Inschriftenkatalog: Gandersheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DIO 2: Kanonissenstift Gandersheim (2011)

Nr. 62 Bad Gandersheim, Stiftskirche 1686

Für eine aktualisierte Fassung dieser Katalognummer, siehe DI96 G1 Nr. 62.

Beschreibung

Epitaph für die Äbtissinnen Christine und Marie Elisabeth,1) Prinzessinnen zu Mecklenburg-Schwerin. Holz, geschnitzt und farbig gefaßt, 1894/95 restauriert.2) Das Epitaph ist innen an der Nordwand der Marienkapelle angebracht. Es besteht aus einem die Gruft mit dem Sarg überdeckenden Kasten mit einer aufgesetzten, giebellosen Ädikula. Anstelle des fehlenden Giebels über der Ädikula zwei schwebende Engel mit einem Schriftband. Die Engel sind von einem großen Baldachin hinter- und überfangen, der von zwei seitlichen Wänden getragen wird.

Auf der westlichen Schmalseite des Kastens über einer neueren Tür die Jahreszahl A in zwei Zeilen links und rechts neben einer von Blattwerk gerahmten Kartusche mit der Inschrift B. Die Langseite des Kastens ist oben und unten durch zwei Bänder mit vegetabiler Ornamentik verziert. Dazwischen in rechteckiger, senkrecht mit Weinranken verzierter Rahmung vier runde blattwerkgerahmte Kartuschen mit den Inschriften C–F. An der östlichen Schmalseite ein gleichartig gestaltetes Feld mit Inschrift G, rechts daneben über einem vergitterten Fenster ein Band mit der Inschrift H.

Auf den zwei vorderen Ecken des Kastens sitzt je eine vollplastisch gestaltete Engelsfigur auf einem Hocker, auf ein Stundenglas bzw. einen Totenkopf gestützt. Auf den Kasten ist die giebellose Ädikula aufgesetzt, die von zwei weiteren, größeren Engelsfiguren flankiert wird. Beide Engel halten je ein Vollwappen. An der linken Schmalseite des Baldachins steht nach Westen gewandt ein weiterer großer posauneblasender Engel.

Der Sockel und die Nischenzone der aufgesetzten Ädikula sind vertikal geteilt. Vor dem die Nischenzone gliedernden Pilaster sitzt unten ein Engel mit einem Wappenschild. Zu diesem Wappen gehört wahrscheinlich ein heute separat aufbewahrtes Schriftband mit der Beischrift I. Im oberen Bereich des Pilasters Christus am Kreuz mit Titulus J. Darüber ein Band mit Inschrift K. In der Nischenzone zwei ovale Gemälde mit Hüftbildern der beiden Herzoginnen: Links die Äbtissin Christine von Mecklenburg-Schwerin. Sie steht vor einem zur Seite gezogenen Vorhang, hält eine entblätterte Rose in der Rechten und weist auf einen Tisch, auf dem ein Kruzifix mit Totenkopf am Fuß steht. Im Gemälde auf der rechten Seite ist entsprechend Marie Elisabeth von Mecklenburg-Schwerin dargestellt. Sie steht an einem Tisch mit einer Kerze und einem Buch darauf, lehnt ihren rechten Arm auf das Buch und weist mit der Linken zur Erde. In der Sockelzone der Ädikula auf jeder Seite eine ovale Kartusche mit den Inschriften L und M. Über den beiden Gemälden sind vollplastisch gebildete Engelsfiguren montiert, die Kronen über die Köpfe der Dargestellten halten. Auf dem Gesims oberhalb der Tafel steht links und rechts je eine Blumenvase, in der Mitte eine Kugel. Darüber zwei schwebende Engel, die ein Band mit der Inschrift N halten. Die Inschriften sind erhaben geschnitzt und erscheinen heute dunkelgrün gefaßt vor hellem Hintergrund.

Maße: H.: ca. 800 cm; B.: ca. 500 cm; Bu.: 7 cm (A), 3–4 cm (B–I, N), 6 cm (J, K), 3–6 cm (L, M).

