Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 23† Werden, St. Ludgerus, ‚Liudgeridenkrypta’ um 1065–um 1080

Beschreibung

Tumba für Gerfrid (gest. 839), Bischof von Münster und Rektor des Klosters Werden. Baumberger Sandstein, vermutlich mit poliertem Stuck, Marmor- oder Kalksinterplatten in Opus sectile verziert.1) Bei den von Wilhelm Effmann 1890 vorgenommenen Grabungen wurden vier aus Baumberger Sandstein bestehende Fragmente der Grabinschrift und der teilweise zerstörte Sarg mit den Gebeinen Gerfrids und einer Steinplatte als Unterlage für den Kopf gefunden.2) Von dem größten Fragment ist eine Abbildung überliefert, die sieben in Kapitalis eingehauene Buchstaben auf einer schmalen, deutlich erhabenen, umlaufenden Randleiste zeigt.3) Auch Jodocus Nünnings Aufzeichnungen belegen, dass die Inschrift am Rand umlaufend eingehauen war.4) Die Buchstabenverteilung mit Zeilentrennung ist durch Nünning überliefert, der auch eine Fehlstelle in der rechten oberen Ecke notiert hat.5) Das Grabgedicht beinhaltet die Aufforderung zum Gebet, ein Totenlob und einen Sterbevermerk. Die Tumba befand sich bis zum Abbruch der vier Grabdenkmäler für Werdener Klostervorsteher aus der Familie der Liudgeriden 1791/92 im Mittelschiff der ‚Liudgeridenkrypta’ im mittleren Joch an der nördlichen Seite.6)

Nach Foto und Text der nicht mehr zugänglichen Fragmente bei Effmann, Ergänzungen nach Nünning.7)

Schriftart(en): Kapitalis.8)

  1. [+ GERFRIDI] / PATRIS · [TVMBAM · VENERARE · FIDELIS · CVIV]S · APVD · DO[MINVM · FORTE ·VIGET ·] M/ERITVM · [IDVS ·SEPTEMB/RIS · PERSOL]VIT · [DEBITA · CARNIS9) ·DEPONENS · MASSAM ·PRIDIE · COR/POREAM]

Übersetzung:

Gläubiger, verehre die Tumba des Vaters Gerfrid, dessen Verdienst beim Herrn stark angesehen ist. Am Tag vor den Iden des September tilgte er die Schulden des Fleisches, indem er die körperliche Masse ablegte.

Versmaß: Zwei elegische Distichen, leoninisch einsilbig rein gereimt.

Datum: 12. September.

Kommentar

Die Inschriften auf den vier Grabtumben der Liudgeriden werden in der Forschung ins 9. Jahrhundert, zeitgenössisch zu den Verstorbenen, oder ins 11. Jahrhundert und damit in den Zusammenhang des Kryptenumbaus durch Abt Adalwig (gest. um 1080) gestellt.10) Das einzige durch ein Foto11) überlieferte Fragment der Grabinschrift für Gerfrid kann nur begrenzt zur Klärung der Datierung beitragen. Da sich die karolingischen Inschriften des 9. Jahrhunderts an den Formen der antiken römischen Kapitalis orientiert haben,12) ist zu prüfen, ob dies auch für die Buchstaben auf dem Fragment zutrifft. Das Foto zeigt die Buchstaben S APVD DO mit wohl halbkugelig vertieften Worttrennern. A ist schmal gestaltet und mit einem kurzen Deckstrich ausgestattet. Beim zweiten D ist der Schaft leicht gebogen. Der Bogen des P reicht oben links leicht über den Schaft hinaus und steigt dabei leicht an, so dass der Eindruck entsteht, als ob der Bogen leicht eingedellt sei. Sein Durchmesser ist größer als die halbe Schafthöhe. Diese Proportion entspricht nicht dem klassischen römischen P und ist in karolingischen Inschriften so nicht zu finden, dort ist der Bogen meist eher kleiner als die halbe Schafthöhe.13) Die kleine Einbuchtung ist zwar z. B. auch in der Inschrift des Epitaphs für Bischof Ansegisus (um 880) zu sehen,14) kommt aber auch später häufig vor, im 11. Jahrhundert z. B. an einem Bronzekruzifix im Mindener Dom.15) Obwohl die Kante des Fragments deutlich vor dem S abbricht, ist das vorhergehende V nicht zu erkennen. Das S ist leicht nach links geneigt, der untere Bogen ist etwas größer als der obere. S ist somit nicht symmetrisch, wie es für eine karolingische Inschrift zu erwarten wäre. Außer der in karolingischen, aber auch in späteren Inschriften vorkommenden Linksschrägenverstärkung lassen sich auf dem Foto keine Charakteristika erkennen, die eine Orientierung der Inschrift an der antiken Kapitalis erkennen lässt. Somit weist der paläographische Befund eher auf eine Ausführung der Inschrift im 11. Jahrhundert hin.

