Einleitung

4. DIE ÜBERLIEFERUNG DER INSCHRIFTEN

Aus der Gandersheimer Stiftskirche und der zugehörigen Klosteranlage sind insgesamt 47 Inschriften überliefert, davon konnten 35 im Original bearbeitet werden, weitere 12 sind nurmehr kopial überliefert. Für Brunshausen ergibt sich ein Verhältnis von vier original erhaltenen zu zwei verlorenen Inschriften; in Clus sind von 16 Inschriften noch sechs erhalten. Angesichts der Bedeutung des Reichsstifts Gandersheim als hochrangige geistliche Institution im frühen und hohen Mittelalter ist dies ein spärlicher und höchst lückenhafter Bestand. Weder gibt es eine auch nur einigermaßen kontinuierliche Reihe von Grabinschriften für die Angehörigen des Stifts, noch lassen sich Stiftung und Aufbau des Kirchenschatzes anhand der Inschriften nachvollziehen.29) Auch die Baugeschichte der Kirchen und Klosteranlagen wird lediglich in Clus für den speziellen Zeitraum der Klosterreform unter Abt Wedego Rese (1460–1505) und für die Gandersheimer Konventsbauten unter Äbtissin Anna Erica (1589–1611) durch die inschriftliche Überlieferung erhellt.

Verantwortlich für diese lückenhafte Inschriftenüberlieferung sind vor allem der Bildersturm von 1543 und die Verkäufe von Stiftsgut im Jahr 1697, die Äbtissin Henriette Christine (1693–1712), Prinzessin zu Braunschweig-Wolfenbüttel, zur Finanzierung von Restaurierungs- und Umbauarbeiten an der Stiftskirche tätigte. Sie haben insbesondere den Stiftsschatz stark beeinträchtigt30) und folglich die Zahl der Inschriften in erheblichem Maße reduziert. Eine anderswo nicht selten anzutreffende, eigens mit dem Ziel der Bewahrung von Inschriften angelegte systematische kopiale Überlieferung, die diese Verluste ausgleichen könnte, fehlt für die Stiftskirche wie auch für die beiden Eigenklöster. Gleichwohl sind einzelne verlorengegangene, bisher unbekannte Inschriften in den frühneuzeitlichen Chroniken und im Kunstdenkmälerinventar von 1910 überliefert.

4.1. Handschriften

Johannes Letzner (1531–1613), 3. Buch der Braunschweigisch-Lüneburgischen und Göttingischen Chronik, darinnen die Klöster selbiger Fürsthentümer beschrieben, item die geistlichen Orden.
Das „3. Buch“ bietet die älteste und wichtigste Überlieferung von zwei heute verlorenen Gandersheimer Inschriften (Nr. 7 und Nr. 10). Zumindest die Grabinschrift für eine der beiden Äbtissinnen Berta (Nr. 10) dürfte von Letzner nach Autopsie wiedergegeben sein.
Benutzte Exemplare:
SUB Göttingen, 2° Cod. Ms. Hist. 248. 1263 Seiten (Ende 17. Jh.). Brunshausen S. 95ff., Clus S. 199ff.; Gandersheim S. 135ff. Soweit nicht anders vermerkt, liegt diese Handschrift der Edition zugrunde.
SUB Göttingen, 4° Cod. Ms. Hist. 249. 1466 Blätter in zwei Bänden, Foliierung alle 10 Blätter. (Anfang 18. Jh.). Bd. 1: Brunshausen fol. 200r ff.; Clus fol. 294r ff.; Gandersheim fol. 449v ff.

Rupius-Chronik = Kurze Geschichtliche Aufzeichnungen über die niedersächsischen Klöster, insbesondere über Kloster Gandersheim.
Exemplar: Hildesheim Dombibliothek, HS 534 (17. Jh.). Die Handschrift besteht aus zwei unabhängig voneinander foliierten Teilen. Der erste Teil enthält 149 gezählte Blätter, darin Aufzeichnungen u.a. zur Geschichte der Klöster Amelungsborn, Bardowick und Bursfelde. Der zweite Teil (162 gezählte Blätter) enthält die Gandersheim betreffenden Texte: fol. 27r–95r Chronik des Michael Rupius (ca. 1548–1606) Catalogus Illustrium Abbatissarum Gandersemensium: fol. 28r–32v Chronikalische Notizen zu Gandersheim, fol. 33v Äbtissinnenkatalog, fol. 34r Vita der ersten Äbtissin Hathumod, ab fol. 96r Nachträge zum Äbtissinnenkatalog: Vita der Äbtissin Dorothea Augusta (1611–1626); fol. 97r/v Zeichnungen und Notizen; fol. 98r–100v Vita der Äbtissin Catharina Elisabeth (1626–1649); fol. 101r–141r Vermischte historische Notizen zu Gandersheim; fol. 142r–152v Verschronik der Hrotswith von Gandersheim: Prohemium Carminis. Ecce mea supplex … Oddo qui coeptum perfecit opus memoratum. Incipit Text: Roswida Gandershemensis Abbatissa de Constructione coenobii Gandershemensis Ordo nunc rerum deposuit debitus horum …; fol. 153r–159v Chronicon Ecclesiae Hamelensis (Johannes de Polde), fol. 161 Historische Notizen.
Quellen: In die für die Inschriftenüberlieferung wichtige Chronik des Michael Rupius sind der Äbtissinnenkatalog des Gandersheimer Kanonikers Bartold Stein (1562–1572) eingegangen (vgl. fol. 33v) und Letzners „3. Buch“. Auf Letzner wird sowohl im laufenden Text verwiesen als auch in den Randbemerkungen, die abweichende Lesarten, insbesondere abweichende Todesdaten verzeichnen.

