Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 175† Borbeck, St. Dionysius 1646

Beschreibung

Glocke der Gießer Mamertus und Johannes Fremy. Bronze. Die Haube hatte eine stark abgesetzte Oberplatte. Um die Schulter verliefen die Inschriften und drei unterschiedliche Friese: Oben war über einem Steg ein stehender Fries aus akanthusartigen, dreieckigen Blättern zu sehen, darunter, ebenfalls über einem Steg, ein Renaissancefries mit geflügelten Engelsköpfen. Nach einem leeren Band folgte, oben und unten durch Stege eingefasst, die Glockenrede A und darunter ein Auftraggebervermerk (B). Als Abschluss der Schulterzier diente ein hängender Renaissancefries mit geflügelten Engelsköpfen. Die Flanke war auf der Vorderseite mit einem Relief mit Maria lactans, das von einem Rahmen aus Elementen des unteren Renaissancefrieses umgeben war, verziert. Darunter befanden sich die Meisterinschrift (C) und das Gießerzeichen, außerdem Abdrücke von Blättern und der Abguss eines kleinen Froschs. Die Rückseite wurde von einem vierstufigen Ornamentkreuz aus dem Model des oberen Frieses verziert. Am Wolm befand sich eine mehrteilige Stegkombination, am Schlagring ein Doppelsteg. Die 1915 gesprungene Glocke wurde 1917 für Kriegszwecke beschlagnahmt.1)

Nach Foto im PfA St. Dionysius, Schublade 111 („Glockenweihe“), ergänzt durch Chronik St. Dionysius im PfA St. Dionysius.

Maße: H. 80 cm; Dm. 85 cm.2)

Schriftart(en): Kapitalis.

  1. A

    + TERRA TIBI EXVLTANS VIDIT TVA REGNAa) SALOME BEBBER – ET VT TVBA EGO PANGO REFVSA TIBIb)

  2. B

    + REFVSA EST HAEC CAMPANA CV(M) VICINA SVB MEAc) CHRISTOPH KIRCHMAN PASTORIS BORBECENSIS ET AEDILIVM JOHANNIS VIESELMANN ET EBERHARD SCHMIDTd) ADMINISTRAT(I)O(N)E

  3. C

    RENOVATA // PER MAMERTVM / ET IOANNEM // FORMICAE FRATRES

Übersetzung:

Das Land, das dir zujubelt, Salome, hat deine Herrschaft gesehen. Und ich, die ich für dich (wieder)gegossen wurde, singe wie eine Posaune: Bebber! (A) Diese Glocke ist mit ihrer Nachbarin unter meiner, des Borbecker Pfarrers Christoph Kirchmans, Verwaltung und der der Kirchmeister Johannes Vieselmann und Eberhard Schmidt neu gegossen worden. (B) Erneuert durch die Gebrüder Mamertus und Johannes Formica. (C)

Versmaß: Elegisches Distichon (Chronodistichon), reimlos (A).

Datum: 1646.

Wappen:
Gießerzeichen: Mamertus Fremy.3)

Kommentar

Die Textanfänge der Inschriften A und B sind durch Hochkreuze gekennzeichnet. Die Schriftgestaltung ist deutlich der klassischen Kapitalis verpflichtet: Die Linksschrägenverstärkungen sind konsequent durchgeführt und die Serifen sorgfältig gestaltet, der Mittelteil des M reicht fast bis auf die Grundlinie. Vom klassischen Vorbild abweichend sind allerdings A mit dünnem gebrochenem Balken, E mit kurzem Mittelbalken und S mit verstärktem Mittelteil ausgeführt. Im Chronodistichon der Inschrift A sind die Zahlbuchstaben etwa doppelt so hoch wie die übrigen Buchstaben.

Aus der Inschrift geht hervor, dass die Glocke, zusammen mit einer weiteren, von der sonst nichts bekannt ist, als Umguss älterer Glocken hergestellt wurde. Über die alten Glocken liegen keine Informationen vor. Die mit besonderer Verehrung bedachte Anna Salome von Salm-Reifferscheidt wurde im Jahr des Glockengusses zur Essener Äbtissin gewählt, nachdem sie bereits seit 1638 die Würde der Pröpstin innehatte.4) Wie einige ihrer Vorgängerinnen hielt sich die Äbtissin häufig auf Schloss Borbeck auf. Nach den Zerstörungen, die das Schloss im Dreißigjährigen Krieg erlitten hatte, ließ sie es auf den alten Fundamenten neu errichten; um 1655 verlegte sie schließlich ihre Residenz ganz nach Borbeck.5) Sie starb am 15. Oktober 1688 in Essen, wo ihr Epitaph auf der nördlichen Empore im Dom hängt.