Schriftart(en): Kapitalis mit Versalien (A–L, N), mit humanistischer Minuskel (L); Fraktur mit Kapitalis (M).

Thomas Labusiak [1/14]

  1. A

    AN//NO / 16//86

  2. B

    IHR STERBLICHE BEDENKT, BEDENKET / NUR GAREBEN, /UNS TODTE, WEIL IHR LEBT IN EUREM / KURTZEN LEBEN!a)/WAS IHR ANIETZO SEYD, DAS WAREN EBEN WIR, /WAS ABER NUN AUCH WIR, DAS WERDET MORGEN IHR

  3. C

    WER EINEN GUTEN KAMPFF / HIE KÄMPFFET WOLL VOLLENDET, /DEN LAUFF, UND GLAUBEN HALT, / DEM, WANN NUNMEHR GEENDET /SEIN ZIEL VON JESU AUCH DIE / CRON IST BEYGELEGT,3) /DIE IN DEM HIMMEL, DORT, SO / MANCHE SEELE TRÄGT

  4. D

    WER HEUTE FRISCH UND ROHT / UND IN GESUNDEN STUNDEN. /WOLL MORGEN UNVERHOFFT, IM / SARKE WIRD GEFUNDEN: /BETRACHTE DIESES WOL. DU SICH/RER SÜNDEN KNECHT. /EH DICH ZUR BÖSEN ZEIT, DER / TODT DANIDERb) LEGT

  5. E

    SO GEHT ES IN DER WELT DER / EINE MIT DEM ANDERN /DES TODES STRASSE MUS OBGLEICH / UNGERNE WANDERN /KEIN BLEIBEN HABEN WIR / AUFF DIESER ARGEN WELT, /WOLL DEM DER ZEITIG SICH / ZU SEINEM JESU HÄLT

  6. F

    WIR FAHREN DURCH DEN TODT. / ZU JESU AUFF IN FRIEDEN. /DA SIND UND BLEIBE(N) WIR IN RUHE / UNGESCHIEDEN, /WER DEMNACH WOLTE SICH SO / FURCHTEN VOR DEN TODT, /WEIL ER ZU JESU FUHRT, AUS / ARBEIT, ANGST UND NOHT

  7. G

    AUFF DIESEM RUND IST NICHTS / ALS LAUTER LAUTER PLAGEN, /DOCH EIN CHRISTLICHES HERTZ / HIERUM NICHT SOLL VERZAGEN. /SEIN JESUS HILFFET IHM GEWISS. / IN ALLEM STRAUSS, /UND ENDLICH, DURCH DEN TODT, / ZUR RUHE SPANNET AUS:

  8. H

    WIE ES NACH DEM TODT ERGEHT. / UNS ALHIE VOR AUGEN STEHT

  9. I

    STIFT GANDERSHEIM

  10. J

    I(ESUS) N(AZARENUS) R(EX) I(UDAEORUM).4)

  11. K

    MOX NOX

  12. L

    WAS STAMM UND STAND BETRIFFT, SO WAR ICH VOM GEBLUTEc) /DER WENDEN KÖNIGE, UND DURCH DES HÖCHSTEN GÜTE, / DES LANDES MEKLENBURG GEBOHRNE HERTZOGIN a(nn)o 1639 / · 8 · AUGUSTd) / ABTISSINN HIE IM STIFFT, VORHERO DECHANTINN./CHRISTINA MIR DER NAHM IST BEŸGELEGET WORDEN, /ALS ICH GENOMMEN AUFF IN GOTTES KINDER ORDEN, /UND ALS MEIN LEBENS ZIEL, VON GOTT GESETZET. KAM, /NACH SEINEM WEISEN RAHT, MICH AUCH DER TODT HIN:/NAM ·

  13. M

    MARIA nan(n)t man mich ELISABET darneben. /Als Gott mich in der Tauff Zu seinen kindern Zehlt. /Aus Hertzoglichem Stamm krigt ich des leibes leben /Da das Hauß Meckelnburg mit Lüneburg vermählt /Gen Gandersheim ins Stifft der Schwester winck mich führte /Wo CANONISSIN erst, drauff DECHANTIN ich hieß. /Immittelst ich daheim viel Wiederstand verspürte: /Gleichwol mich Gott Zu Rühn Regentin werden ließ. /Zuletzt hab ich hier noch ABTISSIN müssen werden: /Bald wurd ich völlig freÿ von irrdischen beschwerde(n)

  14. N

    NEHMT VON DES HERREN HANT / NUN HIN DIE SCHÖNE KRON. /IHR HOCHSELIGSTEN, ZUM /SÜSSEN GNADEN LOHN.

