Inschriftenkatalog: Stadt Essen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 81: Stadt Essen (2011)
Nr. 22† Werden, St. Ludgerus, ‚Liudgeridenkrypta’ um 1065–um 1080
Beschreibung
Tumba für Hildegrim (gest. 827), Bischof von Châlons und Rektor des Klosters Werden. Vermutlich wie die Fragmente der Tumbenplatte für Gerfrid aus Baumberger Sandstein,1) möglicherweise mit Stuck, Marmor- oder Kalksinterplatten verkleidet.2) Das Grabgedicht beinhaltet einen Sterbevermerk, eine Grabbezeugung und ein Totenlob. Es war am Rand umlaufend in die Plattenoberfläche eingehauen.3) Die Tumba befand sich bis zum Abbruch der vier Grabdenkmäler für Werdener Klostervorsteher aus der Familie der Liudgeriden 1791/92 im Mittelschiff der ‚Liudgeridenkrypta’ im mittleren Joch an der südlichen Seite.4)
Nach Nünning.5)
Schriftart(en): Kapitalis.6)
+ IVLII · TREDECIMIS · RESOLVTVS · CARNE7) · KALENDIS ·HILDGRIMVS · TVMVLO · CLAVDITVR8) · APPOSITOa) ·FRATER · LIVDGERI · COEPISCOPVS · ATQVE · BEATI ·COMPAR · HVIC · MERITIS · SICVT · IN · OFFICIIS
Übersetzung:
Am 13. Tag vor den Kalenden des Juli, vom Fleische befreit, wird Hildegrim, der Bruder und Bischofskollege des heiligen Liudger, diesem vergleichbar an Verdiensten und Amtspflichten, in diesem errichteten Grab eingeschlossen.
Versmaß: Zwei elegische Distichen, leoninisch einsilbig rein gereimt.
Datum: 19. Juni.
Textkritischer Apparat
- opposito Anonymus.
Anmerkungen
- Vgl. Nr. 23, 24, 25.
- Die Tumben der Liudgeriden werden von Nünning als „sepulchr[a] marmore[a]“ und „e terra […] elevata“ bezeichnet, vgl. LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 943. Overham, Annalen, S. 47 beschreibt Hildegrims Grabstätte als „tumba marmorea porphyritica temporum iniuria non parum deformata“. Er benutzt diese Materialbezeichnung auch für die von Abt Adalwig gestifteten, aus Kalksinter bestehenden Säulen, vgl. ebd., S. 75; zu den Säulen vgl. Nr. 26. Der Werdener Mönch F. C. L. Meyer bezeichnet das Material der Tumben als „Achat“, vgl. Meyer, Nachrichten, S. 13. Vgl. auch Wallmann, Neuausstattung, S. 9ff.; Effmann, Bauten 1, S. 106ff. Zur Diskrepanz zwischen dem Material der Fragmente und den Beschreibungen vgl. Nr. 23.
- Nünning hat in einer groben Skizze die Aufteilung der Inschriften auf Randleisten der Tumbenplatten von Gerfrid und Thiadgrim festgehalten, außerdem teilt er mit, dass die „[sepulchra] carmina habent in superficie circumscripta […]”, vgl. LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 943.
- Zu diesen Tumben vgl. Nr. 23, 24, 25; zum Zeitpunkt des Abbruchs vgl. Wallmann, Neuausstattung, S. 7. In der ‚Liudgeridenkrypta’, die sich nordöstlich der ‚Liudgeruskrypta’ befindet, wurde ein weiterer Verwandter und Werdener Vorsteher, Hildegrim d. J., bestattet, vgl. Nr. 97.
- LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 1134, ebd. Nr. 943. Nünning liefert nicht die älteste Überlieferung der vier Tumbeninschriften, seine Hinweise auf Schriftart, Abkürzungen, Zeilenumbrüche und Fehlstellen belegen aber eine größere Genauigkeit als frühere Überlieferungen.
- Nach Nünning „litter[ae] major[es]“ (im Manuskript durchgestrichen) bzw. „litter[ae] roman[ae]“ (dazu ergänzt).