Christoph Kirchman ist als Borbecker Pfarrer auf der Glocke erstmalig nachgewiesen. Er unterzeichnete 1657 ein Einkünfteprotokoll der Pfarrei St. Dionysius.6) Laut Josef Kahn war er bis 1660 im Amt. Über die beiden als Aedile bezeichneten Kirchmeister Eberhard Schmidt (aus Borbeck selbst) und Johannes Vieselmann (aus Dellwig)7) finden sich nur spärliche Hinweise in den Quellen. Beide sind 1657 noch als Kirchmeister bezeugt,8) Johann Vieselmann war außerdem 1656 Hofgeschworener des Borbecker Oberhofes.9)

Kleine Frösche oder andere Amphibien finden sich vereinzelt als Glockenzier.10) Sie wurden vermutlich mithilfe von Abgüssen nach der Natur hergestellt. Diese Technik war ab dem Anfang des 16. Jahrhunderts in Oberitalien verbreitet und wurde später in Süddeutschland vor allem von Goldschmieden, besonders dem Nürnberger Meister Wenzel Jamnitzer, verwendet.11)

Mit dem vierstufigen Ornamentkreuz, dem Relief der Maria lactans und den Renaissancefriesen weist die Glockenzier typische Merkmale der lothringischen Wandergießer auf, die im 17. Jahrhundert in ganz Europa tätig waren.12) Mamertus und Johann Fremy, die sich latinisierend Formica nannten, waren Neffen der lothringischen Glockengießer François und Pieter Hemony, in deren Werkstatt sie tätig waren.13) Von Mamertus hat sich eine 1638 zusammen mit Joseph Michelin gegossene Glocke in Bergheim-Auenheim erhalten, die ebenfalls als Umguss einer älteren Glocke ausgeführt wurde.14) Er hatte sich in Winterswijk (Niederlande) niedergelassen; das Gießerhandwerk wurde von seinen Söhnen und bis ins 19. Jahrhundert von Nachkommen der Familie ausgeführt, die teilweise in Ostfriesland ansässig waren.15)

Textkritischer Apparat

  1. TIBI EXVLTANS VIDIT TVA REGNA nach der Chronik ergänzt.
  2. BA EGO PANGO REFVSA nach der Chronik ergänzt.
  3. VICINA SVB MEA nach der Chronik ergänzt.
  4. ET AEDILIVM JOHANNIS VIESELMANN ET EBERHARD SCHMI nach der Chronik ergänzt.

Anmerkungen

  1. PfA St. Dionysius, Chronik St. Dionysius, S. 103f.
  2. Feldens, Glocken, S. 102.
  3. Gießerzeichen Nr. 2.
  4. Küppers-Braun, Frauen, S. 140–144, 323ff.
  5. Seemann, Aebtissinnen, S. 42; Schröter, Baugeschichte, S. 106; Küppers-Braun, Frauen, S. 220; dies., Haus Borbeck, S. 23f.
  6. Kahn, Kirchenregister, S. 320; ders., Geschichte, S. 60.
  7. Die Herkunft wird im Kirchenregister von 1657 genannt, vgl. Kahn, Kirchenregister, S. 327.
  8. Ebd., S. 324.
  9. Kahn, Geschichte, S. 47.
  10. Zum Beispiel Dt. Glockenatlas Baden, Nr. 2279; DI 73 (Hohenlohekreis), Nr. 868.
  11. Vgl. Kat. Nürnberg 1985, S. 11f.; DI 73 (Hohenlohekreis), Nr. 868.
  12. Vgl. Poettgen, Glockenguss, S. 167. Eine umfassende Untersuchung über die lothringischen Wandergießer des 17. Jh. steht noch aus, für die Zeit zwischen 1460 und 1560 vgl. Thurm, Wandergießer, passim.
  13. Lehr, Klokkengieters, S. 14.
  14. Glocken und Geläute, S. 116.
  15. Lehr, Klokkengieters, S. 13, 45; Rauchheld, Glockenkunde, S. 26–33.

Nachweise

  1. PfA St. Dionysius, Schublade 111.
  2. PfA St. Dionysius, Chronik, S. 103f.
  3. Pesch, Blätter, S. 17 (A, C), mit Übersetzung.
  4. Feldens, Glocken, S. 102.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 175† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0017502.