Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 94† Dom vor 1508?, A. 17. Jh.–1681

Beschreibung

Kalvarienberg. Sandstein. Nach Aussage von Anton von Dorth befand sich der Kalvarienberg 1687 „vorne auf dem Kirchhof“, womit vermutlich der Friedhof auf dem Burgplatz gemeint war. Er bestand aus drei Kreuzen mit Christus und den Schächern, außerdem standen links vom Kruzifix Skulpturen des unter dem Kreuz bekehrten Hauptmanns und von Josef von Arimathäa, rechts Skulpturen von Maria, Johannes und Maria Magdalena.1) Das einzige noch erhaltene Fragment des Kalvarienbergs, die Figur des Engels, der die Seele des guten Schächers emporträgt, befindet sich heute in der Domschatzkammer.2) Aus dem Protokollbuch der Münsterfabrik von 1704 geht hervor, dass der stark zerstörte Kalvarienberg, der zu dieser Zeit im südlichen Seitenschiff aufgestellt war, entfernt und durch die (heute noch dort befindliche) Grablegungsgruppe ersetzt wurde.3) An dem Kalvarienberg waren vier Inschriften angebracht, rechts ein Stiftervermerk (A), links ein Renovierungsvermerk von 1681 (B), unten4) eine Bibelparaphrase mit Bibelstellenangabe (C) und ein Gebet (D).

Nach von Dorth.5)

  1. A

    Hermannus Scholl Canonicus Assindensis hanc crucem erigi curavit

  2. B

    Adolphus Brecht Canonicus scholasticus pastor Getrudis renovari fecit anno 1681

  3. C

    Er ist umb unser bosheit willen [ – – – ]a) gesandt worden Jesaja 53 vers 5.6)

  4. D

    O Herr Jesu durch dein bitter leiden und sterbengib gnadt das ich nicht komme ins ewig verderbenIn letzten todts noth stehe mir gnediglich beivon schweren anfechtungen des bosen feindts mach mich frei O Jesu den abgestorbene gebe das ewigh lichtdas sie anschauen mogen immer dein gottlich angesicht

Übersetzung:

Der Essener Kanoniker Hermann Scholle ließ dieses Kreuz errichten. (A) Der Kanoniker und Scholaster Adolf Brecht, Pfarrer von St. Gertrud, ließ (dies) im Jahre 1681 renovieren. (B)

Versmaß: Deutsche Reimverse (D).

Kommentar

Das erhaltene Fragment des Kalvarienbergs, die Skulptur des Engels mit der Seele des Schächers, wird aus stilistischen Gründen mit der Essener Grablegungsgruppe in Verbindung gebracht,7) die dem Kölner Victor von Carben-Meister zugeschrieben und in die 20er Jahre des 16. Jahrhunderts datiert wird.8) Möglicherweise wurde der Essener Kalvarienberg in dieser Kölner Werkstatt hergestellt.

Der Stifter des Kalvarienbergs, der Essener Kanoniker Hermann Scholle, stammte aus der Essener Ministerialenschicht, sein gleichnamiger Vater war Dienstmann des Stifts und Mitglied der ‚Vierundzwanzig’, einer Art Gemeindevertretung.9) Als Sekretär der Äbtissin Meina von Daun-Oberstein stand der Kanoniker im dritten Äbtissinnenstreit (1489–1495) auf der Seite dieser vom Herrenkapitel unterstützten Äbtissin, die sich letztlich gegen ihre Konkurrentin durchsetzen konnte.10) Die von der Mehrheit der Essener Bürger unterstützte Gegenäbtissin Irmgard von Diepholz versuchte dann vor dem kaiserlichen Hofgericht zu beweisen, dass Hermann Scholle das Wahlprotokoll gefälscht habe.11) In diesem Zusammenhang wurde dem Kanoniker vorgeworfen, ein eines Geistlichen unwürdiges Leben zu führen, u. a. weil er mit einer Frau zusammenlebe und sich aufwendig kleide.12) Hermann Scholle war in mehrere Streitereien mit Essener Bürgern verwickelt.13) Als Oberschulze der Oberhöfe Nünning (1496–1502) und Oberzell (1499) hatte er eine wichtige Position in der Güterverwaltung des Stiftes inne, 1507 ist er zudem als Werkmeister nachgewiesen.14)

Der Kalvarienberg enthielt Reliquien vom Kreuz Christi und von Golgatha, vom heiligen Quintinus und von den Haaren Marias.15) Dies geht aus der Ergänzung hervor, die Hermann Scholle einer von ihm 1502 erstellten Reliquienliste zu einem späteren Zeitpunkt hinzufügte.16) Hier erwähnt er auch den für den Besuch des Kalvarienbergs von Erzbischof Hermann von Köln verliehenen Ablass, ohne dass deutlich wird, ob es sich um Hermann IV. von Hessen (1480–1508) oder Hermann von Wied (1515–1547) handelt. Es ist wahrscheinlicher, dass der zeitliche Abstand zwischen der Anlage der Reliquienliste 1502 und deren Ergänzung aufgrund der Ablassverleihung weniger als sechs Jahre betrug, als dass mehr als dreizehn Jahre später die Reliquienliste erweitert wurde. Deshalb ist eher davon auszugehen, dass der Ablass von Ebf. Hermann IV. von Hessen verliehen wurde und der Kalvarienberg damit vor 1508 entstanden ist. Als weiteres Indiz für die frühere zeitliche Einordnung kommt hinzu, dass Hermann Scholle nur bis 1510 oder 1514 in Quellen fassbar ist.17) Der Kanoniker wurde vor dem Kalvarienberg bestattet;18) seine Memorie wurde am 12. Dezember gefeiert.19)