- Die Junktur ‚(re)solutus carne’ war weitverbreitet, vgl. z. B. Augustinus, Contra adversarium 1,699 (hg. v. K.-D. Daur, CCSL 49), Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica 5, 7,1 (hg. v. M. Lapidge, SChr 491), in Grabinschriften z. B. für Abt Adalhard von Corbie (gest. 826): „Nam post octavas Domini hic carne solutus (…)”, vgl. Sancti Adalhardi Epitaphium (Migne, PL 105, Sp. 549); für Notker Balbulus (gest. 912) „(…) Idibus octonis hic carne solutus Aprilis (…)“, vgl. Kraus, Inschriften 2, S. 19, Nr. 37.
- Die Junktur ‚claudere’ und ‚tumulus’ z. B. in DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 19, als Halbvers „clauditur hoc tumulo“ häufig belegt, vgl. DI 11 (Stadt Merseburg), Nr. 3; Walther, Initia, Nr. 2864–2866a, 2869; Schaller/Könsgen, Initia, Nr. 2384–2387; DI 31 (Aachen Dom), Nr. 16; Schaller/Könsgen, Supplementband, Nr. 2381, 2384–2388.
- Das Problem der zeitlichen Einordnung wird erstmals von Strecker, Studien, S. 209, angesprochen. Wie er setzt ein Großteil der Forschung die Verse ins 9. Jh., allerdings wird die Datierungsfrage selten thematisiert, so z. B. bei Stüwer, GS Werden, S. 298ff.; Kohl, GS Münster 7,3, S. 27, 30. Ausdrücklich für das 9. Jh. sprechen sich u. a. Strecker in MGH Poetae 4, S. 1038ff.; Hauck, Werke, S. 363 und Päffgen, Gräber, S. 225, aus. Wallmann, Neuausstattung, S. 7–11, versammelt erstmals Argumente für die Entstehung im 11. Jh.
- Bayer, Entwicklung, S. 120.
- Zu Sedulius und Venantius Fortunatus vgl. Strecker, Studien, S. 216f.; allgemein zum Reim in mittellateinischen Versen Klopsch, Einführung, S. 39–45; Bayer, Entwicklung, S. 113–124.
- Strecker, Studien, S. 222f., vgl. besonders MGH Poetae 1, hg. v. E. Dümmler, S. 616f.
- Vgl. z. B. DI 31 (Aachen Dom), Nr. 6 (um 800), 13 (10. Jh.?); DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis), Nr. 2 (um 850), 3 (975–1011?); DI 51 (Stadt Wiesbaden), Nr. 1 (565?); DI 60 (Rhein-Hunsrück-Kreis 1), Nr. 4 (5.–1. H. 6. Jh.?); je ein leoninisch einsilbig rein gereimtes Distichon und ein Hexameter aber in DI 38 (Landkreis Bergstraße), Nr. 3 (2. H. 9. Jh.), je ein leoninisch einsilbig rein gereimter Hexameter in CIMAH 4, Nr. 5 (um 900), 6 (1. H. 10. Jh.).
- Vgl. Strecker, Studien, S. 216f.; Klopsch, Einführung, S. 42, 76f.
- Isenberg, Bauten, S. 259.
- Strecker, Studien, S. 236ff., 243–247; das Gedicht an Ebo von Reims: MGH Poetae 1, hg. v. E. Dümmler, S. 623f.; vgl. auch Klopsch, Einführung, S. 42f., 76f.
- So auch Korte, Geschichte, S. 14.
- Wallmann, Neuausstattung, S. 11.
- Vgl. Nr. 26.
- Vgl. hierzu Nr. 23.
- Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. L. Weiland, MGH SS 23, S. 73–129).
- Zu den Bestandteilen des 10. Jh. Jäschke, Bischofschronik, passim, besonders S. 182.; Schlochtermeyer, Bistumschroniken, S. 82ff.; Grieme, Aussagekraft, S. 185ff.; Vogtherr, Gründung, S. 91f.
- Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. L. Weiland, MGH SS 23, S. 79,16, S. 81,30).
- Vgl. Effmann, Bauten 1, S. 106. Roskamp, Catalogus, S. 9, berichtet: „Credibile etiam est illum monumentum cognatorum sancti Ludgeri in crypta renovari fecisse et ita exornari“.
