Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 58 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – 1378

Beschreibung

Buchkasten.1) Holz, Elfenbein, Kupfer vergoldet und graviert, Leder, Stoff, Scharniere und eine Schließe aus Metall.2) Der hochrechteckige Buchkasten besteht aus zwei beidseitig ausgehöhlten Eichenbrettern, die an den Randleisten mit gravierten Kupferblechen beschlagen sind. Die Höhlungen der Außenseiten sind den beiden Teilen eines Elfenbeindiptychons angepasst, die den Buchkasten zieren. Das Prunkdiptychon zeigt Rufius Probianus als VICARIVS VRBIS ROMAE und wurde etwa um 400 n. Chr. in Rom hergestellt.3) Die ebenfalls ausgehöhlten Innenseiten des Kastens sind mit Stoff beklebt, der sich über beide Deckelbretter erstreckt. Darauf sind in der Innenseite des Vorderdeckels ein Baum mit Bildbeischrift (A) und in der Innenseite des Rückendeckels eine Inschrift mit Datum (B), Fürbitte (C) und einem Teil eines Reimoffiziums (D) geschrieben.

Die spätantiken Elfenbeintafeln wurden 1793 erstmals erwähnt, als der Kölner Sammler Baron Hüpsch erfolglos versuchte, sie von dem späteren Werdener Abt Beda Savels zu erwerben. Der Buchkasten und die zugehörige Handschrift4) mit der illuminierten Vita secunda des Klostergründers Liudger (um 1100) gelangten durch die Säkularisation zunächst in die spätere Paulinische Bibliothek in Münster und 1823 in die Königliche Bibliothek in Berlin, heute Staatsbibliothek zu Berlin, wo beide seitdem aufbewahrt werden.

Maße: H. 2,5 cm; L. 34,6 cm; B. 15,3 cm;5) Bu. 0,5–0,7 cm (A), 1,6 cm (B), 0,6 cm (C), 0,5 cm (D).

Schriftart(en): Gotische Minuskel6) mit Kapitalisversal.

  1. A

    […]usa) arbor[..]b) / vitac) eid) dic[…] // umbraculume)

  2. B

    Sub an(n)of) d(omi)ni mog) cccoh) / l x·x·viij i(n) vi(gi)l(ia)i) ex/altacionis s(an)c(t)e crucis

  3. C

    [S]it merces op(er)is [s]caltoriij) / vita p(er)hennisk)

  4. D

    s(anc)te liudgere tu[o]s / fa[m(u)lo]sl) pio p(re)[catu] ab / om(n)i [culpa emunda]m)7)

Übersetzung:

(…) des Baumes (…) Leben (…) schattiger Ort/Laube (A). Im Jahre des Herrn 1378 am Vortag der Erhöhung des heiligen Kreuzes. (B) Immerwährendes Leben möge dem Schnitzer des Werkes Lohn sein. (C) Heiliger Liudger, reinige deine Diener durch frommes Gebet von aller Schuld. (D)

Versmaß: Hexameter, leoninisch zweisilbig assonierend gereimt (C), Reimoffizium (D).

Datum: 13. September 1378.

