Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 20 Domschatzkammer 1039–1058

Beschreibung

Prachteinband des Theophanu-Evangeliars.1) Holz, Goldblech getrieben, Elfenbein, Steine, Filigran. Im Zentrum befindet sich eine Elfenbeintafel, auf der in drei Registern übereinander Christi Geburt, Kreuzigung und Himmelfahrt dargestellt sind. Sie ist von einem breiten Rahmen aus Goldblech mit getriebenen Figuren und Edelsteinborten, die den Rahmen in vier trapezförmige Flächen unterteilen, umgeben. Im oberen Feld thront Christus als Weltenherrscher in der Gloriole, begleitet von zwei Engeln. In den seitlichen Feldern stehen sich in übereinander gesetzten Arkaden die Apostel Petrus und Paulus gegenüber, darunter die Stiftspatrone Cosmas und Damian. Petrus hält zwei Schlüssel in der Hand, deren erhaben getriebene Bärte seinen Namen bilden (A). Paulus hält ein Spruchband, auf dem sich eine kaum noch zu erkennende eingeritzte Namensbeischrift (B) befindet. Im unteren Feld thront Maria mit dem Jesuskind unter einem Baldachin. Links und rechts von ihr stehen die durch erhaben getriebene Namensbeischriften (C, D) bezeichneten Heiligen Pinnosa und Waldburg, zu ihrer Rechten Äbtissin Theophanu mit eingeritztem Stiftervermerk (E) in Proskynese. Sie bringt der Muttergottes und dem Jesuskind das Evangeliar dar.

Die zugehörige Evangelienhandschrift wurde 1727 vom Bucheinband getrennt.2) Der Buchdeckel wurde mehrfach restauriert.

Inschrift B nach aus’m Weerth.

Maße: H. 35,7 cm; B. 26 cm; Bu. 0,4 cm (A, C, D), 0,2–0,3 cm (E).

Schriftart(en): Kapitalis.

Domschatz Essen [1/4]

  1. A

    PETR(VS)a)

  2. B †

    S(ANCTVS) PAVLVS

  3. C

    S(ANCTA)b) PINNOSA

  4. D

    S(ANCTA) VVALDBVRG

  5. E

    THEOPHA/NV ABB(ATISS)A

Kommentar

Als Buchstaben gestaltete Himmelsschlüssel (A) findet man z. B. auch auf dem Bucheinband des Echternacher Codex aureus (983–991).3) Die dünn eingeritzte Namensbeischrift auf dem Spruchband des heiligen Paulus (B) ist heute kaum noch zu erkennen. Georg Humann vermutete eine nachträgliche Anbringung der Inschrift.4) Die Buchstaben aller Inschriften sind mit Ausnahme des eingerollten G in Inschrift D kapital bestimmt, auf der Spitze des A liegt ein kurzer Deckbalken. Bei N stößt der Schrägschaft stumpf an den linken Schaft an, mit dem rechten Schaft bildet er eine Spitze. Der Anfangsbuchstabe der Namensbeischrift der heiligen Waldburg besteht aus zwei V mit deutlichem Spatium. Die gerade Cauda des R endet spitz ausgezogen. Die Buchstaben in den Inschriften C und D sind mit Sporen versehen.

Die Gliederung des Buchdeckels mit hochrechteckigem Mittelfeld und Rahmen aus schmalen Platten geht auf spätantike und karolingische fünfteilige Diptychen zurück, die für ottonische Buchdeckel vorbildhaft blieb.5) Die vermutlich in Köln hergestellte Elfenbeintafel wiederholt mit kleinen Abweichungen ein in Lüttich entstandenes Elfenbeinrelief.6) Die Steinfassungen sind mit denen des ebenfalls von Theophanu gestifteten Kreuznagelreliquiars und dem sog. Theophanu-Kreuz vergleichbar, vielleicht wurden alle diese Objekte in einer Essener Werkstatt hergestellt.7)

Die Heiligen Cosmas und Damian sind schon 898 neben der Muttergottes und Christus als Patrone des Essener Stifts belegt.8) In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ließ Äbtissin Hadwig eine Fuldaer Handschrift abschreiben, die wohl die Viten der beiden Märtyrer und der heiligen Pinnosa enthielt.9) Von den nicht mehr erhaltenen Handschriften sind zwei Nachzeichnungen erhalten, die neben Cosmas und Damian auch eine Dedikationsszene ähnlich der auf dem Buchdeckel zeigen. Wie auch auf dem Buchdeckel fungiert Pinnosa als Vermittlerin, hier zwischen der ebenfalls in Proskynese dargestellten Äbtissin Hadwig, die ein Buch überreichen will, und Christus. Die Widmung an Maria sowohl auf dem Buchdeckel als auch in der Handschrift ist nicht verwunderlich, denn sie bleibt vor allem aus Sicht der Sanktimonialen selbst Hauptpatronin des Stifts.10)

