Inschriftenkatalog: Gandersheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DIO 2: Kanonissenstift Gandersheim (2011)
Nr. 1 Wolfenbüttel, Braunschweigisches Landesmuseum, Abt. Archäologie 9.Jh.
Für eine aktualisierte Fassung dieser Katalognummer, siehe DI96 G1 Nr. 1.
Beschreibung
Sieben Putzfragmente.1) Aufgefunden in Brunshausen im Rahmen der von Franz Niquet 1961–1963 durchgeführten Grabung unter der Hauptapsis und der südlichen Nebenapsis der als dreischiffige Basilika ausgeführten romanischen Kirche – dem sog. Bau IV.2) Die Buchstaben sind wahrscheinlich von verschiedenen Händen und wohl auch mit verschiedenen Werkzeugen in den trockenen Putz eingeritzt worden.3) Fragment 1 besteht aus zwei Teilen, die paßgenau wieder zusammengefügt werden konnten, Inschrift A auf dem größeren der beiden Teile. Fragment 2 zeigt ein Kreuz und die Inschrift B nebst weiteren Ritzungen, die sich nicht eindeutig als Buchstaben fassen lassen. Fragment 3 mit der konturiert geritzten Inschrift C. Fragment 4 mit den Inschriften D, E und weiteren Ritzungen: u. a. unterhalb der Inschrift drei konturiert ausgeführte Schäfte, die aufgrund dieser Ausführung wohl eher nicht zu der einstrichigen Inschrift E gehören, sondern vielleicht als Reste römischer Zahlzeichen anzusehen sind (vgl. Anm. d). Fragment 5 mit den Inschriften F, wobei die vierte Zeile keinen Buchstaben erkennen läßt, der mit Sicherheit aus dem lateinischen Alphabet stammt. Fragment 6 weist Ritzungen in Form von einem oder zwei kompletten Buchstaben auf (G),4) Fragment 7 zeigt zwei Zeichen, bei denen es sich nicht sicher um Buchstaben handelt (H).
-
Fragment 1
H.: 4,5 cm; B.: 3,5 cm; Bu.: 1,5 cm. – Kapitalis.
AS Ca)
-
Fragment 2
H.: 4 cm; B.: 4 cm; Bu.: 3,4–3,7 cm. – Minuskel.
B[.]b ckb)
-
Fragment 3
H.: 7,3 cm; B.: 5,4 cm; Bu.: 3,4–3,7 cm. – Kapitalis.
CBc) R
-
Fragment 4
H.: 8,7 cm; B.: 9 cm; Bu.: 0,5–0,7 cm (D), 1,2 cm (E). – Kapitalis (D,E), unziales E (D).
DC E
- E
DEBITA / I I Id)
-
Fragment 5
H.: 10,5 cm; B.: 8,8 cm; Bu.: 0,6–1,5 cm (F1), 0,6 cm (F2), 1,3 cm (F3), 1–2 cm (F4). – Kapitalis.
F1A[.] VNICAe)
- F2
MIYMf)
- F3
IX
- F4
AVAIDIAg)
-
Fragment 6
H.: 3 cm; B.: 4 cm; Bu.: 2,2 cm. – Kapitalis.
GA Xh)
-
Fragment 7
H.: 2,7 cm; B.: 3 cm; Bu.: 0,7 cm. – Minuskel oder Unziale.
Hh [.]
Übersetzung:
Schuld. (E)
Einzig. (F1)
Textkritischer Apparat
- S C] Beide Buchstaben spiegelverkehrt. Düwel erwägt eine Lesung des C als Rest eines O, zieht aber die Lesung als SC vor und verbindet damit die mögliche Deutung S(AN)C(TUS).
- [.]b ck] O/C (?) Düwel; alternative Lesung Düwel: B oder die karolingischen Minuskeln b und d.
- Der Schaft von B ist im oberen Bereich zerstört. Düwel liest am unteren Rand des Fragments noch ein A ohne Mittelbalken, bezieht diese als unsicher gekennzeichnete Lesung in seine folgenden Überlegungen jedoch nicht mit ein.