- REK 1, Nr. 868 (1059 Januar 21); Duden, Historia, S. 21; Effmann, Bauten 1, S. 63; Zimmermann, Rekonstruktion, S. 51, 70 mit Anm. 114; Schaefer/Claussen, Funde, S. 317ff.
- Obwohl die Erweiterung der Krypten durch Gero durch die Altarweihen belegt ist, berichtet Adolf Overham davon, dass Adalwig die Krypta „a fundamento aedificavit“, vgl. Effmann, Bauten 1, S. 73. Zu dieser Problematik vgl. Schaefer/Claussen, Funde, S. 318.
- Effmann, Bauten 1, S. 123–128; vgl. auch Nr. 26.
- Wallmann, Tumba, S. 220–231.
- Effmann, Bauten 1, S. 56.
- Vgl. Nr. 23.
- In den Inschriftencorpora DI, CIFM und CIMAH sind keine Grabplatten mit umlaufender Inschrift aus dem 9. Jh. überliefert.
- Wallmann, Tumba, S. 218f.
- Rüber-Schütte, Stuckarbeiten, S. 334–338, besonders S. 337.
- Effmann, Bauten 1, S. 107f.
- Zu dieser Technik vgl. Nr. 42.
- Isenberg, Bauten, S. 260; Schaefer/Claussen, Funde, S. 323f.
- Ebd.
- Effmann, Bauten 1, S. 57f. Gerfrids Gebeine, die nach dieser These ebenfalls nachträglich umgebettet worden sein müssten, befanden sich in situ in einem Steinsarg. Dies lässt sich leicht damit erklären, dass nicht die Gebeine, sondern der ganze Sarg mit den Gebeinen umgebettet wurde; vgl. Nr. 23.
- Päffgen, Gräber, S. 223; zum Bestattungsort von Bischöfen Schieffer, Grab, besonders S. 18ff.; weitere Beispiele bei Gierlich, Grabstätten, S. 396f.
- Diekamp, Vitae, S. 3–53. Die Wundergeschichten sind im zweiten Buch geschildert, S. 39–53.
- Diekamp, Vitae, S. 38, 40.
- Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. L. Weiland, MGH SS 23, S. 80).
- Ficker, Chroniken, S. 7.
- Bei Cincinnius, Vita Ludgeri, vor Kap. 49, werden alle fünf Werdener Vorsteher aus der Familie der Liudgeriden als „sanct(i) et venerabil(es)“ bezeichnet.
- Vgl. Nr. 73, 180. Zu erneuerten Inschriften vgl. Favreau, Inscriptions, S. 45f.
- Stüwer, GS Werden, S. 298f.; Röckelein, Halberstadt, S. 65f.; Vogtherr, Gründung, S. 97.
- Eine Urkunde von 819 nennt beide als „rectores“, vgl. Blok, Oorkonden, Nr. 39 (819). Zu der von Hildegrim in Auftrag gegebenen Stephanskirche in Werden vgl. Einleitung 6. 5.
- Vgl. Röckelein, Halberstadt, S. 68f.
- REK 1, Nr. 144 (819–827).
- Vgl. auch Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. L. Weiland, MGH SS 23, S. 80).
Nachweise
- Anonymus, Annales, S. 53.
- Brouwer, Vita, S. 90.
- Bucelinus, Germania 2, S. 308.
- StA Wolfenbüttel, VII B Hs 94, S. 87 (= Overham, Annalen, S. 47, dort nur der Anfang der Inschrift).
- HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 64.6 Helmst., fol. 35r, 61r.
- BNF, Fonds latin, Nr. 12703, fol. 213/218v.
- StA Wolfenbüttel, VII B Hs 92, fol. 55r.
- BSBM, Cgm 2213 (Slg. Redinghoven) 6, fol. 297v; 31, fol. 538r, 539r.
- LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 943.
- ebd., Nr. 494.
- ebd., Nr. 975 (alle drei ohne Paginierung).
- HStAD, Kloster Werden, Akten II c 2, fol. 8r.
- Leibniz, Werke 1,1, S. 378.
- Martène/Durand, Voyage 2, S. 235.
- HAStK, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen) 184, fol. 176r.
- Jacobs, Pfarreien 1, S. 21.
- KDM Essen, S. 97.