Kommentar

Die Inschriften sind mit Tinte auf den Leinenstoff aufgemalt. Dabei sind die Inschriften A und B etwas heller, außerdem sind die Konturen der Buchstaben unschärfer, weil die Tinte teilweise leicht verlaufen ist. Inschrift B ist auf einfacher Lineatur gemalt und wird oben und unten durch ein Band (eine Schlangenlinie zwischen Linien) begrenzt. Die Buchstaben aller vier Inschriften sind einheitlich gestaltet. Es gibt keine Hinweise, dass die Inschriften zu unterschiedlichen Zeiten ausgeführt wurden, allerdings wird dieser Befund auch durch die teilweise schlechte Lesbarkeit beeinflusst, d. h. die Ausführung zu verschiedenen Zeitpunkten kann auch nicht ausgeschlossen werden. a ist immer zweistöckig ausgeführt, dabei ist der Bogen allerdings nicht immer gebrochen (so auch bei anderen Buchstaben mit Bögen). c ist immer als runder Bogen gestaltet. Bei g reicht der Bogen teilweise nicht unter die Grundlinie (bei vi(gi)l(i)a). r ist überwiegend als Schaft-r und nur bei [s]caltorii als Bogen-r ausgeführt. u und v werden nach ihrem Lautwert unterschieden (vita und crucis). v hat teilweise einen verlängerten linken Schaft (viij, vi(gi)l(ia)). Bei der Schrift handelt es sich um eine gotische Minuskel im buch- bzw. handschriftlichen Sinn und nicht um eine epigraphische Schrift. Dies ist neben der Gestaltung der Buchstaben auch dem Material (Tinte und Stoff) und dem Schreibwerkzeug (Feder?) geschuldet. Die Bögen sind überwiegend gebrochen, einige sind aber auch ausgerundet (z. B. a in [s]caltorii, alle c). Die Schäfte sind oft ungebrochen und schließen mit Sporen ab.

Die Fürbitte für den Hersteller, das Reimoffizium mit der Anrufung des heiligen Liudger und das Datum weisen darauf hin, dass der gegenwärtige Buchkasten 1378 als Behältnis für die Liudgervita angefertigt wurde.8) Das ungewöhnliche schmalhochrechteckige Format der Handschrift und die Gestaltung des Widmungsbilds, das die Konzeption der Herrscherdarstellung des Diptychons direkt aufgreift, zeigen allerdings auch, dass bereits bei der Herstellung der Handschrift eine Beziehung zu den Elfenbeintafeln bestand.9) Da die Gravuren auf den kupfernen Einfassungen stilistisch eher in die Entstehungszeit der Handschrift (um 1100) als ins 14. Jahrhundert passen, ist es denkbar, dass bei der Erneuerung ältere Teile eines gleichzeitig mit der Handschrift hergestellten Buchkastens wiederverwendet wurden.10)

Wann und wie das Elfenbeindiptychon nach Werden gelangte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Möglicherweise wurde es tatsächlich bereits von Liudger von seinen Reisen nach Rom und Montecassino (784–787) mitgebracht.11) Darauf könnte die enge Bezugnahme der Vitenhandschrift auf das Diptychon hinweisen. Außerdem bietet die Darstellung des Rufius Probianus Elemente wie die bereits von Elbern als Segensgestus angesprochene erhobene Hand und die Bezeichnung als Vir clarissimus, die sich auch auf den christlichen Heiligen Liudger beziehen lassen.12) Rainer Kahsnitz sieht in der Gestaltung des Davidbildes des Werdener Psalters (um 1030) eine Anlehnung an das Probianus-Diptychon,13) woraus die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass sich das Elfenbein spätestens zu dieser Zeit in Werden befand.14)

Bernd Michael wies darauf hin, dass es sich bei dem in dem auf den Leinenstoff gemalten Baum nicht um einen Stammbaum des heiligen Liudger handelt,15) sondern um die Darstellung des auch in Inschrift A bezeichneten Baumes, an dem der Heilige auf eigenen Wunsch seine Grabstätte erhalten hatte.16) Dieser Ort ist eng mit der Gründungsgeschichte des Klosters verbunden. Die Vita secunda berichtet, dass der Baum zuerst den Ort der Klostergründung markierte, und dass die Stelle, an welcher der zum Bau des Klosters gerodete Baum stand, schließlich von Liudger als Grabstätte ausgesucht wurde.17)