Übersetzung:

Bald kommt die Nacht. (K)

Versmaß: Alexandriner (B–H, L–N), paarweise gereimt (B–G, L); kreuzgereimt M mit abschließendem Paarreim.

Wappen:
Mecklenburg,5)Braunschweig-Lüneburg,6)Stift Gandersheim7)

Kommentar

Die beiden Verstorbenen stammen aus der Ehe zwischen Adolf Friedrich I., Herzog von Mecklenburg-Schwerin, und dessen zweiter Gemahlin Maria Katharina, Tochter des Herzogs Julius Ernst zu Braunschweig-Lüneburg (Linie Dannenberg). Christina amtierte von 1681 bis 1693 als Äbtissin in Gandersheim, nachdem sie am 23. September 1661 eine Kanonissinnenpräbende erhalten hatte und 1665 eingeführt worden war. Sie starb am 30. Juni 1693 und wurde am 3. August desselben Jahres in dieser Grabanlage beigesetzt, die sie – wie Inschrift A belegt – bereits zu Lebzeiten für sich und ihre Schwester hatte errichten lassen. Die jüngere Schwester Maria Elisabeth erhielt am 18. Dezember 1682 eine Kanonissenpräbende, wurde 1685 Dekanin und am 15. Dezember 1712 als Äbtissin eingesetzt. In der Zeit von 1705 bis 1712 stand sie, wie andere Töchter der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin, dem Kloster Rühn (Landkreis Bützow in Mecklenburg) vor. Nach Gandersheim zurückgekehrt starb sie am 27. April 1713 und wurde neben ihrer Schwester begraben.8)

Ein in seiner Gestaltung mit ausladendem Unterbau und überwölbendem Baldachin sehr ähnliches Holzepitaph hatte etwa zur selben Zeit Herzogin Sophie Agnes von Mecklenburg (1625–1694), eine Schwester der beiden Gandersheimer Äbtissinnen und Äbtissin des Klosters Rühn, in der Kirche des dortigen Klosters für sich errichten lassen.9)

Die beiden in Ich-Form und im Versmaß des Alexandriners abgefaßten Inschriften L und M sind geradezu als eine Ansprache der über den Inschriften im Porträt abgebildeten Äbtissinnen aufzufassen. Als Verfasser dieser beiden Grabgedichte nennt Harenberg10) den Gandersheimer Pastor Arnold Gottfried Ballenstedt (1660–1722). Auf ihn dürften auch die sechs ebenfalls in Alexandrinern verfaßten Strophen in den Kartuschen am Unterbau des Epitaphs zurückgehen. Jede dieser Strophen ist einem anderen Aspekt von Tod und Vergänglichkeit gewidmet. Insgesamt erinnert das Gedicht – nicht zuletzt durch die Verwendung des Alexandriners – an die Vergänglichkeitslyrik des Andreas Gryphius (1616–1664). Neben einer in mittelalterlicher Tradition stehenden Mahnrede der Toten an die Lebenden (B), wird die auf vielen evangelischen Grabdenkmälern angebrachte Bibelstelle 2. Tim. 4,7 „Ich habe einen guten Kampf gekämpft“ paraphrasiert (C). Es folgt ein Memento mori (D), verbunden mit einer Mahnung zur Buße, auf daß der Tod den sich sicher wähnenden Menschen nicht im Zustand der Sünde treffe. Die vierte Strophe (E) betont, daß der Mensch sein Ziel nicht in irdischen Dingen, sondern in Christus haben müsse. Nur bei Christus gebe es einen Ruhezustand, in den der Mensch durch den von aller irdischen Mühsal befreienden Tod gelange (F). Kein Mensch müsse daher den Tod fürchten, da er doch in Christus münde. Die tröstende Intention dieser Strophe wird in der letzten (G) noch einmal aufgegriffen mit einem erneuten Verweis auf die Mühsal der irdischen Existenz. Als Gegenbild zum irdischen Dasein beschreibt Ballenstedt nicht ein mit Machtinsignien wie Thron oder Krone ausgestattetes, strahlendes und glanzvolles Paradies, sondern frei von aufwendiger Metaphorik den Zustand der Ruhe in Christus mit einer gleichermaßen mahnenden wie tröstenden Intention.