Das Fragment gehörte dem Anschein nach zu einer Platte mit erhöhter Randleiste und umlaufend eingehauener Inschrift. Diese Gestaltung von Grabplatten findet erst im 11. Jahrhundert Verbreitung,16) davor sind Grabinschriften meist zeilen- oder kreuzweise angeordnet. Das Sandsteinfragment gehört demnach vermutlich zu der im 11. Jahrhundert von Adalwig in Auftrag gegebenen Tumba. Das immer wieder beschriebene marmorartige Aussehen der Tumben wurde möglicherweise durch eine Verkleidung in Opus sectile aus poliertem Stuck oder Kalksinterplatten erzeugt.17)

In der Münsteraner Historiographie wird die Inschrift um zwei bzw. vier Verse erweitert mitgeteilt.18) Diese Verse waren aber nicht Bestandteil der Grabinschrift, sondern wurden neben zahlreichen anderen Epigrammen in die Chronik des Münsteraner Bischofs Florenz von Wevelingshoven (gest. 1378) aufgenommen und später unkommentiert an die Grabinschrift angehängt.19) Hermann Stangefol überliefert im direkten Anschluss an die Grabinschrift vier Verse.20)

In allen vier Tumbeninschriften für die Liudgeriden wird die Trennung der Seele vom Leib durch den Tod angesprochen, wobei für die Formulierungen auf verbreitete Wendungen zurückgegriffen wurde.21) Der Hinweis auf die Loslösung vom Fleisch entspricht der aus der Antike übernommenen frühmittelalterlichen Vorstellung vom Körper als der Hülle, dem Gefäß oder auch Gefängnis der Seele, von dem diese durch den Tod befreit wird.22) Besonders in den Inschriften für Gerfrid (die Schulden des Fleisches, die körperliche Hülle oder Masse) und für Altfrid (Asche) klingt die Geringschätzung des Körpers an. In den Inschriften für Thiadgrim und Altfrid wird der Gegensatz betont zwischen der Seele, die in den Himmel zu Gott zurückkehrt, und dem Körper, der in der Erde bzw. der Asche zurückbleiben muss. Auch dies entspricht antiken Vorstellungen, die trotz des christlichen Glaubens an die Auferstehung des Fleisches im Christentum übernommen wurden und häufig in Inschriften des Totengedenkens begegnen.23)

Gerfrid wurde als Neffe des heiligen Liudger von diesem erzogen und trat nach dessen Tod 809 seine Nachfolge als Bischof von Münster an.24) Ab 819 wurde er gemeinsam mit seinem Onkel Hildegrim als Rektor des Klosters Werden genannt. Er wurde zwar nicht wie Hildegrim als Heiliger bezeichnet, sein Verwandter Alfrid berichtete aber über die Heilung eines Blinden durch den Bischof,25) zudem soll in Werden seine Vita vorhanden gewesen sein.26) Wie Hildegrim wurde er von Gregor Overham (gest. 1687) in seinen Annalen als „beatus“ bezeichnet.27) Laut der Inschrift starb Gerfrid am 12. September 839, sein Todestag wird allerdings in verschiedenen Nekrologien unterschiedlich angegeben.28)