Textkritischer Apparat

  1. Vor der Endung -us befanden sich noch etwa drei Buchstaben, die nicht mehr entziffert werden können. Die Ergänzung zu locus bietet sich zwar sinngemäß an, passt aber nicht zu den noch sichtbaren Buchstabenresten.
  2. Für arbor[is]?
  3. Mit Kürzungszeichen über dem a.
  4. Das von Michael edierte Kürzungszeichen über dem i ist nicht mehr zu erkennen.
  5. Bislang nur bei Michael ediert. Das Wort ist um 90° nach rechts gedreht.
  6. Kein Kürzungszeichen mehr erkennbar.
  7. Der hochgestellte Endbuchstabe ist über m gesetzt.
  8. Der hochgestellte Endbuchstabe ist über das letzte c gesetzt.
  9. Fehlt bei Rose, seit Elbern zu vi(gilia) aufgelöst.
  10. Über c und a ist ein Schaft mit rechtwinkliger Brechung zu sehen, der als langes s verstanden werden kann. Am Wortende sind zwei Schäfte deutlich zu erkennen, obwohl nur ein i erforderlich ist.
  11. Rose ediert für die letzte Zeile vuil()ihemus (!), ihm folgt Elbern. Der Stoff hat am Wortanfang ein Loch, deshalb sind keine Buchstaben mehr zu sehen.
  12. Vom m ist nur der erste Schaft zu sehen, die beiden anderen Schäfte sind verblasst. u ist vermutlich durch den Kürzungsstrich, der den Schaft des l durchschneidet, gekürzt..
  13. Rose ediert nur sce liudgere … /pro … p /…; die bei Michael edierten Buchstaben a und d sind nicht mehr zu erkennen.

Anmerkungen

  1. SBB, Ms. theol. lat. fol. 323. Auf der hinteren Deckelplatte ist auf den Stoff mit Bleistift im 19. oder 20. Jh. 876 eingetragen. Ich danke Robert Giel, SBB, für die Möglichkeit, den Buchkasten in Berlin zu untersuchen.
  2. Vgl. die ausführliche Beschreibung bei Michael, Handschrift, S. 66–69. Der Kommentar stützt sich auf die dort vorgetragenen Erkenntnisse.
  3. Zu dem Diptychon vgl. Delbrueck, Consulardiptychen, S. 250–256, Nr. 65; Michael, Handschrift, S. 66ff. Die Inschriften des Diptychons wurden in römischer Kapitalis in Scriptura continua graviert. Auf dem Elfenbein der Vorderseite ist die von einer Tafel gerahmte Inschrift RVFIVS PROBIANVS· V(IR) C(LARISSIMVS)·zu sehen. Auf dem Elfenbein der Rückseite steht oben, ebenfalls von einer Tafel gerahmt, VICARIVS VRBIS ROMAE. Auf der Schriftrolle, die über den Knien des dargestellten Rufius Probianus entrollt ist, stehen die Anfangsworte der kaiserlichen Ernennung: PROBIANE FLOREAS.
  4. Zur Handschrift vgl. Michael, Handschrift, S. 72–84.
  5. Die Angaben gelten sowohl für den Vorder- als auch für den Rückendeckel.
  6. Die Bezeichnung der Schriftart ist hier im Sinne der Buchschrift zu verstehen.
  7. Analecta Hymnica 26, S. 264, Nr. 91 (In 2. Vesperis).
  8. Michael, Handschrift, S. 69 (auch zum Folgenden); Elbern, Buchschrein, S. 94.
  9. Elbern, Buchschrein, S. 99.
  10. Michael, Handschrift, S. 70.
  11. Kat. Münster 2005, S. 159f. ([B.] M[ichael]); Michael, Handschrift, S. 70; Kahsnitz, Psalter, S. 41f.; Elbern, Buchschrein, S. 99.
  12. Elbern, Buchschrein, S. 95.
  13. Kahsnitz, Psalter, S. 249.
  14. Michael, Handschrift, S. 71.
  15. Die Interpretation als Stammbaum wurde von Delbrueck, Consulardiptychen, S. 256, geäußert und später von Elbern, Buchschrein, S. 92f., aufgegriffen.
  16. Michael, Handschrift, S. 69.
  17. Diekamp, Vitae, S. 83.

Nachweise

  1. Rose, Verzeichniss 2,2, S. 875, Nr. 812 (B–D).
  2. Elbern, Buchschrein, S. 91 (B, C).
  3. Michael, Handschrift, S. 69.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 58 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0005806.