Brakebusch, Verzeichnis von 1892.
StA Wolfenbüttel, 50 Neu 3 Gand, Nr. 500: Verzeichnis von Altertümern der Stiftskirche S.S. Anastasius (!) et Innocentii zu Gandersheim im Auftrage [des] Herzoglichen Konsistoriums zu Braunschweig durch (gez.) Rektor Dr. F. Brakebusch Gandersheim im Spätherbst 1892.
Das handschriftliche Inventar Brakebuschs bietet die erste systematische Verzeichnung des Denkmäler-Altbestands der Gandersheimer Stiftskirche, in welchem die überlieferten Stücke auch Inventar-Nummern erhalten haben. Brakebusch gibt bei seinen Verzeichnungen auch die Inschriften der Objekte wieder, allerdings nur in zwei Fällen von heute nicht mehr erhaltenen Stücken (Nr. 57, 63).

4.2. Gedruckte Überlieferung

Johann Georg Leuckfeld, Antiquitates Gandersheimenses, Wolfenbüttel 1709.
Der Pastor und Klosterrat Johann Georg Leuckfeld (1668–1726) ordnete im Auftrag der Äbtissin Henriette Christine das Stiftsarchiv und verfasste unter Heranziehung der historischen Dokumente des Stifts in deutscher Sprache unter dem Titel ‚Antiquitates Gandersheimenses‘ eine Historische Beschreibung des Uhralten Kayserl. Freyen Weltlichen Reichs=Stiffts Gandersheim. Sie enthält unter anderem eine Beschreibung der Gandersheimer Stiftskirche und ihrer Ausstattung einschließlich der vorhandenen Reliquien und Ablässe, einen Äbtissinnenkatalog, in den einzelne Inschriften inseriert sind, sowie eine Beschreibung des Klosters Clus. Für seine Darstellung benutzte Leuckfeld – wie er im Vorwort ausführt – unter anderem ein Exemplar des ‚3. Buches der Braunschweigisch-Lüneburgischen Chronik‘ Letzners, die vor 1597 entstandene Chronik des Michael Rupius und auch die 1539 abgeschlossenen historischen Aufzeichnungen des Cluser Mönchs Henricus Bodo in der Auswahledition Meiboms.31) Wiedergegeben sind die Inschriften zumeist mit Angaben zu ihrer Ausführung und – wie die einleitenden Ausführungen Leuckfelds nahelegen – nach Autopsie32), freilich ohne jeden Anspruch auf Textgenauigkeit, wie der Vergleich mit der teilweise erhaltenen Grabinschrift für die Pröpstin Elisabeth von Dorstadt (Nr. 19) zeigt. Leuckfelds Aufzeichnungen bieten insbesondere für die verlorenen Inschriften des Klosters Clus die wichtigste Editionsgrundlage.

Johann Christoph Harenberg, Historia ecclesiae Gandershemensis cathedralis ac collegiatae diplomatica, Hannover 1734.
Der evangelische Theologe und Historiker Johann Christoph Harenberg (1696–1774) hatte seit 1720 das Amt des Rektors der Gandersheimer Stiftsschule inne und widmete sich in diesem Amt auch intensiv der archivalischen Überlieferung der Gandersheimer Geschichtsquellen. Für die Textkonstituierung der Inschriften spielt seine in lateinischer Sprache verfaßte „Historia ecclesiae“ nur eine geringe Rolle, für die Kommentare hingegen liefern seine detailreichen Darstellungen wertvolle Informationen (Nr. 50, 62 u. ö.).

Karl Steinacker, Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Gandersheim, Wolfenbüttel 1910.
Der von dem Kunsthistoriker Karl Steinacker (1872–1944) bearbeitete fünfte Band der Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Braunschweig bietet die umfangreichste und zuverlässigste Grundlage für die Edition der heute nicht mehr erhaltenen Gandersheimer Inschriften. Steinacker gibt von den hier behandelten Inschriften etwas mehr als die Hälfte komplett oder teilweise wieder. Gelegentlich berücksichtigt er auch verlorene Inschriften, die er meist nach Leuckfeld zitiert.33)

Zitationshinweis:

DIO 2, Kanonissenstift Gandersheim, Einleitung, 4. Die Überlieferung der Inschriften (Christine Wulf), in: inschriften.net,   urn:nbn:de:0238-dio002g001e009.

  1. Der Vergleich mit dem Inschriftenbestand des ebenfalls auf eine liudolfingische Gründung zurückgehenden Reichsstifts Essen zeigt sehr deutlich, daß ähnliche historische Strukturen keineswegs eine gleichartige Inschriftenüberlieferung bedingen, vgl. Die Inschriften der Stadt Essen, gesammelt und bearbeitet von Sonja Hermann. Die Deutschen Inschriften 81. Wiesbaden 2011. »
  2. Zur Verlustgeschichte s. Heilmann, Aus Heiltum wird Geschichte, passim. »
  3. Fr. Henrici Bodonis Syntagma De constructione coenobii Gandesiani perfectione quoque et defectione ejusdem in: Rerum Germanicarum Tomi III, ed. Henricus Meibomius Junior, Helmstedt 1688, T. II, S. 477-510. »
  4. Leuckfeld, Antiquitates Gandersheimenses (wie Anm. 5), S. 53: z. B. heißt es in der Einleitung zur Wiedergabe der Stiftungsinschrift in der Roringischen Kapelle: wie eine daselbst in Stein gehauene Schrifft noch bezeuget. »