- Düwel interpretiert die konturiert ausgeführten Schäfte als Zahlzeichen und damit das Graffito als Schuldeneintrag, vgl. Düwel, Gotisches in Brunshausen, S. 131.
- A[.]VNICA] arunica Krause, der die Buchstabenfolge in [LITTER]A RVNICA bzw. [LITTERATVR]A RVNICA ‚runischer Buchstabe‘ bzw. ‚runische Schrift‘ ergänzt; ARUMC(?)A Brunhölzl; weitere Überlegungen dazu in Anmerkung g.
- MIYM] N??/M Düwel.
- AVAIDIA] Alternative Lesung: A[.]VNDIA; uaiþia Krause, AVAI??A Düwel. Krause sieht den vierten Buchstaben als þ-Rune, mit der Deutung: gotisch *waiþja (Nomen agentis im Nominativ singular)‚ Jäger, Waidmann‘. Das Wort ist im Gotischen nicht belegt. Düwel (Gotisches in Brunshausen, S. 137) bezeichnet die von Krause gelesene thorn-Rune als „nicht mit hinreichender Sicherheit“ bestimmbares Zeichen. Wenn aber die Lesung der thorn-Rune obsolet wird, dann ist auch die Interpretation des Buchstabenbefunds in Zeile 1 des Fragments 5 (F1) im Sinne von RVNICA beziehungslos, vgl. Düwel, ebd., S. 141. Im übrigen ließe sich die Reihe der Zeichen auch als Folge von in verschiedene Richtungen weisende Spitzen gänzlich ohne Buchstabenwert auffassen.
- A X] Das in der Appendix zu Düwels Artikel als Fragment 6 behandelte Putzstück zeigt nach Düwels Lesung T in C gestellt, möglicherweise war die Ritzung eines G beabsichtigt (vgl. Düwel, ebd., S. 145). Das bei unserer Aufnahme der Inschrift (Februar 2011) als Fragment 6 vorgelegte Stück läßt diese Lesung nicht zu, sondern zeigt ein A und weitere möglicherweise nicht mit Buchstaben zu identifizierende Ritzungen.
Anmerkungen
- Abbildungen und Zeichnungen bei Düwel, Gotisches in Brunshausen, passim. Die sorgfältige, auch die Spekulationen der älteren Forschung auf sachliche Grundlagen zurückführende Untersuchung Düwels bietet die Basis für die folgenden Ausführungen.
- Vgl. Düwel, Gotisches in Brunshausen, S. 121–123, Abb. 2 (S. 122); Keibel-Maier, Baugeschichte Brunshausen, S. 95 (Zitat).
- Düwel, Gotisches in Brunshausen, S. 125.
- Ebd., S. 144f.
- Goetting, Brunshausen-Gandersheim-Clus, S. 8; Keibel-Maier, Baugeschichte Brunshausen, S. 95.
- Wolfgang Krause bezeichnet die Schrift fälschlich als „Sonderart der karolingischen Unziale“, Krause, Runica-Inschrift, S. 349. Dagegen zu Recht Brunhölzl, Fuldensia, S. 546: die Buchstaben seien „nach dem Leitbild der Kapitalis“ gestaltet.
- Vgl. dazu die in einer sorgfältigen karolingischen Kapitalis ausgeführten gemalten Inschriften auf den Wandputzfragmenten aus der Pfalz in Paderborn: Kat. 799 Kunst und Kultur der Karolingerzeit, Bd. 1, S. 133–136, Kat. Nr. III-17 bis III-19.
- Brunhölzl, Fuldensia, S. 546.
- Vgl. Düwel, Gotisches in Brunshausen, S. 140.
- Vgl. Ebd., S. 137, 141; Krause, Runica-Inschrift, S. 351.
