Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 44† Dom nach 1275–1288

Beschreibung

Glasfenster. Es befand sich im südlichen Seitenschiff des Chors an der Ostwand und war vermutlich Teil des Maßwerkfensters über dem Kiliansaltar.1) Dargestellt waren König Rudolf von Habsburg auf dem Thron und der Reichsadler. Die Platzierung der Inschrift mit historischer Nachricht und Amtsträgernennung ist nicht ganz geklärt: Nach einem Äbtissinnenkatalog im Stadtarchiv Essen standen die letzten beiden Verse bei einem Adler („circa aquilam simplicem“), die übrigen Verse bei dem Bildnis des thronenden Königs.2) Jodocus Nünning erwähnt nur die Abbildung des Königs und gibt alle sieben Verse durchgängig wieder.3) Der Nachtrag von einer Hand des 17. Jahrhunderts im Liber ordinarius gibt keinen Hinweis auf den König oder den Adler, zitiert aber alle Verse.4) Bei Bucelinus und den Addenda zum Brüsseler Äbtissinnenkatalog fehlen die letzten beiden Verse ganz, die Darstellung Rudolfs wurde vermerkt.5) Vielleicht standen diese Verse nicht direkt unter den ersten fünf Versen, oder sie waren zu einem späteren Zeitpunkt zerstört oder nicht mehr lesbar. 1731 wurde der barocke Hochaltar im Chor aufgestellt und deswegen die Fenster der Ostwand zugemauert.6) Ob das Fenster zu dieser Zeit noch vorhanden war, ist nicht mehr festzustellen.

Nach Liber ordinarius.

Schriftart(en): Gotische Majuskel?7)

  1. Anno millenoa) Domini deciesque vicenoCum sexageno quinto currenteque denoGrex hic combustab) rectricec) fide bene notaForma sub certa fundens in nos sua votaInnovando statum iuris solitum quoque moremNosd) sibi tutorem prefecit adquee) vocatumElegit ritef) nostre perg) tempora viteh)

Übersetzung:

Im Laufe des Jahres des Herrn 1000 und 10 mal 20, dazu 65 und 10 (1275), hat die verbrannte Herde hier durch ihre für ihren Glauben wohlbekannte Vorsteherin ganz formell an uns ihre Wünsche gerichtet und in Erneuerung des gewohnten Rechtsstatus und Herkommens sich uns als Schutzherrn vorangestellt und zum Vogt erwählt für die Dauer unseres Lebens.

Versmaß: Hexameter mit prosodischem Verstoß bei innovando, die Verse 1 und 2 zweisilbig rein zäsur- und endgereimt (‚Unisoni’), die Verse 3 und 4 ein- bzw. zweisilbig rein zäsur- und endgereimt (‚Unisoni’), in den Versen 5 und 6 Zäsur und Versende zweisilbig rein über Kreuz gereimt (‚Cruciferi’), Vers 7 leoninisch zweisilbig rein gereimt.

Kommentar

Die Beschreibung im Äbtissinnenkatalog im Essener Stadtarchiv, wonach die letzten beiden Verse nicht bei den ersten fünf Versen gestanden haben sollen, ist bemerkenswert, da die Verse 3 bis 7 inhaltlich und grammatikalisch zusammengehören, v. a. weil sich die konjugierten Verben in den Versen 6 und 7 auf den ganzen Satz beziehen. Auch das Reimschema der beiden Verse spricht eher gegen eine voneinander entfernte Anbringung. Die Reime sind über Kreuz gereimt. Solche versus cruxiferi finden sich beispielsweise in der im 13. Jahrhundert von Eberhardus Alemannicus verfassten Poetik ‚Laborintus’.8) Auch bei der Darstellung der Jahreszahl als Additions- und Multiplikationsrechnung, die ins Versmaß eingebunden ist, handelt es sich um ein frühes Beispiel, diese Zahlenspielereien fanden im Allgemeinen erst im 14. Jahrhundert weitere Verbreitung.9)

