Inschriftenkatalog: Gandersheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DIO 2: Kanonissenstift Gandersheim (2011)
Nr. 9 Brunshausen, Museum Portal zur Geschichte um 1200–1. V. 13. Jh.
Für eine aktualisierte Fassung dieser Katalognummer, siehe DI96 G1 Nr. 9.
Beschreibung
Glasmalerei. Insgesamt über 3000 Scherben und Splitter,1) die im Rahmen der von Franz Niquet 1961–1963 durchgeführten Grabung bei der Freilegung der gegen 1300 eingestürzten romanischen Apsis der Klosterkirche St. Bonifatius in Brunshausen gefunden wurden.2) Zum Zeitpunkt der Aufnahme (2009) waren einzelne Scherben in der Ausstellung „Portal zur Geschichte“ in Brunshausen museal präsentiert. Der Grabungsbefund legt nahe, daß die drei Chorfenster ursprünglich in der romanischen Apsis (Bau IV) angebracht waren. Inschriften lassen sich, soweit die Scherben für die Autopsie zur Verfügung standen, auf 14 Fragmentgruppen (A–N) nachweisen. Aufgrund der Kleinteiligkeit des Scherbenbestands läßt sich aber weder ein textlicher Zusammenhang noch ein kohärentes Bildprogramm rekonstruieren. Einer der rekonstruierten Scherbenkomplexe läßt den Körper Christi mit dem Rest eines Lendentuchs erkennen, ein weiterer eine stigmatisierte Hand, ein dritter einen Fuß im Panzerstrumpf (liegender Soldat, Wächter?). Weiterhin sind Reste eines Sarkophags erkennbar sowie zwei Frauenköpfe und das Bruchstück einer kahlköpfigen männlichen Gestalt (Paulus?).3) Die Inschriften sind mit schwarzer Farbe aufgetragen, lediglich der erste Teil von (F) ist hell auf dunklem Grund ausgeführt.
Maße: Bu.: ca. 1–3 cm.
Schriftart(en): Gotische Majuskel.
- A
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- B
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- C
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- D
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- K
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- L
A · + · SV
- M
C // [.]N
- N
O · // N // R // LI
Textkritischer Apparat
- Lesung fraglich.
- COB] Die Buchstaben stehen senkrecht untereinander, vielleicht [IA]COB[(VS)].
- Weitere Buchstabenreste vorhanden, aber nicht sicher zu identifizieren.
Anmerkungen
- Eine erste Restaurierung und wissenschaftliche Zuordnung der Scherben erfolgte 1985, dabei wurden einzelne Scherben gereinigt und geklebt, 1994 folgten weitere Untersuchungen. In den Jahren 2006/2007 wurden sie an der Fachhochschule Erfurt von Simone Schmidt erneut umfassend untersucht und restauriert. Zu den Restaurierungsmaßnahmen vgl. den von Frau Dr. Elena Kozina im Rahmen des Corpus Vitrearum Medii Aevii (CVMA), Freiburg, verfaßten Artikel zu den Brunshausener Glasmalereien. Frau Dr. Kozina hat mir ihren Artikel vor dem Druck zur Verfügung gestellt, wofür ihr herzlich zu danken ist.
- Hans Goetting und Franz Niquet: Die Ausgrabungen des Bonifatiusklosters Brunshausen bei Gandersheim. In: Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 1 (1963), S. 194-213; s. a. Kat. Stadt im Wandel, Bd. 1, S. 39 mit Abb. einzelner Scherben (Ralf Busch).
- Elena Kozina (wie Anm. 1) vermutet aufgrund dieser Details, daß Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt Christi dargestellt waren.
- Elena Kozina (wie Anm. 1).
- Die neueste Publikation zur gotischen Majuskel bietet: Franz-Albrecht Bornschlegel, Die gotische Majuskel im deutschen Sprachraum. In: Las Inscripciones Góticas. II. Coloquio Internacional de Epigrafía Medieval. León del 11 al 15 de septiembre 2006, hrsg. von Maria Encarnación Martín López und Vicente Gracía Lobo, Corpus Inscriptionum Hispaniae Mediaevalium, León 2010, S. 203–236. Bornschlegel setzt die Inschriften des Klosterneuburger Altars aus dem Jahr 1181 an den Beginn der gotischen Majuskel (S. 209), Inschriften auf Glasmalerei zählt er zu den frühen, nicht aber den frühesten Trägern dieser Schriftform (S. 211).
