Inschriftenkatalog: Stadt Göttingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 19: Stadt Göttingen (1980)

Nr. 56 Prag, Národní-Galerie 1499

Beschreibung

Doppelter Flügelaltar aus der Kirche des Dominikanerklosters (Paulinerkirche) in Göttingen. Nach der Säkularisierung des Dominikanerkonvents 1531–1533 gelangte der Altar in das Kloster Walkenried.1) Die Umstände und der genaue Zeitpunkt der Überführung sind nicht bekannt. Möglicherweise hat der Rat, wie es auch mit anderem Klostereigentum geschehen ist2), den Altar an Walkenried verkauft. Wegen der Einsturzgefahr der Kirche wurde er dort im Kreuzgang aufgestellt.3) Als die Zisterzienser das Kloster während des Dreißigjährigen Krieges 1631 verlassen mußten, nahmen sie das bereits als berühmt geltende Werk4) mit.5) Auf welchem Weg der Altar Prag erreichte, läßt sich nicht mehr aufdecken. Jedenfalls wurde er schon zu Leuckfelds Lebzeiten dort gezeigt.6) Später, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, soll er sich in Krakau befunden haben. Spangenberg teilt diese Nachricht aufgrund von Zeitungsnotizen mit.7) Im Laufe der Zeit scheint das Werk verschollen zu sein. Erst 1905 entdeckte man es in Kósatky (Nordböhmen) wieder, 1946 kam der Altar nach Prag zurück.8) Damals war neben dem Mittelbild (Kreuzigung) und 12 Tafeln mit Szenen aus dem Leben Jesu noch eine Tafel mit der Darstellung des Marientods erhalten; sie ist heute verloren.9) Ebenfalls verloren sind die Außenflügel und die äußeren Tafeln der Innenflügel. Karin Hahn-Jänecke identifizierte 1960 die erhaltenen Tafeln, bei denen es sich um die Innenmalereien der inneren Flügel handelt, als den Göttinger Altar.10) Die Inschriften des Mittelbilds (A) und einer Tafel der Außenflügel (G) sind verloren. Die übrigen Inschriften werden nach Photographien mitgeteilt.11)

Die Maße lassen sich anhand der erhaltenen Tafeln ermitteln:

Inschriften A und G nach Eckstorm. Inschriften B–F nach Hahn-Jänecke.

Maße: B. (bei geöffneten Flügeln) 720, H. 290 cm.12)

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (B–F).

  1. A)

    Auf dem oberen Rahmen des Mittelbildes:Praeclarissimum hoc opus perfectum estProcurante Iohanne Piper Priore officiosissimo, lectore insuper promptissimoa), etHansone Raphonb) quasi Appelle13) alteropingente, Anno Domini M. CCCC. XCIX.Auf dem unteren Rahmen:Eripit è tristi baratro nos Passio CHRISTI:Ex ipso munda cum sanguine profluit vnda

  2. B)

    Mittelbild, Titulus über dem Kreuz:I(ESUS) · N(AZARENUS) · R(EX) · I(UDAEORUM)14)

  3. C)

    Abendmahl, Aufschrift einer Vase:HANS R(APHON)

  4. C*)

    Geißelung, Buchstaben auf dem Gewand eines der Soldaten:V D I K A

  5. D)

    Beweinung, Titulus über dem Kreuz:I(ESUS) N(AZARENUS) R(EX) I(UDAEORUM)14)

  6. E)

    Grablegung, Aufschrift des Sarkophags:IH(ESU)S N(AZARENUS) RE(X) I(UDAEORUM)14)

  7. F)

    Auferstehung, Aufschrift des Sarkophags:[      ] · N · P · [H]c)

  8. G)

    Darstellung des hl. Bernhard, Buchinschrift:Timete DEUM, et date illi honorem, quiavenit hora iudicij15)

Übersetzung:

Dieses herrliche Werk ist vollendet worden durch die Fürsorge Johannes Pipers, eines überaus diensteifrigen Priors (und) außerdem sehr tüchtigen Lektors, und durch Hans Raphon, der wie ein zweiter Apelles malt. Im Jahre des Herrn 1499. Das Leiden Christi entreißt uns der schrecklichen Hölle: Aus ihm selbst fließt mit Blut das reine Wasser hervor.d) (A)

Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre, denn es kommt die Stunde des Gerichts. (G)

Versmaß: Inschrift A) (unterer Rahmen) zwei leoninische Hexameter.

