein stand Maria auf der Mondsichel, zu ihren Seiten je zwei Reliefs mit Szenen aus dem Marienleben (links: Verkündigung, Anbetung; rechts: Geburt Christi, Tempelgang Marias).1)

Der Altar hat eine wechselvolle Geschichte. Bereits 17832) hatte man die Flügel abgebaut und die Gemäldetafeln auf die Rückseiten der Innenflügel genagelt; sie wurden 1836 auf Veranlassung Oesterleys3) dort abgenommen und an den Emporen aufgehängt. Ein weiterer Umbau des Altars erfolgte 1863. – Die heutige Anordnung, bei der nur noch der Schrein mit den Innenseiten der Innenflügel das Retabel bildet, entstand um 1890.4) An den Chorwänden hängen acht Darstellungen aus der Passion (Südwand: Verhör vor Hannas, Verhör vor Kaiphas, Handwaschung des Pilatus, Kreuzigung, Grablegung; Nordwand: Einzug in Jerusalem, Abendmahl, Gefangennahme), drei weitere sind in die Predella eingesetzt (Gethsemane, Kreuztragung, Kreuzabnahme), eine wird im Städtischen Museum aufbewahrt (Ecce homo), zwei befinden sich seit 1826 in der Gemäldegalerie des Bückeburger Schlosses (Vorhölle, Auferstehung).5) Die Marienfigur aus dem Schrein ist jetzt an der nördlichen Chorwand befestigt. – Verloren sind zwei Szenen aus dem Passionszyklus (Geißelung, Dornenkrönung) und die Außenseiten des rechten Außenflügels (Tod und Krönung Marias).

Inschriften: A) auf der oberen inneren Rahmenleiste (verloren), B) unter dem Schrein (verloren), C) Marienfigur, auf dem Buch in der Hand des Kindes (nicht mehr zu erkennen), D) Kreuzigungsszene, Titulus, E) Grablegung, Jahreszahl auf dem Sarkophag, F) Namen auf den Postamenten der Apostel- und Heiligenfiguren in den Innenflügeln (Paulus und Andreas sind nicht namentlich gekennzeichnet). Die Schriften sind punziert und nur schwach sichtbar.6)

Inschrift A) nach ZGB Göttingen, B)/C) nach Dransfeld.

Maße: Maße der Bilder an den Chorwänden (ohne Rahmen): H. 112, B. 67, Bu. D) 2,5, F) 3 cm.

Schriftart(en): A) gotische Minuskel (?)7), B) Renaissance-Kapitalis (?)8), D)/F) Renaissance-Kapitalis.

Stephan Eckardt [1/6]

  1. A†)

    Na. der. ghebort.a) unsers. Herrn.b) Jhesu.c)M. C.C.C.C.[C.] XX [IV]d) is. bereidet.e)düsse. tafele.f) to. der. ere.g) godes. unde.eynem. sunderliken. prise.h) unde. Lowe.i)der. unbefleckeden. jungfrauen. Marien. der.moder. godes. und. allen.j) godes. hilgen.dorch. bertold. Ka[s]trop. unde. henrich.[H]eisen.k) to. der. tid. old. lude.l) Werner.m)von. esebeck. henrick.n) hohof.

  2. B†)

    AVE. SANCTISSIMA. MARIA. MATER. DEI. REGINA. CELI. PORTA. PARADISI.

  3. C†)

    EGO SUM VIA, VERITAS, VITA.9)

  4. D)

    I(ESUS) N(AZARENUS) R(EX) I(UDAEORUM)

  5. E)

    1524Linker Innenflügel, oben:

  6. F)

    · S(ANCTUS) · JACOBVS MIN(OR) · S(ANCTUS) · PHILIPPVS · S(ANCTUS) · BARTOLOMEVSo)unten:S(ANCTUS) · JERONIMVS · S(ANCTA) · VRSVLA · VIR(GO) · S(ANCTUS) · JVDAS TA SAN MATIAS AP(OSTOLUS)p)Rechter Innenflügel, oben:S(ANCTUS) ·q) PETRVS APPOST(OLUS) · S(ANCTUS) · JACOBVS AP[OSTOLUS]r) · S(ANCTUS) · JOHANNES ·s)unten:· S(ANCTUS) · MATEVS · APPO(STOLUS) · S(ANCTUS) · SIMON AP(OSTOLUS) · S(ANCTUS) RVPERTVS + S(ANCTA)t) ELISAB[ETH]u)

Übersetzung:

Sei gegrüßt, heiligste Maria, Mutter Gottes, Königin des Himmels, Pforte des Paradieses. (B)

Ich bin der Weg, die Wahrheit, das Leben. (C)