Die besondere Verehrung der Ärzteheiligen Cosmas und Damian wird während der Amtszeit Theophanus zunehmend greifbar. Auf Vermittlung ihres Bruders Hermann II., Erzbischof von Köln, erlaubte Kaiser Heinrich II. der Äbtissin die Abhaltung eines sechstägigen Markts um den Festtag der Heiligen am 27. September herum.11) Ihre umfangreiche liturgische Verehrung geht aus dem Liber ordinarius vom Ende des 14. Jahrhunderts hervor, ihre Wertschätzung aus den zahlreichen, vom 11. bis ins 18. Jahrhundert geschaffenen Kunstwerken, auf denen sie dargestellt sind.12)

Die heilige Pinnosa gehört zu der Schar der 11 000 Jungfrauen der Kölner Ursula-Legende, sie galt vereinzelt selbst als Anführerin. Ihre Gebeine wurden im 10. Jahrhundert aus Köln nach Essen transferiert.13) Die Bedeutung der Heiligen im Stift zeigt sich neben der Darstellung auf dem Buchdeckel und dem möglichen Vorhandensein ihrer Vita auch in ihrer liturgischen Verehrung, wie aus Sakramentaren, Kalendarien und dem Liber ordinarius hervorgeht.14) Ihre Reliquien wurden in Reliquiaren und einer nicht näher beschriebenen Tumba aufbewahrt, die auf dem Kreuzaltar stand.15)

Wann Reliquien der heiligen Waldburg nach Essen gelangten, konnte bis jetzt nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Denkbar ist, dass bei der Reliquientranslation von Eichstätt nach Monheim (Landkreis Donau-Ries, Bayern) 893 bereits Partikel für Essen abgezweigt wurden.16) Vielleicht gelangten die Reliquien auch im Zusammenhang mit der Translation ins Stift Meschede um 911 bis 913 nach Essen.17) Die Verehrung der heiligen Waldburg ist in Essen spätestens seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts durch z. T. nachträglich vorgenommene Kalendarieneinträge in Essener Handschriften belegt, außerdem im Liber ordinarius.18) In den Äbtissinnenkatalogen des 17. Jahrhunderts wird die Heilige erstmals als Mitpatronin der Johanneskirche erwähnt. Die Erweiterung des seit dem 10. Jahrhundert belegten Johannespatroziniums wird mit der Vergrößerung der Kapelle zusammenhängen und wurde unter Äbtissin Elisa (ca. 1227 bis vor 1243) vorgenommen.19) Im 15. Jahrhundert schwindet ihre Bedeutung im Stift Essen, in Messbüchern wurde ihr Fest nur noch am 1. Mai neben dem der Apostel Jacobus und Philippus begangen.20)

Der Liber ordinarius nennt an verschiedenen Stellen den Gebrauch eines Pleonarius, also eines Evangeliars, besonders im Zusammenhang mit dem Osterfestkreis. Der Pleonarius wurde bei Prozessionen mitgeführt und am Karfreitag im Heiligen Grab zusammen mit der Eucharistie und Reliquien bestattet, um schließlich in der Osternacht erhoben zu werden.21) In diesem Zusammenhang wurden auch das von Theophanu gestiftete Kreuznagelreliquiar und ein nicht genauer bezeichnetes Vortragekreuz (vielleicht das Theophanu-Kreuz) eingesetzt. Es ist also denkbar, dass es sich bei dem im Liber ordinarius genannten Pleonarius um das sog. Theophanu-Evangeliar gehandelt hat.

Textkritischer Apparat

  1. P und R sind im linken Schlüssel dargestellt, E und T ligiert im rechten. Links vom Balken des T befindet sich als Kürzungszeichen für die Buchstaben V und S ein us-Haken.
  2. Ohne Kürzungszeichen (wahrscheinlich von Edelsteinborte überdeckt).