Kommentar

Eckstorm hat die Bilderfolge des Altars genau beschrieben. Die geschlossenen Außenflügel zeigten zwölf Apostel und Heilige (Mönch mit Ölzweig – hl. Benedikt – Paulus – Petrus – unbekannter Bischof – Heilige mit zwei Türmen in den Händen [Barbara?] – Katharina von Siena – Petrus Martyr – ‚miles cataphractus‘, ohne nähere Angabe der Attribute – Ursula – Dominikus – Bernhard ‚ut videtur‘), die Innenseiten der Außenflügel acht Szenen aus dem Marienleben (Darstellung Marias im Tempel – Vermählung – Verkündigung – Besuch bei Elisabeth – Hochzeit zu Kanaa – Tod Marias – Himmelfahrt – Krönung), die geschlossenen Innenflügel ebenfalls acht Szenen aus der Kindheit Jesu (Geburt – Beschneidung – Darstellung im Tempel – Anbetung – Flucht – Kindermord – der zwölfjährige Jesus im Tempel – Taufe im Jordan). Die erhaltenen dreizehn Tafelmalereien der inneren Flügel und des Mittelbilds stellen die Leidensgeschichte dar (Abendmahl – Gefangennahme – Geißelung – Dornenkrönung – Christus vor Pilatus – Kreuztragung – Kreuzabnahme – Grablegung – Vorhölle – Auferstehung – Himmelfahrt – Aussendung des hl. Geistes; Mittelbild: Kreuzigung).16)

Der Altar ist das früheste gesicherte Werk Hans Raphons.17) Der Ruhm, von dem die Inschrift der oberen Rahmenleiste (A) spricht, bezieht sich vielleicht doch auch auf frühere Arbeiten Raphons, die nicht überliefert sind; dann allerdings müßte sein Geburtsjahr früher als „um 1480“ liegen, wie die neuere Forschung – mit guten Argumenten – nachzuweisen versucht hat.18) Die Vermutung liegt nahe, daß dieser den Einfluß des Humanismus verratende Text19) nicht vom Maler selbst, sondern eher von dem so lobend erwähnten Prior Johannes Piper verfaßt worden ist. Die weiteren Werke Raphons enthalten keine derart panegyrischen Inschriften.20)

Über Johannes Piper liegen nur spärliche Nachrichten vor. Er nennt sich als Stifter auf dem Kelch von 1512 in der Jakobikirche (Nr. 83) und soll ein gelehrter Mann gewesen sein; sein Grab befand sich in der Paulinerkirche.21)

Die Bedeutung der Buchstaben in F) hat sich nicht ermitteln lassen (unkorrekt restaurierter Titulus: [I] N [R] [I] ?).

Textkritischer Apparat

  1. promtissimo Fiorillo.
  2. Raphan Harland, Paphon Leuckfeld.
  3. H unsicher, vor N weitere Buchstaben angedeutet.
  4. Nach Joh. 19,34: ‚sed unus militum lancea latus eius aperuit et continuo exiuit sanguis et aqua.‘

