Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 97† Werden, St. Ludgerus, ‚Liudgeridenkrypta’ nach 1515?

Beschreibung

Grabdenkmal für Hildegrim den Jüngeren, Bischof von Halberstadt und Vorsteher der Abtei Werden. Das Grabgedicht mit Grabbezeugung und Totenlob befand sich auf einer Tafel.1) Der Verstorbene wurde, wie seine Vorgänger und Verwandten, in der ‚Liudgeridenkrypta’ bestattet, sein Grab war aber, im Gegensatz zu denen der älteren Liudgeriden, nicht mit einer Tumba geschmückt. Die Tafel war im 18. Jahrhundert vermutlich nicht mehr vorhanden, die Inschrift wird von Edmond Martène und Ursin Durand, die die Inschriften der vier älteren Liudgeriden gesehen und wiedergegeben haben, nicht erwähnt.2)

Nach HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 64.6 Helmst.

  1. Hoc saxo in Christo requiescit episcopus istoAnnis Hildgrimus non meritis juniorAbbas Hildgrimus numeratur in ordine primusHuius dum quondam pastor ovilis3) eratSollicitus duris post tot molimina curisTempli explevit opus quo nitet istea) locus

Übersetzung:

Dort unter diesem Stein ruht in Christus Bischof Hildegrim, geringer an Jahren, nicht an Verdiensten (als sein gleichnamiger Verwandter). Als Abt wird Hildegrim in der Reihe als Erster gezählt. Während er einstmals Hirte dieser Herde war, vollendete er, nach vielen Anstrengungen und bedrängt von harten Sorgen, den Bau der Kirche, durch den dieser Ort (d. h. das Kloster) glänzt.

Versmaß: Drei elegische Distichen, die Hexameter leoninisch zweisilbig rein gereimt, die Pentameter reimlos bzw. leoninisch ein- und zweisilbig gereimt.

Kommentar

Die Herstellung des Epitaphs anlässlich der Neugestaltung der ‚Liudgeridenkrypta’ mit Tumben für seine vier Vorgänger im Auftrag Abt Adalwigs (um 1065–um 1080) ist zwar denkbar, ein Vergleich der Inschriften zeigt aber sowohl sprachlich als auch inhaltlich zahlreiche Unterschiede.4) Die Tumbeninschriften sind durchgängig einsilbig rein gereimt, im Gegensatz zu der Epitaphinschrift. In den Tumbeninschriften wird das Sterben mit verbreiteten Metaphern bezeichnet, gleichzeitig werden theologische Vorstellungen über das Jenseits angesprochen. Außerdem teilen alle Tumbeninschriften den für das liturgische Gedenken wichtigen Todestag mit, der in dem Epitaph nicht erwähnt wird. Insgesamt wirken die Verse des Epitaphs sowohl stilistisch (z. B. die aufeinanderfolgenden Versanfänge Annis Hildgrimus und Abbas Hildgrimus) als auch inhaltlich weniger elegant.

Auch der Vergleich mit der ebenfalls von Adalwig in Auftrag gegebenen Inschrift auf den Kalksintersäulen liefert keinen Hinweis auf einen gemeinsamen Entstehungszusammenhang.5) Diese Verse sind durchgehend leoninisch zweisilbig assonierend gereimt. Der zweite Vers der Säuleninschrift und der sechste Vers des Epitaphs weisen allerdings Übereinstimmungen auf: Sowohl der zweite Halbvers nitet iste locus als auch das Reimpaar opus – locus sind gleich. Während der zweisilbig assonierende Reim aber zu den übrigen Versen der Säuleninschrift passt, stört er das Reimschema der Epitaphinschrift. Es ist denkbar, dass deren Verfasser sich an der Säuleninschrift orientiert hat. Die Säuleninschrift thematisiert, stärker noch als die Tumbeninschriften, ein komplexes theologisches Konzept des Jenseits, das mit dem eher schlichten Totenlob des Epitaphs (pastor ovilis erat, templi explevit opus) keine Gemeinsamkeiten aufweist.