Die Essener Vogtei gelangte ab Mitte des 13. Jahrhunderts in die Hände der Kölner Erzbischöfe.10) Um hierdurch entstehenden Ansprüchen der Amtsnachfolger entgegenzutreten und um zu verhindern, dass Erzbischof Siegfried von Westerburg sich der Vogtei bemächtigte, machte Äbtissin Berta von Arnsberg nach dem Tod des Erzbischofs Engelbert von Falkenburg 1274 von ihrem Wahlrecht Gebrauch und übertrug König Rudolf von Habsburg mit Zustimmung eines Teils des Frauenkapitels die Vogtei. Die Inschrift folgt in einigen Formulierungen und in der Erzählperspektive der Urkunde Rudolfs von Habsburg vom 16. September 1275, in der er die Annahme der Essener Vogtei bestätigt.11) Dort ist im Pluralis majestatis u. a. festgehalten, dass die Äbtissin Berta (von Arnsberg) und ihr Konvent Rudolf in der festgesetzten Form zum Vogt wählten („nos in propitium aduocatum sibi elegerint sub hac forma“), damit er ihnen auf Lebenszeit („ad tempora vite nostre“) vorstehe. Der in der Inschrift genannte status iuris solitus wird sich auf das Recht der freien Vogtwahl beziehen, das Rudolf ausdrücklich bestätigte. Der in Vers 4 untergebrachte Ausdruck forma sub certa bezieht sich sicherlich auf die Art der Wahl.

Erzbischof Siegfried von Westerburg erkannte die Vogtwahl nicht an und ließ sich am 27. Oktober 1275 von zwölf Kanonikerinnen und elf Kanonikern ebenfalls zum Vogt wählen.12) Die Wahl Rudolfs wurde anscheinend nur von der Äbtissin und einer Minderheit innerhalb des Frauenkapitels getragen.13) Siegfried konnte sich insofern teilweise durchsetzen, als dass Rudolf, der in dieser Zeit vor allem mit der Auseinandersetzung mit dem böhmischen König Ottokar II. beschäftigt war, ihn bereits Anfang 1276 mit der Ausübung der Essener Vogtei betraute.14) Nach Siegfrieds vernichtender Niederlage in der Schlacht bei Worringen 1288 allerdings bestimmte Rudolf schließlich Graf Eberhard von der Mark zum Untervogt, wobei er daran erinnerte, dass er selbst von der Äbtissin und dem Kapitel auf Lebenszeit in dieses Amt gewählt worden war.15)

Ob die Initiative zur Herstellung des Fensters von Rudolf selbst oder von der Äbtissin ausging, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, vermutlich lag sie aber bei der Äbtissin. Die Betonung der Wahl Rudolfs zum Vogt ist mehr als eine Bekanntmachung, sie kann vielmehr als Botschaft an Siegfried von Westerburg und seine Unterstützer im Stift verstanden werden. Dann wäre sie ein Hinweis auf die wieder erlangte Königsnähe des Stifts und gleichzeitig eine deutliche Stellungnahme zu Siegfrieds Versuchen, sich der Vogtei zu bemächtigen.16) Die Nähe zum König ist auch in der ebenfalls von Berta von Arnsberg initiierten Anniversarstiftung für Rudolf dokumentiert.17) Vermutlich wurde das Fenster bald nach Rudolfs Wahl in Auftrag gegeben, eine spätere Entstehung in der Zeit bis zur Verleihung der Untervogtei an Eberhard von der Mark 1288 kann aber nicht ausgeschlossen werden, da die Bedrohung der Vogteirechte durch den Kölner Erzbischof zu diesem Zeitpunkt immer noch vorhanden war.