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 7. Bei einer Inventarisierung 1797 wurde oben links die Zahl 43 eingeschlagen, vgl. Pothmann, Kirchenschatzverzeichnis, S. 30. Im Reliquienverzeichnis von 1626 ist ein „Evangelienbuch“ aufgenommen, bei dem es sich wahrscheinlich um das Theophanu-Evangeliar handelt, vgl. Humann, Kunstwerke, S. 33, Nr. 57, S. 35.
  2. Der Vordereinband wurde im Auftrag von Äbtissin Franziska Christina von Pfalz-Sulzbach von der Handschrift getrennt und als Einband für ein Evangelistar mit Äbtissinnenkatalog weiterverwendet, vgl. Steenbock, Prachteinband, S. 152.
  3. DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 57 (G3).
  4. Humann, Kunstwerke, S. 230.
  5. Steenbock, Prachteinband, S. 11–21.
  6. Heute in den Musées royaux d’Art et d’Histoire, Brüssel, Belgien, Inv.-Nr. 1483. Zur kunsthistorischen Einordnung des Buchdeckels vgl. Humann, Kunstwerke, S. 218–239; Schnitzler, Schatzkammer, S. 32, Nr. 42; Kat. Brüssel/Köln 1972 1, S. 191, Nr. D3 (H. S[chnitzler]), S. 190, E12 (A. v. E[uw]); Pothmann, Kirchenschatz, S. 149; Kat. Bonn/Essen 2005, S. 274f., Nr. 155 (R. K[ahsnitz]); Kat. Paderborn 2006, S. 380ff., Nr. 477 (Th. J[ülich]). Verbindungen zwischen Köln und Lüttich bestanden zur Entstehungszeit der Essener Elfenbeinplatte durch die engen Kontakte des Kölner Erzbischofs und Bruders der Äbtissin Theophanu, Hermann II. (gest. 1056), und dem Lütticher Bischof Wazo (gest. 1048).
  7. Kat. Paderborn 2006, S. 380ff., Nr. 477 (Th. J[ülich]).
  8. MGH D Zw 22; Rhein. UB 2, Nr. 162; Essener UB 1, Nr. 10 (898 Juni 4). Die Frage, wann und wie die Reliquien nach Essen gekommen sind, konnte bislang nicht abschließend beantwortet werden, vgl. Röckelein, Leben, S. 91.
  9. Das Fuldaer Original und die Abschrift sind nicht mehr erhalten, als Beweis für die Existenz und Indiz für den Inhalt der Handschriften dienen zwei Zeichnungen aus dem Nachlass des Vredener Scholasters Jodocus Nünning, heute im LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 724, vgl. Hoffmann, Buchkunst, S. 145ff.; Rensing, Kunstwerke, S. 44–54.
  10. Bodarwé, Martyrs, S. 350f.
  11. MGH D H III. 82; Rhein. UB 2, Nr. 174; Essener UB 1, Nr. 28 (1041 Juni 13). Zur weiteren Entwicklung der Verehrung von Cosmas und Damian vgl. Nr. 90, 172.
  12. Zu Cosmas und Damian im Liber ordinarius vgl. Bärsch, Feier, S. 39f., 161f., 280, 328; Arens, Liber ordinarius, S. 103 (Translation), S. 108 (Festtag). Zu ihrer Darstellung in Kunstwerken vgl. die Übersicht ebd., S. 221–226 und Nr. 90.
  13. Levison, Ursula-Legende, S. 25–37, besonders S. 30, 51f.
  14. Zur liturgischen Verehrung der Gesamtheit der Kölner Jungfrauen in den Sakramentaren des 10. Jh. vgl. ebd., S. 31f., 42–46; speziell zu Pinnosa Arens, Liber ordinarius, S. 109, 193; Röckelein, Leben, S. 98f. Ihr Translationsfest wurde am 28. Februar begangen (vgl. die Zusammenstellung bei Zilliken, Festkalender, S. 48). Eine weitere Translation ist im Nekrolog für St. Severin, Köln, aus dem 12. Jh. (ebd., S. 100) und in einigen Essener Quellen (Ribbeck, Necrologium, S. 116; Seemann, Aebtissinnen, S. 2; Müller, Geschichtsschreibung, S. 11) vermerkt.
  15. Vgl. Nr. 73. Die älteste Nachricht über den Reliquienschrein findet sich im Zusammenhang mit der Öffnung des Marsusschreins 1502, vgl. Müller, Geschichtsschreibung, S. 11, 44. In der Regierungszeit der Äbtissin Elisabeth von Sayn wurden Reliquien entnommen und an einen unbekannten Ort transferiert, vgl. Bucelinus, Germania 2, S. 143; Müller, Geschichtsschreibung, S. 44ff. In den Reliquienverzeichnissen von 1622 (MüA, Akte Konvolut B 754) und 1626 (Humann, Kunstwerke, S. 34) sind in ein Tuch eingewickelte Reliquien der hl. Pinnosa aufgeführt (vgl. Nr. 162). In beiden Verzeichnissen werden allerdings auch vergoldete Kästchen genannt, vielleicht war mit einem davon der Pinnosa-Schrein gemeint.
  16. Röckelein, Leben, S. 98 mit Anm. 72f. Für eine so frühe Translation nach Essen sprechen mögliche familiäre Bindungen der zu dieser Zeit in Essen amtierenden Äbtissin Adalwi nach Monheim, vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 51ff., und das Vorhandensein einer Vita der Heiligen bereits im 10. Jh. in Essen (laut einem Eintrag in einer Bücherliste im Ms. B4 in der ULB Düsseldorf). Zum Entstehungsort dieses Eintrags vgl. Hoffmann, Skriptorium, S. 128, dazu Bodarwé, Sanctimoniales, S. 383).
  17. Zu den Reliquien der hl. Waldburg in Meschede und zu einer möglichen personellen Verbindung der Stifte über die Gründerfamilien vgl. Holzbauer, Heiligenverehrung, S. 169. Das der hl. Waldburg gewidmete Mescheder Hitda-Evangeliar ist vermutlich eine Stiftung von Ida, der Schwester Theophanus und Äbtissin des Stifts St. Waldburg in Meschede und St. Maria im Kapitol in Köln, vgl. Kat. Bonn/Essen 2005, S. 167f., Nr. 2 (G[ude] S[uckale]-R[edlefsen]).
  18. Im Kalendarium der Handschrift Ms. D 1 (ULB Düsseldorf) wurde der Festtag höchstens 50 Jahre nach Anlage des Kalendariums nachgetragen, vgl. Holzbauer, Heiligenverehrung, S. 168, dort auch weitere Hinweise auf Kalendarieneinträge. Der nachträgliche Eintrag belegt die besondere Verehrung dieser Heiligen in Essen, vgl. Bodarwé, Martyrs, S. 356; Arens, Liber ordinarius, S. 61, 83, 109, 159, 193; ausführlich Holzbauer, Heiligenverehrung, S. 168.
  19. Seemann, Aebtissinnen, S. 8; Müller, Geschichtsschreibung, S. 16; Zimmermann, Münsterkirche, S. 282; Holzbauer, Heiligenverehrung, S. 167f. Zu Äbtissin Elisabeth vgl. Nr. 43.
  20. Holzbauer, Heiligenverehrung, S. 168.
  21. Bärsch, Feier, S. 147, 198, 313, 340, 348.