Die Inschrift zeigt Übereinstimmungen in der Wortwahl mit der Grabinschrift für Abt Anton Grimmolt (1484–1517).6) Die Junkturen ‚hoc saxo’ und ‚pastor ovilis’ sind allerdings so verbreitet, dass sie nur als schwacher Hinweis auf eine Verbindung zwischen der Epitaphinschrift und der von Johannes Cincinnius verfassten Grabinschrift verstanden werden können.7)

Hildegrim der Jüngere entstammte der Familie des heiligen Liudger und stand ab 853 dem Bistum Halberstadt vor, wie vor ihm bereits sein Verwandter Thiadgrim.8) Nach dem Tod des Münsteraner Bischofs und Werdener Vorstehers Altfrid kam es in Werden zu Auseinandersetzungen um den Status des Klosters als Eigenkloster der Liudgeriden.9) Die ersten vier Vorsteher des Klosters stammten aus der Familie des Klostergründers Liudger. Sie werden in den Quellen als ‚rectores’ oder ‚custodes’ bezeichnet, nicht jedoch als Äbte. Der Ende des 9. bis Anfang des 10. Jahrhunderts verfasste zweite Teil des ‚Werdener Privilegs’ berichtet, dass sich die Werdener Klosterbrüder über den Versuch der Inbesitznahme des Klosters durch den Laien Bertold, ein Angehöriger der Liudgeridenfamilie, am Königshof beschwerten und auf einer ansonsten nicht näher bezeichneten Mainzer Synode 864 Recht bekamen.10) Anschließend sei Hildegrim der Jüngere von ihnen zum Abt gewählt worden. Das Privileg Ludwigs II. (des Jüngeren) von 877, das dem Kloster Immunität und freie Abtswahl verleiht, lässt aber eher den Schluss zu, dass die erste Wahl erst für den Nachfolger Hildegrims vorgesehen war.11) Möglicherweise war die Wahl Hildegrims weniger eine Abtswahl als mehr eine Bestimmung des Liudgeriden zum Vorsteher der Klostergemeinschaft.

Die zeitgenössische Entstehung der Inschrift nach dem Tod Hildegrims des Jüngeren ist unwahrscheinlich und auch mit den Tumbeninschriften aus dem 11. Jahrhundert in der ‚Liudgeridenkrypta’ können keine Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Die erzählenden Quellen zur Geschichte des Werdener Klosters setzen erst im 16. Jahrhundert ein,12) so dass es auch von dieser Seite keine zeitgenössischen Hinweise auf eine frühe Entstehung und auf den Anlass der Anfertigung der Inschrift gibt. Im Übrigen betonen auch diese Quellen, dass Hildegrim der Jüngere Halberstädter Bischof gewesen sei und daneben dem Kloster Werden vorgestanden und es als ‚administrator’ geleitet habe, bevor sie von seinem Nachfolger Andulph als dem „ersten gewählten Abt“ sprechen.13)

Die Betonung von Hildegrim dem Jüngeren als abbas (...) numeratur ordine primus ist der wichtigste Anhaltspunkt, an dem eine These zur Datierung der Inschrift festgemacht werden kann. Die Behauptung, Hildegrim sei zum Abt gewählt worden, wurde zwar schon im zweiten Teil des ‚Werdener Privilegs’ mitgeteilt, ging aber anscheinend nicht in die Werdener Geschichtsschreibung ein. Der im 12. Jahrhundert begonnene kurze Abtskatalog beginnt mit Andulph, dem Nachfolger Hildegrims.14) Auch Werdener Nekrologeinträge für Hildegrim nennen ihn als Bischof von Halberstadt, nicht als Abt von Werden.15) Erst Johannes Cincinnius greift in seiner 1515 gedruckten Vita Ludgeri die Behauptung von der Abtswahl Hildegrims wieder auf, wobei er diese Information sicherlich aus dem ‚Werdener Privileg’ bezog.16) Möglicherweise war die Verbreitung dieser Vita der Anlass, Hildegrim dem Jüngeren ein Epitaph zu setzen, das ihn als ersten Werdener Abt bezeichnet. Ob der Verfasser des Epitaphs auch von der ebenfalls von Cincinnius verfassten Grabinschrift für Abt Anton Grimmolt beeinflusst wurde,6) bleibt Spekulation.

