Einleitung

7. SCHRIFTFORMEN

Die schriftgeschichtliche Charakterisierung des Gandersheimer Bestands steht vor demselben Problem wie die sprachhistorische Einschätzung. Aufgrund der hohen Verluste ist der Inschriftenbestand kaum mehr für schriftgeschichtliche Fragen auszuwerten, lediglich Einzelbeobachtungen lassen sich festhalten. Zunächst fällt auf, daß die frühen Reliquienbezeichnungen (Nr. 2, 3) in karolingischer Minuskel, also einer Buchschrift, ausgeführt sind, die nicht die für epigraphische Schriftlichkeit typische ornamentale Gestaltungsabsicht erkennen läßt. Die Objekte, auf denen sie angebracht sind – ein Leinentuch und ein schlichter Holzkasten mit Schiebedeckel – waren, trotz ihres von heute aus gesehen herausragenden historischen Zeugniswerts für den Gandersheimer Reliquienschatz, keine repräsentativen Schauobjekte. Sie befanden sich im Inneren von wertvolleren Reliquienbehältnissen und blieben erhalten, weil sie in nachmittelalterlicher Zeit offenbar wegen ihres fehlenden materiellen Werts für den Verkauf nicht in Frage kamen. Die Geschichte beider Objekte legt nahe, daß die Inschriften nicht in Gandersheim entstanden sind, sondern ihre Ausführung von der die Reliquien vergebenden Institution veranlaßt wurde.

7.1. Majuskelschriften

Von der frühen Kapitalis mit ihrer an den antiken Kapitalisschriften orientierten Proportionen hat sich kein Beispiel erhalten. Die im Rahmen einer Grabung in den 1960er Jahren gefundenen graffitiartigen Putzritzungen aus der frühen Zeit des Klosters Brunshausen (Nr. 1) lassen keine Durchbildung im Sinne einer epigraphischen Schriftart erkennen. Eine vermeintliche Rune im Kontext dieser Ritzungen ist mit Recht als solche angezweifelt worden. Anders verhält es sich mit einem weiteren Fund aus dieser Grabung, den in mehr als 3000 Scherben überlieferten Resten der romanischen Apsisverglasung (Nr. 9). Ihre als Übergangsschrift von der romanischen zur gotischen Majuskel bzw. als frühe gotische Majuskel einzuordnenden eleganten Buchstabenformen mit feinen Strichsporen und kleinen Häkchen lassen deutlich die Nähe zu den Auszeichnungsschriften der zeitgenössischen Handschriften erkennen. Sie orientieren sich allerdings nicht – wie man aufgrund der örtlichen Nähe annehmen könnte – an den Erzeugnissen Hildesheimer Skriptorien und Werkstätten, sondern weisen auffällige Gemeinsamkeiten mit Auszeichnungsschriften in den Handschriften des Hamersleben-Halberstädter Kreises auf.

Zwei Inschriften des Bestands sind in frühhumanistischer Kapitalis ausgeführt. Sie sind beide auf Objekten angebracht, die unmittelbar zum Zentrum der liturgischen Feier gehören: eine 1516 datierte Stiftungsinschrift auf einem Kelch (Nr. 27) sowie Titulus und Jahreszahl auf einem Altarretabel von 1521 (Nr. 29).38)

Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde als Großbuchstabenschrift ausschließlich die Kapitalis benutzt. Sie ist, wie in den niedersächsischen Beständen üblich, die dominierende epigraphische Schriftart in der frühen Neuzeit. Dem klassischen Ideal dieser Schriftform am nächsten kommt die in elegische Distichen gefaßte und antikem Formelgut verpflichtete Inschrift auf der um 1600 datierten Supraporte der Gandersheimer Abtei (Nr. 46). Die in den bisher bearbeiteten niedersächsischen Inschriftenbeständen vorherrschende schmale Form der Kapitalis ist in drei erhaben in vertiefter Zeile ausgehauenen Grabinschriften repräsentiert (Nr. 47, 50, 51). Die Übereinstimmungen in den figürlichen Darstellungen deuten darauf hin, daß die drei Platten aus derselben Werkstatt stammen. Die Ausführung der Inschriften ist hingegen nicht so signifikant ähnlich, daß man allein aufgrund der Schriftform auf einen Werkstattzusammenhang schließen würde. Selbst die Ziffern weisen keine gleichartige Gestaltung auf. Kapitalisbuchstaben werden für deutsche wie für lateinische Texte verwendet, allerdings werden am Lateinischen orientierte Amtsbezeichnungen und Namen (Nr. 62, 66) in deutschsprachiger Texten durch Kapitalisbuchstaben von ihrer Frakturumgebung abgesetzt.

7.2. Minuskelschriften

Als Kleinbuchstabenschrift wurde zunächst die gotische Minuskel verwendet, erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts kommen auch die beiden „neuen“ epigraphischen Schriften auf: die humanistische Minuskel und die Fraktur. Das älteste erhaltene Beispiel für die gotische Minuskel ist die Inschrift auf dem großen Standleuchter (Nr. 14) aus der Zeit vor 1433. Sie weist zwar die für gotische Minuskel auf Metall typischen Schmuckelemente auf, wie durch die Hasten gesteckte Balken bzw. Bogenenden sowie Blättchenverzierungen und Schattenkonturen, doch fehlt ihr bei ihrer wenig sorgfältigen Ausführung der für diese Form der „Goldschmiede-Minuskel“ typische ornamentale Charakter. Nur die Stifterinschrift auf der Monstranz in Clus (Nr. 16) von 1452 wirkt in diesem Sinne ornamental. Aus der Zeit nach der Mitte des 16. Jahrhunderts hat sich keine Inschrift in gotischer Minuskel erhalten. Wahrscheinlich war aber die Meisterinschrift des Berent Drehus auf einer Glocke von 1560 in dieser Schriftart ausgeführt (Nr. 34).

Die Fraktur ist zuerst für zwei deutschsprachige gemalte Gedenkinschriften verwendet worden, und zwar auf der nicht datierten Gedenktafel zur Stiftsgründung (Nr. 32) und auf dem Epitaph für die Äbtissinnen von Chlum vom Jahr 1577 (Nr. 36). Beide Inschriften sind in starkem Maße durch Restaurierungsmaßnahmen überformt und demzufolge schriftgeschichtlich nicht mehr auszuwerten. Dasselbe gilt für die gemalten Frakturinschriften des Mecklenburgischen Epitaphs (Nr. 62). In Stein findet sich die Fraktur auf einem späten, im Jahr 1697 entstandenen Grabdenkmal in Clus (Nr. 66). Für lateinische Texte ist die Fraktur im Gandersheimer Bestand nicht verwendet worden. Diese Beobachtung bestätigt sich in den benachbarten Inschriftenbeständen der Städte Hildesheim (48 Belege für Fraktur) und Einbeck (9 Belege für Fraktur).

Die der Antiqua der Buchschrift entsprechende humanistische Minuskel wurde in Gandersheim für zwei Inschriften in archivierenden Funktionskontexten verwendet: zum einen für die Bezeichnung der Schubladeninhalte des Archivschranks von 1682 (Nr. 61) und zum anderen für die nicht datierte, den Inhalt bezeichnende Aufschrift auf einem Bleidöschen (Nr. 68).

Zitationshinweis:

DIO 2, Kanonissenstift Gandersheim, Einleitung, 7. Schriftformen (Christine Wulf), in: inschriften.net,   urn:nbn:de:0238-dio002g001e009.

  1. Zur frühhumanistischen Kapitalis in Niedersachsen und ihrer vornehmlichen Verwendung auf Vasa sacra und Altarretabeln vgl. Christine Wulf, Epigraphische Schriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Niedersachsen. In: Epigraphische Schriften „zwischen“ Mittelalter und Neuzeit. Workshop Wien 2006 (im Druck). »