- Kraus, Inschriften 2, S. 291, Nr. 630,1.
- Effmann, Bauten 1, S. 54, Anm. 4.
- MGH Poetae 4, hg. v. K. Strecker, S. 1039.
- Korte, Geschichte, S. 14.
- Hauck, Werke, S. 363, Anm. 87.
- Rüschen, Hildigrim, S. 90.
- Schmid, Liudgeriden, S. 92.
- Hauck, Geist, S. 26, Nr. 3.
- Wallmann, Neuausstattung, S. 12 (emendiert).
- ders., Tumba, S. 219 (emendiert).
- Kohl, GS Münster 7,3, S. 17.
- Päffgen, Gräber, S. 225.
Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 22† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0002206.
Kommentar
Die vier Grabinschriften für die Liudgeriden werden entweder ins 9. oder ins 11. Jahrhundert eingeordnet, weshalb im Folgenden die Frage der Datierung besonders zu berücksichtigen sein wird.9) Der in allen vier Tumbeninschriften vorwiegend verwendete leoninische, einsilbig reine Reim fand besonders ab der Mitte des 11. Jahrhunderts starke Verbreitung, auch in Inschriften.10) Verse mit reinen oder assonierenden Reimen begegnen zwar schon vereinzelt bei antiken Dichtern und wurden z. B. von Sedulius (5. Jahrhundert), Venantius Fortunatus (gest. um 600),11) Smaragdus von St. Mihiel (Anfang 9. Jahrhundert)12) und auch in Inschriften13) eingesetzt, in allen Fällen aber in Kombination mit weiteren, reimlosen Versen.14) Karl Strecker, der das Problem der Datierung der Werdener Tumbeninschriften als Erster ansprach, begründete seine Datierung der Grabinschriften ins 9. Jahrhundert mit den Baubefunden Wilhelm Effmanns. Da dessen Chronologie der Baumaßnahmen im Kryptenbereich aber teilweise widerlegt wurde,15) kann sie die Datierung der Tumben ins 9. Jahrhundert nicht weiter stützen. Strecker konnte seine These allerdings auch durch weitere frühe Gedichte mit reinen leoninischen Reimen aus Nordfrankreich und St. Gallen untermauern, dabei weist er besonders auf die 46 reinen leoninischen Reime hin, die Petrus von Hautvillers an Ebo von Reims (gest. 851) richtete.16)
Die einheitliche formale Gestaltung der Verse und die inhaltlichen Übereinstimmungen legen jedenfalls eine gleichzeitige Entstehung aller vier Grabinschriften nahe.17) Peter Wallmann hat darüber hinaus versucht, die Reime der Grabinschriften mit denen der vier Verse auf den von Abt Adalwig (gest. um 1080) gestifteten Säulen in Beziehung zu setzen und daraus vorsichtig auf einen möglichen gemeinsamen Verfasser zu schließen.18) Hier ist allerdings zu bedenken, dass die Säuleninschriften zweisilbig rein gereimt sind und damit eine andere Reimqualität aufweisen als die Tumbeninschriften.19 Es bleibt festzuhalten, dass die Reimqualitäten der vier Grabinschriften besser ins 11. als ins 9. Jahrhundert passen. Im Hinblick auf die von Strecker angeführten Vergleichsbeispiele ist es jedoch nicht möglich, eine frühere Entstehung nur aufgrund der Reime auszuschließen.
Neben den formalen Kriterien weisen die vier Tumbeninschriften auch inhaltlich große Übereinstimmungen auf: Alle vier enthalten eine Grabbezeugung bzw. den Hinweis auf eine Tumba, den Todestag, Hinweise auf die Trennung von Körper und Seele durch den Tod20) und die Verdienste des Verstorbenen. Erwähnenswert, aber vielleicht dem Zufall geschuldet ist die Verwendung von zwei (allerdings weitverbreiteten) Junkturen aus den Grabinschriften von Hildegrim und Gerfrid in den Gesta episcoporum Halberstadensium.21) Die Gesta wurden wohl um 1209 auf Grundlage von z. T. am Ende des 10. Jahrhunderts verfassten Vorlagen redigiert.22) Mit ‚carne solutus’ und ‚debita carnis solutus’ werden dort der Tod Karls des Großen und des Halberstädter Bischofs und Werdener Vorstehers Hildegrim des Jüngeren ausgedrückt.23) Da es sich aber um allgemein verbreitete Wortverbindungen handelt und zudem nicht auszuschließen ist, dass die betreffenden Stellen in den Gesta nach dem 11. Jahrhundert formuliert wurden, sollen diese Übereinstimmungen lediglich Erwähnung finden, ohne dass sie als Datierungshilfen herangezogen werden.
