Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 88 Domschatzkammer 4. V. 15. Jh.

Beschreibung

Kelch.1) Silber vergoldet, getrieben, gegossen, graviert. Der Sechspassfuß hat eine Zarge mit getriebenem Fries und einen schlichten Stehrand, in dessen Unterseite der Besitzvermerk graviert ist. Der Fuß zieht sich weit nach oben, wo er in den kurzen, sechsseitigen Schaft übergeht. Der Schaft wird vom Nodus unterbrochen. Der Nodus in abgeflachter Kugelform hat sechs rautenförmige, mit Blüten verzierte Rotuli und mit Maßwerk gravierte Zungen. Die einfache Kuppa ist becherförmig. In ein Fußsegment wurden in späterer Zeit (18. Jahrhundert?) Darstellungen der Heiligen Stephanus und Laurentius graviert.2)

Maße: H. 19 cm; Dm. 15,2 cm (Fuß), 10,4 cm (Kuppa); Bu. 0,5 cm.

Schriftart(en): Mischschrift aus frühhumanistischer Kapitalis und gotischer Minuskel.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/5]

  1. CALIX D(OMI)NORVM CAN/ONICORV(M) DIACONORV(M) / ECCL(ES)IEa) ASSVNDENSIS

Übersetzung:

Kelch der Herren Kanoniker Diakone der Essener Kirche.

Kommentar

Die Inschrift ist in einer originellen, dekorativen Mischschrift aus Formen der frühhumanistischen Kapitalis und in etwas geringerem Umfang der gotischen Minuskel gestaltet. Mit Ausnahme des L, das in CALIX und ECCL(ES)IE über die gedachte Oberlinie hinausreicht, stehen alle Buchstaben (auch die, die in Formen der gotischen Minuskel ausgeführt sind) im Zweilinienschema. Die Inschrift erweckt so den Eindruck einer Majuskelschrift, weshalb sie im Editionstext durchgehend in Majuskeln wiedergegeben wird. In typischen Formen der frühhumanistischen Kapitalis treten offenes, kapitales D und spitzovales O auf. Bei R schließt die steile, gekrümmt (bei DOMINORVM und CANONICORVM) oder gerade (bei DIACONORVM) ausgeführte Cauda direkt an das Ende des kleinen Bogens an, der den Schaft nicht berührt. Für gleiche Buchstaben wurde überwiegend die gleiche Schrift gewählt (D, O, R, S, V als Majuskeln der frühhumanistischen Kapitalis; E, M, N in gotischen Minuskeln). A wurde sowohl als flachgedeckte Majuskel mit an beiden Seiten überstehendem Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken ausgeführt als auch als Minuskel, bestehend aus zwei Schäften und einem Schrägschaft, zu dem der eingerollte Bogen umgeformt wurde. Die Minuskel-a wirken durch ihre geometrische Konstruktion stark stilisiert. C ist als Majuskel rund, als Minuskel mit oben und unten gebrochenem Bogen gestaltet. Der Bogen des e ist zu einem waagerechten oberen Bogenabschnitt gebrochen, der Balken zu einem dünnen Schrägstrich mit leichtem Schwung nach rechts reduziert. Die unteren Schaftenden der Minuskeln sind fast waagerecht umgebrochen. Dabei sind die dünnen umgebrochenen Buchstabenbestandteile nach links und rechts verlängert und verbinden sich so teilweise zu durchgehenden Linien, beispielsweise bei a, m, n und den Verbindungen an, ni und ia. Zusätzlich sind auf die dünnen Brechungen Dornen aufgesetzt. Die Majuskelbuchstaben und die Kürzungsstriche sind mit ausgeprägten, flach rechtwinklig angesetzten oder dreieckigen Sporen ausgestattet. Die Mischung aus Buchstabenformen einer Majuskel- und einer Minuskelschrift innerhalb der Wörter bewirkt einen starken Verfremdungseffekt. Die frühhumanistische Kapitalis wird vermehrt seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Inschriften im deutschsprachigen Gebiet benutzt.3) Die Kombination von Buchstaben der gotischen Minuskel mit Buchstaben dieser neuen Schrift lässt vermuten, dass die Inschrift in dieser Frühzeit der frühhumanistischen Kapitalis entstanden ist.

Von kunsthistorischer Seite wird der Kelch in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert, als Herstellungsregion wird der niederrheinische Raum vermutet.4) Das Schatzverzeichnis von 1797 verzeichnet seine Zugehörigkeit zum Offizium der heiligen Märtyrer Crispin und Crispinian in der Krypta „zum Gebrauch deren Subdiaconen“.5) Dieser Altar ist wahrscheinlich Mitte des 18. Jahrhunderts abgebrochen worden.6) Vielleicht ist das Offizium deshalb später am Altar des heiligen Stephanus gehalten worden. Das würde die gravierten Heiligenfiguren erklären.

Textkritischer Apparat

  1. Ohne Kürzungszeichen. ECCLTE Küppers/Mikat.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 52. Bei einer Inventarisierung 1797 wurde die Zahl 8 auf und unter dem Fuß eingeschlagen, vgl. Pothmann, Kirchenschatzverzeichnis, S. 29.
  2. Die Heiligen wurden bisher fälschlicherweise oft als Cosmas und Damian identifiziert. Sie sind anhand ihrer Attribute aber eindeutig als Stephanus (Steine) und Laurentius (Rost) zu erkennen.
  3. Zur Entwicklung der frühhumanistischen Kapitalis und frühen Beispielen in Wiener Neustadt ab den 1440er Jahren vgl. DI 48 (Stadt Wiener Neustadt), S. XLVIf. sowie die Einleitung 5. 4.
  4. Kat. Bonn/Essen 2005, S. 182, Nr. 24 (V. H[enkelmann]).
  5. Pothmann, Kirchenschatzverzeichnis, S. 29; vgl. auch Nr. 65.
  6. Arens, Liber ordinarius, S. 268. Vgl. Nr. 16.

Nachweise

  1. KDM Essen, S. 52, Nr. 30.
  2. Humann, Kunstwerke, S. 352.
  3. Arens, Münsterschatz, S. 70.
  4. Küppers/Mikat, Münsterschatz, S. 83.
  5. Kat. Essen 1995, S. 175.
  6. Gerchow, Benediktinerabtei, S. 97.
  7. Kat. Bonn/Essen 2005, S. 182, Nr. 24 (V. H[enkelmann]).
  8. Kat. Essen 2009, S. 146, Nr. 59 (S. Hermann).

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 88 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0008804.