Kommentar

Inschrift A) enthält in der Wiedergabe der ZGB Göttingen mehrere fehlerhafte Angaben. Die in dieser Quelle mitgeteilte Jahreszahl M. C.C.C.C. XXVI (vgl. Anm. d) ist verschrieben. Unter den älteren Überlieferungen hat Dransfeld MCCCCC XVI (vgl. Anm. d), Heinrich Müller schreibt, ohne den Text der Inschrift mitzuteilen, der Altar, für den ein Bürger aus der Neustadt (Pfarrbezirk der Marienkirche) mehrere hundert Taler gestiftet habe, sei 1523 aufgestellt worden.11) Da jedoch das Jahr 1524 inschriftlich überliefert ist (E), kann über den Zeitpunkt der Fertigstellung kein Zweifel bestehen.12) Es sei denn, man geht von der wenig wahrscheinlichen Überlegung aus, daß 1524 lediglich die Tafelmalereien beendet waren und das Gesamtwerk erst später abgeschlossen wurde. Dafür könnte das Jahr 1526 in Frage kommen, wenn vorausgesetzt wird, daß in ZGB Göttingen nur die Jahrhundertziffer falsch tradiert worden ist.13) – Der Chorneubau der Marienkirche ist 1512 geweiht worden.14) Vermutlich für diesen Neubau wurde der Altar in Auftrag gegeben.

Die Namen der beiden Künstler Berthold Kastrop und Heinrich Heise sind in der ZGB Göttingen verlesen (vgl. Anm. l). Der Name Kastrop ist durch die Inschriften auf dem Altar aus der Geismarer Martinskirche (jetzt Städtisches Museum, Nr. 57) und demjenigen der Kirche in Hetjershausen (LK Göttingen) sicher beglaubigt.15) Außer diesen Werken schuf Kastrop nach 1513 einen Altar für die Marienkirche in Osterode.16) Um 1532 soll er gestorben sein.17)

Auch Heinrich Heise – Dransfeld gibt seinen Namen korrekt wieder18) – ist urkundlich bezeugt. Er war mit Kastrop verschwägert und soll auch an dem Altar in Osterode und einem Altar in Diemarden (LK Göttingen) mitgewirkt haben.19)

Die in Inschrift A) genannten Kirchenvorsteher stammten aus Göttinger Ratsfamilien.20) Werner v. Esebeck bekleidete zwischen 1517 und 1530 häufig das Amt des Gildemeisters der Wollenwerber und war außerdem mehrere Jahre einer der Beisitzer im Rat, deren Einfluß durch die ihnen übertragene Aufgabe der Finanzüberwachung deutlich wird.21) Ein Henrick Hohof ist urkundlich nicht nachweisbar. Möglicherweise ist auch dieser Name unkorrekt überliefert, und es handelt sich um den in Göttingen bekannten Goldschmied Henning Hohof22), der mehrere Jahre Vormund der vorhandenen Hospitäler und 1533 Kämmerer war.23) Bei Einführung der Reformation in Göttingen (1529) hat Hohof als einer der Vertreter der Bürgerschaft an den Verhandlungen mit dem Rat teilgenommen.24)

Die kunsthistorische Forschung hat nachgewiesen, daß für die Tafelbilder und Reliefs des Altars einige Werke Dürers als Vorlage gedient haben. So ist der überwiegende Teil der Darstellungen dem Passionszyklus der Kleinen Kupferstichpassion nachgebildet, der ‚Einzug in Jerusalem‘ soll auf die Kleine, das ‚Abendmahl‘ auf die Große Holzschnittpassion zurückgehen. Die Reliefs mit Szenen aus dem Marienleben sind Dürers entsprechenden Holzschnitten nachgebildet.25)

Textkritischer Apparat

  1. gebort Dransfeld.
  2. Heren Dransfeld.
  3. Jhesu] Jesu Christi Dransfeld.
  4. M CCCC XXVI ZGB Göttingen, M CCCCC XVI Dransfeld.
  5. bereidet] verehret Dransfeld.
  6. Taffel Dransfeld.
  7. Ehre Dransfeld.
  8. unde bis prise fehlt Dransfeld.
  9. Lowe] lovve Dransfeld.
  10. und allen] unde allen Dransfeld.
  11. Kastrop. un. Hinrich. Heisen. Dransfeld, Kastrop, Geisen ZGB Göttingen.
  12. old. lude] als. dei. veer. Maenner. Dransfeld.
  13. Werner fehlt Dransfeld.
  14. Henrich Dransfeld.
  15. Die letzten vier Buchstaben unsicher.
  16. AP(OSTOLUS) unsicher.
  17. vielleicht SAN.
  18. Es läßt sich nicht sicher entscheiden, wie weit die Inschrift fortgeführt ist.
  19. Es ist nicht sicher zu erkennen, ob auf den Namen noch APP(OSTOLUS) folgt.
  20. Folgt vielleicht noch A.
  21. Abgeblättert.