Anmerkungen

  1. Eckstorm 187.
  2. Urkunden der Stadt Göttingen aus dem 16. Jahrhundert, S. 394, Anm. 1.
  3. Steinacker, Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Blankenburg 339.
  4. Eckstorm 185: ‚Inter ornamenta maioris templi non postremum fuit Tabula arae sublimiori imposita tam artificio, quam sumpta spectatißima (. . .)‘.
  5. Leuckfeld II, S. 129.
  6. Leuckfeld I, S. 499. J. G. Leuckfeld (1668–1726) war Historiker und Theologe.
  7. Spangenberg, Hans Raphon, in: Vaterländisches Archiv 2 (1820) 312.
  8. Hahn, Das Werk des niedersächsischen Malers Hans Raphon 43.
  9. Ebd.
  10. Ebd. 42.
  11. Hahn-Jänecke, Ein wiederentdeckter Altar des Hans Raphon 117, Abb. 76; 121, Abb. 78; 126, Abb. 84/85; 127, Abb. 87. Gmelin, Tafelmalerei Nr. 183, S. 542ff.
  12. Ebd. 120.
  13. Apelles gilt als der berühmteste Maler der Antike. Vgl. zu seiner Biographie G. Wustmann, Apelles’ Leben und Werke, Leipzig 1870. RE 1, 2689–2692 (O. Rossbach). Thieme/Becker II, 23–26 (J. Sauer). RDK I, 747f. (L. Freund). – Zur Kenntnis des Apelles im 15. und 16. Jahrhundert vgl. R. Förster, Die Verläumdung des Apelles in der Renaissance, in: Jb. d. kgl. preuß. Kunstsammlungen 8 (1887) 29–56, 89–113.
  14. Joh. 19,19. Bei E) sind zwischen N und R weitere Buchstaben angedeutet; dieser Teil des Sarkophags ist jedoch durch die Gestalt der Maria Magdalena verdeckt.
  15. Apok. 14,7.
  16. Eckstorm 185–186.
  17. Vgl. zur Biographie Raphons: C. L. Grotefend, Zur Geschichte des S. Alexander-Stifts in Einbeck, in: Zs. d. hist. Ver. f. Niedersachsen (1851) 325–360. H. Kelterborn, Zur Frage der Herkunft des Hans Raphon, in: Göttinger Jb. (1965) 71–75. Ders., Hans Raphon, ein Göttinger Bürgersohn, in: Göttinger Jb. (1966) 127–130.
  18. Zum Geburtsjahr und zur Lebenszeit Raphons vgl. H. Kelterborn, Hans Raphon, ein Göttinger Bürgersohn 128, 130. – Eckstorm berichtet (S. 187), daß Raphon viele hervorragende Werke geschaffen haben soll: ‚Caeterùm Iohannes Raphon pictor hic solertißimus, in Ducatu Brunsuicensi Transsyluana multa id genus opera praeclara reliquisse dicitur.‘
  19. Mit Apelles verglichen seine Zeitgenossen Albrecht Dürer, so Eobanus Hesse in seinem Epicedion auf Dürer, vgl. H. Steiger, Eobanus Hesse und Albrecht Dürer, in: Bayer. Bll. für das Gymnasial-Schulwesen 66 (1930) 72–81, hier 73. Weitere Nachweise: H. Rupprich, Das literarische Bild Dürers im Schrifttum des 16. Jh.s, in: Festschrift für Dietrich Kralik, Horn 1954, 218–239, hier 224f., 229f., 232. H. Rupprich (Hrsg.), Dürer, Schriftlicher Nachlaß I, Berlin 1956, 313, Nr. 22e; 315, Nr. 22h.
  20. Durch Inschriften gesicherte Werke Raphons sind der Altar aus der ehem. Göttinger Georgskapelle (Nr. 80) und der Altar im Halberstädter Dom, vgl. Hahn, Das Werk des nds. Malers Hans Raphon 54.
  21. ZGB Göttingen II 3, S. 166. Das hier genannte Todesjahr ‚1506‘ ist falsch.

Nachweise

  1. Die Inschriften B–F sind durch die Photographien zu K. Hahn-Jäneckes Aufsatz ‚Ein wiederentdeckter Altar des Hans Raphon in der Národní-Galerie zu Prag‘ überliefert. Eckstorm ist der Gewährsmann für G. Die übrigen Veröffentlichungen beschränken sich darauf, Inschrift A mitzuteilen.
  2. H. Eckstorm, Chronicon Walkenredense 186f.
  3. K. Hahn-Jänecke, Ein wiederentdeckter Altar des Hans Raphon in der Národní-Galerie zu Prag 115; 117, Abb. 76; 121, Abb. 78; 126, Abb. 84/85; 127, Abb. 87.
  4. J. G. Leuckfeld, Antiquitates Walckenredenses, T. I/II Leipzig/Nordhausen 1705, I, 499.
  5. Fiorillo, Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland II, S. 37.
  6. Niemann, in: Zeitung für die elegante Welt Nr. 180/181.
  7. Spangenberg, Nachtrag zu Nr. XVIII des 2ten Bandes: ‚Hans Raphon‘, in: Vaterländisches Archiv 3 (1820) 44.
  8. Grotefend, Zur Geschichte des S. Alexander-Stifts in Einbeck 351.
  9. Harland, Gesch. von Einbeck I, S. 305.
  10. Engelhard, Beiträge zur Kunstgeschichte Niedersachsens 20.
  11. Müller-Grote, Die Malereien des Huldigungssaales im Rathause zu Goslar 58.
  12. Engelhard, Hans Raphon 185ff.
  13. Lemcke, Gesch. des freien Reichsstifts und der Klosterschule Walkenried 36.
  14. Reimers, Hans Raphon 41, 46.
  15. Zeppenfeldt, Hans Raphon 244.
  16. Steinacker, Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Blankenburg 339.
  17. Stuttmann, Hans Raphon 6, Anm. 7.
  18. Wollens, Alte Altarbilder Göttingens 30.
  19. Stange, Deutsche Malerei der Gotik VI, 130.
  20. Hahn, Das Werk des niedersächsischen Malers Hans Raphon 41.
  21. Stange, Kritisches Verzeichnis I, Nr. 801, S. 241.
  22. Gmelin, Tafelmalerei Nr. 183, S. 542ff.

Zitierhinweis:
DI 19, Stadt Göttingen, Nr. 56 (Werner Arnold), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di019g001k0005606.