Inschriftenkatalog: Stadt Göttingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 19: Stadt Göttingen (1980)

Nr. 2 Göttingen, Städtisches Museum 1260

Beschreibung

Steinkreuz im Vorgarten des Museums. Grauer Sandstein. Das Kreuz stand früher im „Papenbusch“ bei Varmissen (LK Göttingen). Es wurde 1905 an seinen jetzigen Standort versetzt.1) Beidseitig beschriftet: A) Inschrift dreizeilig auf dem Kreuzarm, B) zweizeilig vertikal auf dem Kreuz, der letzte Teil aus Platzmangel über die Zeile geschrieben. Vermutlich war das Kreuz ursprünglich tiefer eingegraben als heute.

Die Schrift ist durch Verwitterung und Absplitterung beschädigt, die zweite Hälfte von B) kaum mehr zu entziffern. Bruchstelle auf Seite B; an verschiedenen Stellen stark vermoost.

Maße: H. 137,5, B.: 97, Bu. 4,5–6 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

Heino Kuhlmann [1/1]

  1. A)

    [AN(N)]O · D(OMI)NI · M° · [CC] · LX · I(N) · CRASTINO · B(EA)TI · MA[R]C[I] · E[W(A)N(GELISTAE)a)]

  2. B)

    L[A]GAHISc) WILLEHELMb) · E[. . .] WY

Übersetzung:

Im Jahre des Herrn 1[2]60, am Tag nach dem (Fest) des heiligen Evangelisten Markus. (A)

Datum: 26. April

Kommentar

Älteste datierte gotische Majuskelinschrift aus dem Göttinger Raum. Die Datierung nach Mithoff (Kdm. II), der die Inschrift offenbar noch in besserem Zustand gesehen hat.2) Die Lücke bei der Jahrhundertzahl läßt nur Raum für CC.

Pseudounziales A (Mittelbalken schräg, Dachbalken gerade), C, D, E, M, N, T als Unzialen, E geschlossen, M offen. Balken und Rundungen laufen in Sporen aus. Für die Anfertigung der Schrift wurden Hilfslinien gezogen, die bei B) zugleich als Umrahmung dienen. Der Schriftduktus bei B) ist unausgewogen.

Der in B) genannte WILLEHELM wird durch die auf den Kreuzarmen beigefügten Werkzeuge (links Amboß, rechts Hammer und Zange) als Schmied ausgewiesen. Der zweite Teil dieser Inschrift ist von der Forschung sehr unterschiedlich gelesen worden (vgl. Anm. c). Mithoff (Kdm. II) vermutete EY[N] WY[NKN]ECH[T]3), Crome konjizierte Wylaendis und interpretierte den genannten WILLEHELM als Sproß „aus dem Geschlecht der Wylende“4) (Anknüpfung an die Wieland-Sage). Schreiber dagegen ergänzte Willehelm(us) ev(asit) [oder: ev(olavit)] wülphennis, wobei wülphennis die latinisierte Dativform des mhd. Plurals „die wülwen“ oder „wülphen“ sein soll. Daran knüpfte er eine spekulative Geschichte von einem Göttinger Vogt Willekin, der bei einem Geldtransport nach Köln von Wegelagerern (= „Wölfen“) überfallen worden sei.5) Diese Erklärung entbehrt jeder Grundlage.6) Jünemann schließlich las: WILLEHELMUS EVERSUS (oder: EVISCERATUS) WVLPHENNIS („Wilhelm ist von Wölfen zugrundegerichtet worden“).7)

Der noch deutlich sichtbare Buchstabenbestand läßt die zitierten Konjekturen nicht zu. Eine deutsche Inschrift um die Mitte des 13. Jahrhunderts (Crome) ist für den Göttinger Raum sehr zweifelhaft.8) Abbreviaturen EV. = EVERSUS u.ä. (Jünemann, Schreiber) sind zumindest bedenklich9), die Ergänzung der letzten 9 (?) Buchstaben W–S (?) zu einer latinisierten Form WVLPHENNIS aus nd. ‚wulf‘ oder ‚wolp‘ erscheint ausgeschlossen.