- Der Vergleich erfolgte aufgrund der Abbildungen in: Kat. Heinrich der Löwe, Bd. 1, S. 534–539: G 47, G 48 (Hamerslebener Bibel); G 49 und G 50 (Halberstädter Bibel). Die Handschriften befinden sich in der Bibliothek der Stadt- und Domgemeinde Halberstadt, Domschatz Ms. 1 (Hamerslebener Bibelfragmente); Ms. 3 (Halberstädter Bibel).
- Elena Kozina (wie Anm. 1). Zum Brandenburger Evangelistar vgl. Beate Braun-Niehr: Das Brandenburger Evangelistar. Regensburg 2005 (Schriften des Domstifts Brandenburg 2), pass.
- Zeitlich nahestehend wäre die Inschrift auf dem vor 1204 entstandenen Tragaltar des Thidericus aus St. Michaelis. Auf diesem Tragaltar sind die E zwar nicht durch Abschlußstriche geschlossen, aber stark gerundet und durch lange feine Strichsporen an den Balken- und Bogenenden fast geschlossen, vgl. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 59 mit Abb. 42.
Nachweise
- Kat. Stadt im Wandel Bd. 1, S. 39 (nur Abb.).
Zitierhinweis:
DIO 2, Kanonissenstift Gandersheim, Nr. 9 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-dio002g001k0000904.
Kommentar
Die Buchstaben zeichnen sich durch eine sehr sorgfältige Ausführung aus und entsprechen damit der von Elena Kozina aus kunsthistorischer Sicht betonten „sehr hohen künstlerischen wie technischen Qualität des Bestands“.4) Die Schrift ist als eine spezifische, elegante Form der frühen gotischen Majuskel einzuordnen.5) A, D, E und U/V sind in kapitaler und unzialer Grundform vorhanden. Das runde E ist durch einen Abschlußstrich geschlossen, nicht aber C, eine Kombination, die in den frühen Formen der gotischen Majuskel häufig zu beobachten ist. Die mit feinstrichigen Sporen, Abschlußstrichen und kleinen Häkchen versehenen Buchstaben erinnern in ihrer Gestaltung an die Auszeichnungsschriften der Hamerslebener Bibelfragmente (um 1180) und der Halberstädter Bibel (frühes 13. Jahrhundert).6) Die Auszeichnungsschriften in beiden Handschriften weisen ebenfalls abgeschlossene E neben offenen C auf. Auffällige Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem unzialen A der Glasmalerei (A) und dem Incipit des LIBER SAPIENTIE in der Hamerslebener Bibel, auch das gebogene L im Wort EXPLICIVNT mit seiner ausgeprägten Balkenschwellung entspricht in seiner Grundgestalt dem L in Inschrift N. Lediglich das unziale D in Inschrift K mit seinem weit nach unten gezogenen offenen Bogenende hat keine Parallele in den abgebildeten Handschriften.
Die Nähe zu den genannten Auszeichnungsschriften stützt die von Elena Kozina vorgenommene Datierung auf den Anfang des 13. Jahrhunderts, „vielleicht sogar bereits um 1200“. Stilistisch hat sie die Glasfragmente „versuchsweise“ einer Magdeburger Werkstatt zugewiesen, Bindeglied sind die Miniaturen im dort entstandenen Brandenburger Evangelistar.7) Die Ähnlichkeiten beschränken sich allerdings auf die Darstellungen, die Auszeichnungsschriften weisen lediglich die zeittypischen Gemeinsamkeiten in der Gestaltung der Buchstabenformen auf, signifikante Übereinstimmungen, wie sie sich im Vergleich mit den genannten Handschriften Hamerslebener und Halberstädter Provenienz andeuten, lassen sich am Brandenburger Evangelistar nicht beobachten. Auch mit den etwa gleichzeitig entstandenen Inschriften und den Auszeichnungsschriften der Hildesheimer Buchmalerei sind nicht mehr als die zeittypischen Übereinstimmungen der gotischen Majuskel festzustellen.8)