Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 81 Domschatzkammer nach 1491

Beschreibung

Armreliquiar.1) Silber, teilvergoldet, getrieben, gegossen, graviert, Edelsteine. Es enthält Reliquien des heiligen Quintinus. Der ovale Sockel wird von drei gegossenen Engelsstatuetten getragen. Der gravierte Auftraggebervermerk mit Reliquienbezeichnung befindet sich in der Hohlkehle des Sockels, darüber liegt eine gegossene vergoldete Ranke. In den faltenreichen Ärmel mit graviertem, vergoldetem Brokatmuster ist ein vergoldetes Maßwerkfenster eingelassen. Unter dem oberen Ärmelabschluss ist ein Stechhelm mit Helmzier angenietet, der dazugehörige, darunter angebrachte Schild ist heute verloren. Er war 1904 noch vorhanden.2) Die rechte Hand mit deutlich hervortretenden Adern am Handgelenk ist realistisch gestaltet, die an den Fingerspitzen eingetriebenen Nägel erinnern an das Martyrium des heiligen Quintinus.3)

Maße: H. 55 cm; Dm. 16,5 cm; Bu. 0,9 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

  1. brachiu(m)a) Sancti quintini ornatu(m)a) per executores Illusteisb) margarete de custellc) p(re)p(osi)tisse ass(endiensis)

Übersetzung:

Der Arm des heiligen Quintinus, geschmückt durch die Testamentsvollstrecker der erlauchten Essener Pröpstin Margareta von Castell.

Wappen:
Castell.4)

Kommentar

Die Inschrift ist in vergoldeter Konturschrift als Bandminuskel mit Schattenschraffur graviert, die Ausführung ist unsicher und wenig sorgfältig. Auffällig sind sowohl die große Varianz an Buchstabenformen als auch die unterschiedliche Ausführung eigentlich gleicher Buchstabentypen. a ist einstöckig, doppelstöckig oben geschlossen oder kastenförmig gestaltet. s ist lang, kursiv in einfacher Schleifenform, in Brezelform sowie als Versal ausgeführt. r wird als Bogen- oder Schaft-r dargestellt, bei letzterem ist die Fahne überwiegend als Brechung des Schafts mit schrägem Zierstrich ausgeführt. Bei den e wurde der Balken entweder ordentlich gestaltet, zu einem Schrägstrich reduziert oder ganz weggelassen. t ist mit oder ohne Balken ausgeführt, beim u sind beide Schäfte gleich lang oder der rechte mit Oberlänge ohne Brechung ausgeführt. Die Oberlängen sind häufig nicht geschlossen. Brechungen an den unteren Schaftenden sind teilweise ohne Verständnis der Schrift ausgeführt: So wurden nicht die Konturlinien eines, sondern zweier nebeneinander stehender Schäfte, d. h. der Zwischenraum zwischen zwei Buchstaben, verbunden. Die unterschiedlichen Buchstabenformen und die ungenaue Ausführung erschweren die Lesbarkeit der Inschrift, zumal bei Illusteis (sic!) und custell (sic!) falsche, den korrekten aber ähnlich sehende Buchstaben verwendet wurden.5)

Margareta von Castell entstammte einem fränkischen Grafengeschlecht.6) Sie hatte im Essener Stift verschiedene Ämter inne und konnte in der Stiftshierarchie rasch aufsteigen. 1424 ist sie als Scholasterin, 1429 bereits als Dekanin und um 1447 bis 1491 als Pröpstin belegt. Dieses Amt ist auch in der Inschrift genannt: in der ungewöhnlichen Wortform mit der Abkürzung ppt und der Endung -isse.7) Ausgeschrieben sollte die Amtsbezeichnung wohl prepositisse lauten. Der Todestag Margaretas von Castell ist nicht bekannt, allerdings wurden zum 1. und zum 4. Januar Memorienstiftungen für sie eingerichtet.8) Durch den Hinweis auf die Testamentsvollstrecker als Auftraggeber ergibt sich die Datierung nach 1491.

Dem heiligen Quintinus wurde im Stift Essen große Verehrung entgegengebracht.9) Die dem Heiligen geweihte Kapelle, die sich nordwestlich der Münsterkirche befand, spielte zudem eine wichtige Rolle im liturgischen Totengedenken der Essener Gemeinschaft. Hier wurde der Leichnam verstorbener Stiftsdamen in der ersten Nacht aufgebahrt; der Kaplan der Kapelle las deren Totenmessen und Anniversarien und die Officiaria der Kapelle sprach neben den Stundengebeten auch das Totengebet. Möglicherweise wurde das Armreliquiar gerade für Reliquien dieses Heiligen angefertigt, um über die Memorienstiftungen hinaus das Andenken an die verstorbene Margareta von Castell zu sichern.

Das Reliquiar hat große Ähnlichkeit mit dem ebenfalls in der Domschatzkammer aufbewahrten Armreliquiar des heiligen Basilius.10) Dieses sorgfältiger gearbeitete Reliquiar diente vielleicht als Vorbild für das Armreliquiar des heiligen Quintinus.

Textkritischer Apparat

  1. Ohne Kürzungszeichen.
  2. Sic! Für Illustris.
  3. Sic! Für castell.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 35. Das Armreliquiar ist im Reliquienverzeichnis von 1626 unter Nr. 54 zusammen mit dem Armreliquiar des hl. Basilius aufgenommen, vgl. Humann, Kunstwerke, S. 35.
  2. Humann, Kunstwerke, Tf. 55,2.
  3. G. Kaster, Art. Quintinus (Quentin) von Vermand, in: LCI 8 (1976), Sp. 239f.
  4. Schild verloren. Helmzier: über Helmkrone ein durch eine zweite Krone gesteckter Pfauenstoß. Siebmacher, SiSu 12, Tf. 12.
  5. Ich danke Harald Drös, Heidelberg, für seine Hilfe bei der Lesung.
  6. Zu Margareta von Castell und ihrer Stellung im Stift vgl. Hermann, Inschrift, S. 250ff.
  7. pp wäre ausreichend als Abkürzung für praeposita, vgl. Abkürzungen, S. 163 (hier allerdings nur die maskuline Form praepositus). Zur Endung -issa im Mittellateinischen vgl. Stotz, Handbuch 2, VI, § 37. Hier wurde die Schreibweise wohl analog zu abdisse und ebdisse gebildet.
  8. Müller, Memorienkalender, S. 163; HStAD, Stift Essen, Rep. und Hss., Nr. 6, fol. 6r; MüA, A 515. Ich danke Thomas Schilp, Dortmund, für diesen Hinweis.
  9. Röckelein, Leben, S. 94ff. Die Quintinskapelle war der Ort der Eintritts- und Austrittsriten der Stiftsdamen.
  10. Vgl. Nr. 89.

Nachweise

  1. Goebel, Münsterkirche, S. 43.
  2. Humann, Kunstwerke, S. 354, mit Tf. 55,2.
  3. Arens, Münsterkirche, S. 59.
  4. Küppers/Mikat, Münsterschatz, S. 92, mit Tf. 47.
  5. Hermann, Inschrift, S. 247, mit Abb. 2, S. 246.
  6. Kat. Essen 2009, S. 134, Nr. 50, mit Abb. und Übersetzung (S. Hermann).

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 81 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0008105.