Eine sinnvolle Lesung ist bei dem Zustand des Steins nicht mehr möglich. Vielleicht ist WYL[A?]GAHIS als Name (fem.)10) zu verstehen, davor E[T] zu lesen. – Die beiden Inschriften gehören aufgrund ihres Schriftbildes der gleichen Zeit an. Das besagt aber nicht, daß sie gleichzeitig angebracht und sich auf ein Ereignis beziehen müssen.11) In den meisten Steinkreuzinschriften wird der Anlaß der Errichtung (häufig Totschlag) genannt. Doch auch hier sind Ausnahmen, zu ihnen zählt das Göttinger Kreuz, keine Seltenheit.12)

Textkritischer Apparat

  1. Ergänzung nach Kdm. II. Möglicherweise E[WĀ] zu lesen.
  2. Kdm. II setzt ein + vor WILLEHELM.
  3. Die Lesung der Buchstaben AG unsicher; statt G vielleicht E. – Kdm. II: EȲ.WȲ[. . .] ECH[. . .]; Crome: E · WYL · E · DIS ·; Schreiber: ev. wülphennis; Dreyhausen: EX WY; Jünemann: EV. WVL ENNIS.

Anmerkungen

  1. Jünemann 55.
  2. B. Crome, damals Direktor des Städtischen Museums, schrieb 1906, das Kreuz sei erst in jüngster Zeit zerschlagen worden (Crome 6, A. 2).
  3. „wînkneht“ seit Mitte des 13. Jh.s in Thüringen einmal belegt, im 14. Jh. häufiger, vgl. Lexer III 908; DWB, 14, I, I, Sp. 951.
  4. Crome 9 ff.
  5. Schreiber 35 ff.
  6. Vgl. auch Jünemann 58 ff.
  7. Jünemann 61.
  8. Einige frühe deutschsprachige Inschriften sind zusammengestellt bei F. Panzer, Inschriftenkunde 277ff. Die Inschriften der Wildenburg stammen vermutlich aus dem frühen 13. Jh., ihre Datierung ist umstritten, vgl. DI VIII, Nr. 2–4a). – Die vermutlich früheste deutschsprachige Inschrift in der Umgebung Göttingens steht auf einem Wappenstein (1314?), der über dem Eingang der Kirche in Eddigehausen eingemauert ist (vgl. Einleitung, Kap. 3 Exkurs). Die älteste deutsche Inschrift in der Stadt Göttingen ist 1342 datiert, vgl. Nr. 5.
  9. Ein Kürzungszeichen für –us ist auf dem Stein nicht zu erkennen.
  10. Zu Namen mit ‚Wil-‘ vgl. E. Förstemann, Altdt. Namenbuch I, Personennamen, 1592ff., ‚Wylagahis‘ ist dort nicht belegt.
  11. Brockpähler, Steinkreuze in Westfalen III: weist darauf hin, daß Steinkreuze ein zweites Mal verwendet und mit neuer Inschrift versehen wurden; ebenso Losch, Steinkreuze in Südwestdeutschland 53, Anm. 158.
  12. Losch 54–56.

Nachweise

  1. Kdm. II 197.
  2. B. Crome, Das Markuskreuz vom Göttinger Leinebusch 6f. (Abb. vor dem Titelblatt).
  3. A. Naegele, Fragen und Ergebnisse der Kreuzsteinforschung 262 (Datierung erwähnt).
  4. H. Kalliefe, Das Rätsel der Steinkreuze 168 (Datierung erwähnt, die Echtheit bezweifelt).
  5. W. Evers, Kreuzsteine in und um Hildesheim 28 (Datierung erwähnt).
  6. A. Hoffmann, Die mal. Steinkreuze, Kreuz- und Denksteine in Niedersachsen 34, Zeichnung T. XV, Nr. 114.
  7. A. Schreiber, Das Markuskreuz vom Göttinger Leinebusch 32ff.
  8. W. v. Dreyhausen, Die alten Steinkreuze in Böhmen und im Sudetengau 45.
  9. W. Rabe, 75 Jahre Städtisches Museum Göttingen, Nr. 4 (Abb.).
  10. B. Losch, Steinkreuze in Südwestdeutschland 54, Anm. 160 (Datierung erwähnt).
  11. J. Jünemann, Das Markuskreuz aus dem Papenbusch 61 (Abb.).
  12. Geliebtes Land an Fulda und Werra, hrsg. vom (ehem.) LK Münden, Hann.-Münden 1972, 155 (Abb.).
  13. Fahlbusch, Göttingen im Wandel der Zeiten 86 (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 19, Stadt Göttingen, Nr. 2 (Werner Arnold), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di019g001k0000209.