- Vgl. Krause, Runica-Inschrift, S. 349. Goettings Auffassung zufolge war Brunshausen als Missionskloster von Fulda aus gegründet worden (Goetting, Brunshausen-Gandersheim-Clus, S. 23; s. a. die zu Goettings Gründungsthese kritischen Überlegungen von Klaus Naß und Johannes Fried, die Düwel [Gotisches in Brunshausen, S. 120] zusammengestellt hat). Vor dem Fuldaer Hintergrund hatte Krause eine Beziehung zwischen der vermeintlichen Runeninschrift der Putzfragmente und dem Runenalphabet in dem Traktat ‚De inventione linguarum‘ des Hrabanus Maurus hergestellt. Diese Beziehung und die daraus abgeleitete Datierung hat bereits Brunhölzl mit guten Gründen bestritten (Brunhölzl, Fuldensia, S. 546).
- So auch Düwel, Gotisches in Brunshausen, S. 140. – Eine Arbeit zur Auswertung der Altgrabungen in Brunshausen wird von Matthias Zirm M. Sc. (Universität Halle) vorbereitet.
Nachweise
- Klaus Düwel, Gotisches in Brunshausen, S. 127–133 mit Abb. und Zeichnungen.
- Krause, Runica-Inschrift, S. 350 (F1, F4).
- Brunhölzl, Fuldensia, S. 545 (F).
- Kat. Stadt im Wandel, Bd. 1, S. 39 (Abb. ohne Textwiedergabe).
Zitierhinweis:
DIO 2, Kanonissenstift Gandersheim, Nr. 1 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-dio002g001k0000105.
Kommentar
Die Fundschicht legt nahe, daß die Putzfragmente aus der frühen Zeit des Klosters Brunshausen stammen und zu den aus den Grabungen rekonstruierten vorromanischen Kirchenbauten I und II gehören. Für diese ersten Bauten hatte Goetting in einen zeitlichen Entstehungszusammenhang mit der Gründung des Klosters gegen Ende des 8. Jahrhunderts angenommen, während Maria Keibel-Maier aufgrund der Grabungsfunde zumindest den zweiten Bau der Klosterkirche in das 9. Jahrhundert setzt. Zu Bau III können die Putzstücke nicht gehören, da sie sich „im Material und in der Oberflächenbehandlung deutlich von den in der Ausbruchgrube des Baus III geborgenen Putzstücken“ unterscheiden.5)
Die Buchstaben dieser wohl eher als Graffiti einzuschätzenden Inschriften sind überwiegend in einer an der Kapitalis orientierten Schriftform ausgeführt,6) weisen jedoch mit Ausnahme der sorgfältig in Kontur geritzten Inschrift C keine formale Durchbildung im Sinne einer epigraphischen Schriftart auf.7) Die wenigen Buchstaben lassen keine einheitliche Gestaltung erkennen. Ob A tatsächlich konsequent ohne Mittelbalken ausgeführt ist, läßt sich aufgrund von Beeinträchtigungen an der Oberfläche nicht mehr hinreichend genau sehen. Datierungsrelevanz hätte dieses Spezifikum, wie bereits Brunhölzl betont hat,8) ohnehin nicht, da es sich in Inschriften zu allen Zeiten finden läßt. Daher entziehen sich die Ritzungen einer schriftgeschichtlichen Einordnung und bieten folglich auch keinerlei Anhaltspunkte für die Datierung der Kirchenbauten in Brunshausen.9) Aber auch die sprachliche Form der Inschriften gibt keinen Anhaltspunkt für eine zeitliche Einordnung: Da Düwel die von Krause angenommene Deutung der vierten Zeile in Inschrift F als gotisches Wort *waiþja mit Recht angezweifelt hat,10) ist auch der von Krause vermutete Zusammenhang der Inschrift mit dem gotischen Alphabet des Fuldaer Abts Hrabanus Maurus und dem daraus höchst spekulativ abgeleiteten Jahr 822 als terminus a quo für die Entstehung nicht mehr gegeben.11) Die Datierung der Putzfragmente kann also nicht anhand der Inschriften erfolgen, sondern muß sich an der archäologischen Bestimmung der Fundschicht orientieren.12)