Über die Amtszeit Hildegrims des Jüngeren in Werden ist nur wenig bekannt. Das wichtigste überlieferte Ereignis ist die Weihe der Klosterkirche am 11. November 875, die er gemeinsam mit dem Kölner Erzbischof Willibert vornahm.17) Hildegrim der Jüngere starb am 21. Dezember, sein Todesjahr wird unterschiedlich zwischen 885 und 888 angegeben.18)

Textkritischer Apparat

  1. ipse MGH.

Anmerkungen

  1. Effmann, Bauten 1, S. 55, Anm. 1.
  2. Vgl. Martène/Durand, Voyage 2, S. 235f.
  3. Die Metapher ‚pastor ovilis’ ist weitverbreitet, vgl. z. B. das Epitaph für Drogo von Metz (gest. 855/856), in: Ex Historia S. Arnulphi Mettensis (hg. v. G. Waitz, MGH SS 24), S. 545,23.
  4. Vgl. Nr. 22, 23, 24, 25. Bereits Gregor Overham, der die Verse als Einziger überliefert, vermerkt am Rand: „est recenti ab auctore“ (als die davor von ihm wiedergegebenen Inschriften der vier älteren Liudgeriden), vgl. auch Effmann, Bauten 1, S. 55, Anm. 1.
  5. Vgl. Nr. 26.
  6. Vgl. Nr. 98. Das erste Distichon lautet „Ecce sub hoc saxo praeclarus conditur Abbas qui pius hic pulchri pastor ovilis erat.“
  7. Vgl. Anm. 3.
  8. Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. G. H. Pertz, MGH SS 23, S. 81).
  9. Diekamp, Vitae, S. XIIff.; Urbare A, S. XIIIf.; Nottarp, Eigenkloster, S. 88–93; Stüwer, GS Werden, S. 89f.
  10. Diekamp, Vitae, S. 286-294; Fundatio monasterii Werthinensis (hg. von G. Waitz, MGH SS 15,1, S. 164–168).
  11. MGH D LJ 6 (877 Mai 22); Diekamp, Vitae, S. XIV; Jacobs, Pfarreien, S. 23; Stüwer, GS Werden, S. 90.
  12. Der anonyme Verfasser der Annales und Heinrich Duden (1573–1601) waren Zeitgenossen, vgl. Anonymus, Annales, S. 47 (Einleitung).
  13. Duden, Historia, S. 15; Hildegrim d. J. ist der „ultimus administrator“; Overham, Annalen, S. 57.
  14. Series abbatum Werthinensium (hg. v. O. Holder-Egger, MGH SS 13, S. 288).
  15. Jostes, Kalender, S. 152 (11. Jh.); Urbare A, S. 347 (11.–12. Jh.).
  16. Cincinnius, Vita Ludgeri, Kap. 53, vgl. Diekamp, Vitae, S. C.
  17. REK 1, Nr. 253 (875 November 11); vgl. Einleitung 6. 5.
  18. Cincinnius, Vita Ludgeri, Kap. 53; Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. G. H. Pertz, MGH SS 23, S. 81) (885?); Anonymus, Annales, S. 56 (885); Overham, Annalen, S. 57 (887); Jacobs, Pfarreien 1, S. 24 (886); Jostes, Kalender, S. 152 (888); Stüwer, GS Werden, S. 301 (886); Hauck, Geist, S. 28 (886); Päffgen, Gräber, S. 223 (888).

Nachweise

  1. HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 64.6 Helmst., fol. 61v.
  2. MGH Poetae 4, hg. v. K. Strecker, S. 1040, Anm. 3.
  3. Effmann, Bauten 1, S. 55, Anm. 1.
  4. Hauck, Geist, S. 28, Nr. 7.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 97† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0009703.