Anmerkungen

  1. Zu Material und Gestaltung der vier Grabtumben für die Liudgeriden vgl. Nr. 22, Anm. 2.
  2. Effmann, Bauten 1, S. 56. Die Fragmente enthielten Teile des ersten (PATRIS), zweiten ([…]S APVD DO[. . .], MERITVM) und dritten ([...]VIT) Verses. Sie wurden wieder an Ort und Stelle vergraben, vgl. Strecker, Studien, S. 210, Anm. 4.
  3. Effmann, Bauten 1, S. 10, Abb. 4.
  4. Zur Anordnung der Verse auf der Oberfläche der Tumbenplatten vgl. Nr. 22, Anm. 3.
  5. LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 1134; ebd. 943; ebd. 975.
  6. Zu diesen Tumben vgl. Nr. 22, 24, 25. In der ‚Liudgeridenkrypta’, die sich nordöstlich der ‚Liudgeruskrypta’ befindet, wurde ein weiterer geistlicher Verwandter und Werdener Vorsteher, Hildegrim d. J., bestattet, vgl. Nr. 97.
  7. LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 1134, ebd. Nr. 943. Nünning liefert nicht die älteste Überlieferung der vier Tumbeninschriften, seine Hinweise auf Schriftart, Abkürzungen, Zeilenumbrüche und Fehlstellen belegen aber eine größere Genauigkeit als frühere Überlieferungen.
  8. Nach Nünning „litter[ae] major[es]“ (im Manuskript durchgestrichen) bzw. „litter[ae] roman[ae]“ (dazu ergänzt).
  9. Persolvit debita mortis DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 46; naturae solvebat debita durae vgl. Nr. 54; persolvit debita carnis DI 6 (Naumburg 1), Nr. 33. Vgl. außerdem Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. L. Weiland, MGH SS 23, S. 81,30) (zum Tod Hildegrims d. J. „debitum carnis persolvit“).
  10. Vgl. Nr. 22.
  11. Effmann, Bauten 1, S. 56, Fig. 24.
  12. Scholz, Neuenheerse, S. 144.
  13. Vgl. z. B. die Grabplatte der Äbtissin Walburg bei Scholz, Neuenheerse, Abb. 1.
  14. CIMAH 2, Nr. 51, auch bei Scholz, Neuenheerse, Abb. 4.
  15. DI 46 (Stadt Minden), Nr. 8. Dieses Detail tritt mit der zunehmenden Flächigkeit der Majuskelbuchstaben ab dem 12. Jh. häufig auf.
  16. Vgl. z. B. DI 11 (Stadt Merseburg), Nr. 3. In den Inschriftencorpora DI, CIFM und CIMAH sind keine Grabplatten mit umlaufender Inschrift aus dem 9. Jh. überliefert.
  17. Vgl. Nr. 22.
  18. „Isti Gherfridum sedi gerit ordo secundum /moribus atque fide comitaris eum Gherfride“, vgl. Kohl, GS Münster 7,3; Bücker, Epigramme, S. 429; weitere Verse auch bei Stangefol, Annales, S. 133: „Sequitur in Episcopatu nepos Alfridus vir, Magnae humilitatis et devotionis“.
  19. Ficker, Chroniken, S. 7; die Zusammenfügung durch Lambert von Corfey (gest. 1733) bei Janssen, Chroniken, S. 293f.
  20. Stangefol, Annales 2, S. 133.
  21. Vgl. Nr. 22, 24, 185.
  22. Angenendt, Theologie, S. 99ff.
  23. Ebd., S. 104f. Vgl. Nr. 24.
  24. Zu seiner Vita vgl. Kohl, GS Münster 7,3, S. 24–27.
  25. Diekamp, Vitae, S. 40.
  26. Ficker, Chroniken, S. 7.
  27. Overham, Annalen, S. 47. Bei Cincinnius, Vita Ludgeri, vor Kap. 49, werden alle fünf Werdener Vorsteher aus der Familie der Liudgeriden als „sanct[i] et venerabil[es]“ bezeichnet.
  28. Jostes, Kalender, S. 149 (10. September); Westfäl. UB Suppl., Nr. 220 (aus dem Merseburger Nekrolog), dazu Althoff, Adels- und Königsfamilien, S. 191f., 322, Nr. B 119 (13. September); Urbare A, S. 343 (12. September).

Nachweise

  1. Anonymus, Annales, S. 55.
  2. Brouwer, Vita, S. 91.
  3. Gelenius, De magnitudine Coloniae, S. 721.
  4. Stangefol, Annales 2, S. 133.
  5. Bucelinus, Germania 2, S. 308.
  6. StA Wolfenbüttel, VII B Hs 94, S. 94 (= Overham, Annalen, Seite 48; dort nur der Anfang der Inschrift).
  7. HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 64.6 Helmst., fol. 35r, 61r.
  8. BNF, Fonds latin, Nr. 12703, fol. 218v/213v.
  9. StA Wolfenbüttel, VII B Hs 92, fol. 55v.
  10. BSBM, Cgm 2213 (Slg. Redinghoven) 6, fol. 297v; 31, fol. 538r, 539r.
  11. Martène/Durand, Voyage 2, S. 235.
  12. Janssen, Chroniken, S. 293f.
  13. LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 943.
  14. ebd., Nr. 494.
  15. ebd., Nr. 975.
  16. ebd., Nr. 1134, mit Skizze (alle ohne Paginierung).
  17. HAStK, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen) 184, fol. 176r.
  18. HStAD, Kloster Werden, Akten II c 2, fol. 8r.
  19. Kleinsorgen, Kirchengeschichte 1, S. 292.
  20. KDM Essen, S. 97.
  21. Jacobs, Pfarreien 1, S. 22.
  22. Kraus, Inschriften 2, S. 291, Nr. 630,2.
  23. Effmann, Bauten 1, S. 54, Anm. 4.
  24. MGH Poetae 4, hg. v. K. Strecker, S. 1039.
  25. Korte, Geschichte, S. 14.
  26. Bücker, Epigramme, S. 429, mit Übersetzung – Hauck, Geist, S. 26, Nr. 4.
  27. Wallmann, Neuausstattung, S. 11.
  28. ders., Tumba, S. 219.
  29. Kohl, GS Münster 7,3, S. 27.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 23† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0002303.