Nach dem in der Inschrift erwähnten Brand der Stiftskirche 1275 begann Berta von Arnsberg mit dem Wiederaufbau des Langhauses und des Chors.18) Die Äbtissin verlieh ihrer Opposition zum Kölner Erzbischof auch hier Ausdruck, indem sie sich mit der Planung einer Hallenkirche nach westfälischem Vorbild für einen Gegenentwurf zur rheinischen Basilika und speziell zum im Bau befindlichen Chor des Kölner Doms entschied.19) Während ihrer Amtszeit wurde u. a. mit der Errichtung des Hallenchores begonnen, dessen Umfassungsmauern nach der Datierung des Glasfensters spätestens 1288 fertiggestellt wurden.20)

Textkritischer Apparat

  1. millesimo Seemann, Bucelinus, KDM Essen.
  2. combustus Nünning.
  3. rectiore Oidtmann.
  4. Sors Nünning, Oidtmann.
  5. Sic! atque] meque Nünning; (in) adque Oidtmann, Zimmermann.
  6. Bei Leenen folgt MOREM.
  7. pro Nünning.
  8. Die letzten beiden Verse fehlen bei Seemann und Bucelinus.

Anmerkungen

  1. Vgl. auch Nr. 45.
  2. StadtA Essen, Rep. 100, Nr. 2601 (ohne Paginierung), danach Oidtmann, Glasmalerei 1, S. 185.
  3. Müller, Geschichtsschreibung, S. 18.
  4. Arens, Liber ordinarius, S. 232, Anm. 1.
  5. Bucelinus, Germania 2, S. 145; Seemann, Aebtissinnen, S. 32f.
  6. Arens, Münsterkirche, S. 28.
  7. In dem Äbtissinnenkatalog im StadtA Essen, Rep. 100, Nr. 2601 (ohne Paginierung) werden die Verse als „antiquo Charactere scripti“ beschrieben.
  8. Klopsch, Einführung, S. 78f.
  9. Vgl. z. B. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 83 (1320), 88 (1343), 97 (1363); DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 189 (1257/1258).
  10. Zum Streit um die Vogtei Geuer, Kampf, S. 111–137; Erkens, Siegfried von Westerburg, S. 143–156; Gerchow, Äbtissinnen, S. 71–78; Büttner, Stiftungspraxis, S. 245–248.
  11. UB Niederrhein 2, Nr. 676 (1275 September 16).
  12. Ennen, Quellen Köln 3, Nr. 116 (1275 November 26).
  13. Erkens, Siegfried von Westerburg, S. 148; Schilp, Binnenstrukturen, S. 43f.
  14. UB Niederrhein 2, Nr. 688 (1276 Februar 4).
  15. Ebd., Nr. 849 (1288 Oktober 25).
  16. Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Vogtei ist auch die um 1300 erfolgte Neuanlage eines Nekrologs zu sehen, vgl. Fischer, Neuanlage, S. 277, 280–283. Fischer konnte zeigen, dass das Fehlen der Todestage der Kölner Erzbischöfe ab Siegfried von Westerburg als Reaktion auf die Auseinandersetzung um die Vogtei zu deuten ist.
  17. Büttner, Stiftungspraxis, S. 245–248; Fischer, Neuanlage, S. 281; Ribbeck, Necrologium, S. 96 mit Anm. 3; Arens, Liber ordinarius, S. 232.
  18. Vgl. Zimmermann, Münster, S. 272.
  19. Lange, Neubau, S. 100.
  20. So auch Zimmermann, Münster, S. 274–278; dagegen Lange, Neubau, S. 101f., der die Fertigstellung des Chors zwischen 1292 und 1297 datiert.

Nachweise

  1. MüA, Hs. 19, fol. 1v.
  2. StadtA Essen, Rep. 100, Nr. 2601 (ohne Paginierung).
  3. Arens, Liber ordinarius, S. 232, Anm. 1 (zur Datierung der Hand vgl. ebd., S. IX).
  4. Seemann, Aebtissinnen, S. 33 (undatierte Addenda zum Brüsseler Äbtissinnenkatalog).
  5. Bucelinus, Germania 2, S. 145.
  6. Oidtmann, Glasmalerei 1, S. 185.
  7. Müller, Geschichtsschreibung, S. 18 (= Nünning).
  8. KDM Essen, S. 55.
  9. Zimmermann, Münster, S. 52.
  10. Leenen, Selbstvergewisserung, S. 293.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 44† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0004402.