Textkritischer Apparat

  1. Statt Ausrufungszeichen auch Lesung als Doppelpunkt möglich.
  2. I mit Punkt, abweichend von der sonst in der Inschrift üblichen Schreibweise.
  3. GEBLUTE] Zweites E aus Platzgründen klein unter T gestellt.
  4. a(nn)o 1639 / · 8 · AUGUST] In kleineren Buchstaben zweizeilig innerhalb der normalen Zeilenhöhe ausgeführt.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. 313.
  2. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 159.
  3. Den Versen liegt die Bibelstelle 2. Tim. 4,7f. zugrunde.
  4. Io. 19,19.
  5. Wappen Mecklenburg (sechsfeldrig mit Herzschild). Vgl. Siebmacher/Hefner, Wappenbuch, Bd. 1, 1. Abt., Teil 2, Tafel 108, Abb. 2. In Abweichung zu der Wiedergabe bei Siebmacher zeigt das Feld 3 (Fürstentum Schwerin: geteilter Schild, oben Greif, unten leer) einen Greifen im ungeteilten Schild.
  6. Wappen Braunschweig-Lüneburg (zwölffeldrig). Vgl. Peter Veddeler, Das Braunschweigische Leopardenwappen. In: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77 (1996), S. 23–45, hier S. 44, Abb. 12). Die Felder 8 und 9 sind abweichend zu der Abbildung bei Veddeler wahrscheinlich im Rahmen einer Restaurierung des Epitaphs fehlerhaft ausgeführt worden.
  7. Wappen Stift Gandersheim (gespalten, schwarz und gold).
  8. Biographische Daten zu den beiden Äbtissinnen nach Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 352f. u. 355 (mit Quellennachweisen).
  9. Abbildung des Grabdenkmals für Herzogin Sophie von Mecklenburg, in: Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Grossherzogthums Mecklenburg-Schwerin, Bd. IV, bearb. von Friedrich Schlie, Schwerin 1901, S. 89. Das Kloster Rühn hatte in der frühen Neuzeit die Funktion eines Hausklosters für die Herzöge von Mecklenburg-Schwerin. Jedenfalls bekleideten mehrere Töchter der Familie das Amt der Äbtissin. – Meiner Greifswalder Kollegin Dr. Christine Magin sei herzlich gedankt für die Hilfe bei der Literaturrecherche zum Kloster Rühn und zum Wappen Mecklenburg.
  10. Harenberg, Historia Ecclesiae Gandershemensis, S. 1053: monumentum ..., quod Gothofridus Arnoldus Ballenstedius Compastor versibus teutonicis exornauit. Biographische Daten zu Ballenstedt s. Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 512. Er ist ansonsten wohl lediglich mit einem elfstrophigen Begräbnisgedicht „Es ist genug“ für Herzogin Christine zu Braunschweig-Lüneburg-Bevern als Autor hervorgetreten: Arnold Gottfried Ballenstedt, Der in Gott ruhenden Weyland Durchläuchtigsten Fürstin und Fr. Christine Verwittibter Hertzogin zu Br. Lüneb. Bevern / ... selbsterwählte Leich-Text Worte ... über Es ist genug 1. B. Könige cap. XIX, 4. Wolfenbüttel 1702.

Nachweise

  1. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 159–161.

Zitierhinweis:
DIO 2, Kanonissenstift Gandersheim, Nr. 62 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-dio002g001k0006202.