Als Erbauer der Tumben nennt Adolf Overham (gest. 1686) den Werdener Abt Adalwig.24) Bereits einer von dessen Vorgängern, Abt Gero (gest. 1063), ließ die ‚Liudgeruskrypta’ zu einer Ringkrypta und die ‚Liudgeridenkrypta’ zu einer dreischiffigen Hallenkrypta mit drei Altären erweitern, außerdem erhob er die Gebeine des heiligen Liudger in einen Sarkophag.25) Adalwig ließ für die Gebeine des Heiligen schließlich einen vergoldeten Schrein hinter dem Hochaltar aufstellen, die Tumben der Liudgeriden errichten, die ‚Liudgeridenkrypta’26) renovieren und mit einem Mosaikfußboden schmücken.27) Wallmann hat gezeigt, dass die Umbauten im Kryptenbereich während der Regierungszeit Geros und die Anfertigung der Tumben im Auftrag von Adalwig den Versuch darstellen, die Memoria der Liudgeriden zu sichern, die ersten Vorsteher des Klosters durch die Betonung ihrer Verdienste weiter aufzuwerten und damit im besten Fall als Heilige zu etablieren.28) Die Erweiterung der ‚Liudgeridenkrypta’ ermöglichte Pilgern einen leichteren Zugang zu den Gräbern, und die Tumben aus kostbarem Material unterstrichen den besonderen Status der dort Bestatteten.
Das Material der Tumben wird in allen Quellen als polierfähiger Stein wie z. B. Marmor oder Achat beschrieben. Deshalb ist beachtenswert, dass bei den in den 1890er Jahren von Effmann durchgeführten Grabungen Fragmente aus Baumberger Sandstein mit eingehauenen Kapitalisbuchstaben gefunden wurden, die auf eine Platte mit umlaufend eingehauener Inschrift hinweisen.29) Der Buchstabenbestand konnte als Teil des Textes identifiziert werden, der in die Deckplatte der Tumba Bischof Gerfrids eingehauen war.30) Grabplatten mit am Rand umlaufender Inschrift sind für das 9. Jahrhundert nicht überliefert, sie kommen erst ab dem 11. Jahrhundert zunehmend in Gebrauch.31) So ist anzunehmen, dass diese Fragmente Teile der von Adalwig in Auftrag gegebenen Tumben waren. Wallmann erklärt die Diskrepanz zwischen dem vorgefundenen Sandstein und dem einstimmig beschriebenen polierfähigen Kalkstein, Kalksinter, Marmor oder Achat mit der Möglichkeit, dass die Tumben aus Sandstein hergestellt und mit Stuck und/oder Alabasterplatten verziert wurden.32) Die Technik der Stuckverkleidung wurde beispielsweise im 11. Jahrhundert für eine Tumba in der Stiftskirche in Walbeck im Bistum Halberstadt eingesetzt.33) Für diese Tumba wird vermutet, dass der Stuck „eine Imitation edler Steine wie Porphyr und Marmor“ sein könnte. Effmann berichtet von kleinen, plattenförmigen Kalksinterstücken, die bei den Grabungen in der Krypta gefunden wurden.34) Es kann angenommen werden, dass die Tumben zwar aus Sandstein bestanden, aber mit Stuck oder Kalksinter, zusammengesetzt zu Opus sectile, verkleidet waren.35)
Die Ausgrabungsbefunde zu den Gräbern, das beschriebene und vorgefundene Material der Tumben, die metrische Gestaltung der Verse und nicht zuletzt der Hinweis Overhams auf Abt Adalwig als Erbauer legen die Entstehung der Tumben und der Verse im 11. Jahrhundert nahe. Trotzdem soll auch die erste Anlage der Liudgeridengräber kurz beleuchtet werden, schließlich wurden und werden die Inschriften in der Literatur immer noch überwiegend dem 9. Jahrhundert zugeordnet.