Adolf Brecht ist ab 1664 als Kanoniker des Essener Männerkapitels belegt,20) außerdem hatte er die Pfarrstelle an St. Gertrud inne. Er starb am 26. Juli 1696.21)

Während die Inschriften A und B durch die Lebensdaten des Stifters bzw. durch die Jahreszahl datiert werden können, ist die zeitliche Einordnung von Inschrift C schwieriger. Auszuschließen ist, dass sie bereits von Hermann Scholle Anfang des 16. Jahrhunderts in Auftrag gegeben wurde, weil der Text keine Elemente des Niederdeutschen mehr enthält, wie sie in deutschen Essener Inschriften des beginnenden 16. Jahrhunderts durchgängig zu finden sind.22) Die Verseinteilung in deutschen Ausgaben des Alten Testaments ist erst in Drucken ab dem Ende des 16. Jahrhunderts zu finden, so dass zumindest ein Terminus post quem benannt werden kann.23) Wahrscheinlich wurde die Inschrift bei der Restaurierung 1681 angebracht, dieser zeitlichen Einordnung stehen ihre sprachlichen Merkmale nicht entgegen. Inhaltlich beschäftigen sich die Reimverse der Inschrift D passend zum Inschriftenträger mit der Passion Christi und der Hoffnung auf seinen Beistand in der Todesstunde.

Textkritischer Apparat

  1. Die Fehlstelle war bereits für von Dorth unleserlich.

Anmerkungen

  1. Von Dorth, Inschriften 2, S. 246.
  2. Inv.-Nr. 207, vgl. Kat. Essen 2009, Nr. 119 (M. Rief). Von der farbigen Fassung sind noch Reste sichtbar, das Schriftband lässt keine Inschrift mehr erkennen. Zur Zugehörigkeit zum Kalvarienberg Küppers, Kunst, S. 57.
  3. Die Grablegung war ursprünglich im Westbau aufgestellt, vgl. Arens, Liber ordinarius, S. 268.
  4. Von Dorth vermerkt „in basi“, der Rest der Zeile ist unleserlich.
  5. Wesel, Archiv der ev. Gemeinde, Gefach 65,3, Stück 8 (Reise von Wesel nach Camen […] anno 1617; in Junio).
  6. Nach Jes 53,5. Der Wortlaut folgt nicht der Luther-Übersetzung.
  7. Küppers, Kunst, S. 57; Fabian, Friedhofscrucifixi, S. 157.
  8. Karrenbrock, Holzskulpturen, S. 56. Der Victor von Carben-Meister wird in die Nachfolge des Kölner Meisters Tilman Heisacker eingeordnet, vgl. ebd., S. 52; Maisel, Sepulchrum, S. 178f.
  9. Schroeder, Stadtschreiberbuch, S. 49 (1467). Zu den ‚Vierundzwanzig’ vgl. Feggeler, Sozialstruktur, S. 90–95.
  10. Küppers-Braun, Macht, S. 90f.
  11. Ebd.; Schroeder, Zustände, S. 126.
  12. Dieser Vorwurf hängt mit der Frage zusammen, ob Hermann Scholle als Geistlicher vor einem weltlichen Gericht erscheinen musste.
  13. Schroeder, Stadtschreiberbuch, S. 70 (1491).
  14. Stricker, Geschichte, S. 29; HStAD, Stift Essen, Urkunden, Nr. 1616 (1499 Mai 11); Schaefer/Arens, Urkunden, Nr. 238 (1507 Februar 21).
  15. Zur Bedeutung des hl. Quintinus im Essener Totengedenken vgl. Nr. 81.
  16. Gerß, Heiltum, S. 110; vgl. auch Müller, Geschichtsschreibung, S. 44ff.
  17. Eger, Urkunden, S. 135f. (1510 August 4); HStAD, RKG, Nr. 1660; Krägeloh, Unterlagen, S. 72, nennt ohne Quellenbeleg 1514 als letztes Jahr der Amtszeit Hermann Scholles.
  18. MüA, Hs. 35 (Compendium fundatorum, festorum et anniversariorum …), S. 53. Das Archivale ist momentan nicht auffindbar, die Informationen entstammen dem maschinenschriftlichen Inventar Alfred Pothmanns, das mir freundlicherweise von Birgitta Falk, Domschatzkammer Essen, zur Verfügung gestellt wurde.
  19. Müller, Memorienkalender, S. 173; MüA, Hs. 23, fol. 36v.
  20. Schaefer/Arens, Urkunden, Nr. 443 (1648 März 26), Anmerkung der Herausgeber.
  21. Tönnissen, Verzeichnis, S. 191.
  22. Vgl. z. B. Nr. 84, 101. Von Dorth überliefert die Inschriften im Allgemeinen sehr genau. Aus seinen Aufzeichnungen ist ersichtlich, dass er niederdeutsche Inschriften so wiedergibt und nicht auf Hochdeutsch, vgl. z. B. von Dorth, Inschriften 2, S. 121, 151.
  23. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass von Dorth die Bibelstelle selbst angegeben hat, auch wenn es sich bei der Angabe nicht um einen Nachtrag handelt. Dann wäre dieser Terminus post quem hinfällig.

Nachweise

  1. Wesel, Archiv der ev. Kirchengemeinde, Sammelband Anton von Dorth, Gefach 65,3, Stück 8, S. 41.
  2. von Dorth, Inschriften 2, S. 246.
  3. Fabian, Friedhofscrucifixi, S. 156.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 94† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0009409.