Anmerkungen

  1. Gmelin 166–168.
  2. Saathoff, Kirchengeschichte 259, Anm. 86, vermutet, daß der Altar bei einer Kirchenrenovierung 1774 auseinandergenommen worden ist.
  3. Karl Friedrich Wilhelm Oesterley, 1845 vom König von Hannover zum Hofmaler ernannt, war seit 1831 Professor für Kunstgeschichte an der Göttinger Universität.
  4. Gmelin 176, Anm. 6.
  5. Ebd. 164ff.
  6. Auf diese Namen hat mich K. H. Bielefeld (Göttingen) hingewiesen.
  7. ZGB Göttingen I 2, S. 86: „Moenchs-Schrifft“.
  8. ZGB Göttingen I 2, S. 86 schreibt, die Schrift sei „mit lateinischen Buchstaben“ geschrieben.
  9. Joh. 14,6.
  10. Joh. 19,19.
  11. H. Müller, Göttingen 31.
  12. Miede gibt 1525 an (488).
  13. Vgl. dazu auch Gmelin 170.
  14. Urkunden der Stadt Göttingen aus dem 16. Jh., Nr. 76, S. 56.
  15. Auch Dransfeld, Dissertatio (. . .) Divae Virginis (3) hat Kastrop (vgl. Anm. l). Biographische Hinweise auf Kastrop enthält der Kommentar zu Nr. 57.
  16. Gmelin 168.
  17. Ebd.
  18. Dissertatio . . . Divae Virginis (3) (vgl. Anm. l). – Stange, Dt. Malerei der Gotik VI, 136, gibt zu bedenken, ob nicht Hans v. Geismar oder ein Sohn von diesem gemeint sein könnte. Ähnlich urteilt H. Busch, Meister des Nordens 99f., der Hans von Geismar für den Maler und Berthold Kastrop für den Schnitzer der Holzfiguren hält.
  19. Gmelin 107ff.
  20. A. Ritter, Ratsverfassung 9. Dies., Ratsherren 49f.
  21. Gildemeister: 1517–1521; 1523/24; 1529/39, vgl. Urkunden der Stadt Göttingen aus dem 16. Jh., S. 404, Anm. 2. – Ratsbeisitzer: 1524/25; 1527/28, vgl. ebd. S. 404f.
  22. Sein Beruf bei Lubecus, BL-Chronik II, S. 632 angegeben.
  23. Urkunden der Stadt Göttingen aus dem 16. Jh., S. 406 und Anm. 8.
  24. Lubecus, BL-Chronik II, S. 632; 635; 637.
  25. H. v. Einem, Ein Göttinger Altar nach Dürerschen Vorlagen 89. Gmelin 166. – Bereits 1837 stellte C. H. Miede fest, daß die Bilder des Altars von einem „Schüler“ Dürers gemalt seien (Miede 488). – Zum Vergleich der betreffenden Werke Dürers s. F. W. H. Hollstein, German engravings, etchings and woodcuts, vol. 7, S. 8–15; 106; 117; 153ff. – Es erscheint zweifelhaft, ob das Altarbild ‚Einzug in Jerusalem‘ auf die entsprechende Darstellung in Dürers Kleiner Holzschnittpassion zurückzuführen ist; der Maler würde in diesem Fall doch erheblich von der Vorlage abweichen.

Nachweise

  1. Der überwiegende Teil der nachfolgenden Publikationen zitiert nur Inschrift A) oder verweist auf sie.
  2. ZGB Göttingen I 2, S. 86.
  3. Dransfeld, Dissertatio (. . .) Divae Virginis (3).
  4. H. Müller, Göttingen 31.
  5. Spangenberg, Geschichte und Beschreibung 112 (Jahreszahl 1524 in einer Marginalie) – 114.
  6. Miede, Finanzgeschichte der St. Marienkirche zu Göttingen 488.
  7. Kdm. II 77.
  8. J. H. Müller, Altdeutsche Schnitzwerke 93.
  9. Münzenberger/Beissel, Mal. Altäre II, 187.
  10. Saathoff, Kirchengeschichte 37f.
  11. Busch, Meister Wolter und sein Kreis 266 (nur E).
  12. H. v. Einem, Ein Göttinger Altar nach Dürerschen Vorlagen 86; 88f. (Abb.).
  13. Buhmann, Berthold Kastrop 18.
  14. Busch, Meister des Nordens 99.
  15. Stuttmann/v. d. Osten, Niedersächsische Bildschnitzereien des späten Mittelalters 103.
  16. Dehio, Hb. der deutschen Kunstdenkmäler I, 181.
  17. Göttingens alte Kirchen, Abb. (21)–(23).
  18. (L. v. Weiher), Alte Göttinger Altäre und ihre Meister 13 (Abb.).
  19. Stange, Deutsche Malerei der Gotik VI, 136.
  20. Fahlbusch, Göttingen im Wandel der Zeiten 69.
  21. H. G. Gmelin, Zum Werk des Göttinger Malers Heinrich Heisen 161–163 (Abb. 119–121); 165 (Abb. 123); 167–169; 171 (Abb. 124–126).
  22. Gmelin, Tafelmalerei Nr. 196, S. 588ff.

Zitierhinweis:
DI 19, Stadt Göttingen, Nr. 87 (Werner Arnold), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di019g001k0008705.