Die ‚Liudgeridenkrypta’ als Bestattungsort für die geistlichen Verwandten des Klostergründers Liudger wurde im Zuge des Baus der zweiten Klosterkirche, begonnen unter Altfrid (gest. 849), einem Neffen Liudgers, errichtet.36) Die neue Kirche integrierte das Heiligengrab, das bislang auf Wunsch Liudgers außerhalb des Chors lag, in die Krypta, der in nordöstlicher Richtung eine Kammer als Grabstätte für die Liudgeriden angeschlossen wurde. Auf Altfrid als Erbauer weisen sein hervorgehobener Bestattungsplatz und der seines Vorgängers Thiadgrim hin, die sich näher am Grab des heiligen Liudger befinden als die Gräber ihrer beiden Vorgänger.37) An der Stelle, an der sich nach einem Plan der Krypta aus dem 18. Jahrhundert das Grab Hildegrims befand, wurde ein leerer Bruchsteinsarg gefunden. Seine Maße (L. 120, B. 38, H. 18 cm) lassen darauf schließen, dass die Gebeine nachträglich darin bestattet wurden.38) Mit dem Bau der Krypta als Grablege für seine Vorgänger und Verwandten bemühte sich Altfrid nachdrücklich um die Sicherung ihrer Memoria. Durch die Wahl seines Bestattungsplatzes konnte er aber auch davon ausgehen, dass für seine eigene Memoria gesorgt wurde. Es war für das 9. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, dass sich die Liudgeriden und der heilige Liudger selbst als Bischöfe von Münster, Châlons und Halberstadt nicht in ihren Kathedralkirchen bestatten ließen, sondern in dem zu dieser Zeit als liudgeridische Eigenkirche zu verstehenden Kloster Werden.39)
Neben dem Bau der Krypten war Altfrid bemüht, die Heiligkeit des Klostergründers und die mindestens verehrungswürdigen Verdienste seiner Verwandten Hildegrim und Gerfrid auch schriftlich zu überliefern. Er verfasste die erste Vita für Liudger, in der er dessen Leben und die von ihm gewirkten Wunder beschrieb, darunter einige, die sich posthum an seinem Grab ereigneten.40) Auch Hildegrim und Gerfrid werden in der Vita erwähnt, Hildegrim als Verantwortlicher für die Überführung der Gebeine Liudgers von Münster nach Werden, Gerfrid im Zusammenhang mit einer Blindenheilung.41) Altfrids Bemühungen war insofern Erfolg beschieden, als dass Hildegrim in den Gesta episcoporum Halberstadensium als Heiliger verehrt wurde.42) Für Gerfrid wird von einer verlorenen Vita berichtet.43) Weitere Hinweise auf eine Verehrung als Heilige finden sich erst wieder in der Werdener Geschichtsschreibung ab dem 16. Jahrhundert.44)
Es ist davon auszugehen, dass auch die ersten Grabmäler der Liudgeriden mit Inschriften ausgestattet waren, die sicherlich auch die Verdienste der Verstorbenen hervorgehoben haben. Zwar gibt es Beispiele für die Wiederverwendung von Inschriftentexten oder die Erneuerung von Inschriften,45) im Fall der Grabinschriften der Liudgeriden ist davon aber nicht auszugehen, weil alle Indizien auf eine Entstehung der Inschriftentexte im 11. Jahrhundert hindeuten.
Hildegrim, seit etwa 802 Bischof von Châlons, gründete im Zuge der Ostsachsenmission gemeinsam mit dem heiligen Liudger, seinem älteren Bruder, die Kirche in Halberstadt.46) Nach Liudgers Tod 809 übernahm er die Leitung des Klosters Werden, die er später gemeinsam mit seinem Neffen Gerfrid ausübte.47) Zudem stand er dem Kloster Helmstedt vor, von dem angenommen wird, dass es ebenfalls von den Liudgeriden gegründet wurde.48) In Werden ließ er südlich neben der ersten Abteikirche die Stephanskirche erbauen.49) Hildegrim starb am 19. Juni 827.50)