Nachweise

  1. Müller, Geschichtsschreibung (= Nünning), S. 14 (E).
  2. Didron, Jours, S. 326 (C–E).
  3. aus’m Weerth, Kunstdenkmäler 1,2 (Tafelbd.), Tf. 27, 1.
  4. KDM Essen, S. 46 (E).
  5. Humann, Kunstwerke, S. 230 (A, C–E), mit Tf. 24.
  6. Levison, Ursula-Legende, S. 51 (C, D).
  7. Kat. Amsterdam 1949, S. 27, Nr. 53 (E), mit Abb. 27.
  8. Medding-Alp, Goldschmiedekunst, S. 53 (E), mit Abb. 39.
  9. Eger, Herrscherinnen, S. 53 (E).
  10. Kat. Essen 1956, S. 268, Nr. 504 (C–E), mit Abb. 57.
  11. Steenbock, Prachteinband, S. 152, Nr. 62 (C–E), mit Abb.
  12. Küppers/Mikat, Münsterschatz, S. 65f. (C–E), mit Abb. 28.
  13. Holzbauer, Heiligenverehrung, S. 169 (C–E).
  14. Beuckers, Ezzonen, S. 94, Anm. 676 (E).
  15. Fremer, Theophanu, S. 98 (E), mit Abb. S. 96, 98.
  16. Bodarwé, Sanctimoniales, S. 229, Anm. 234 (E).
  17. Kat. Bonn/Essen 2005, S. 274ff., Nr. 155 (R. K[ahsnitz]) (E).
  18. Lange, Mahthildis, S. 98 (E).
  19. Kat. Essen 2009, S. 82, Nr. 15, mit Abb. (A. Pawlik).

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 20 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0002002.