Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 6 Domschatzkammer nach 973–982 (oder nach 982)

Beschreibung

Vortragekreuz (sog. Otto-Mathilden-Kreuz).1) Holz, Gold getrieben, Silber getrieben, Email, Filigran, Edelsteine, Perlen. Das Kruzifix besteht aus Goldblech, aus dem auch der Corpus mit Suppedaneum und sich darunter ringelnder Schlange getrieben ist. Am oberen Kreuzstamm befindet sich eine Emailplatte mit Kreuztitulus (A), am unteren ein Zellenschmelzemail mit Stifterdarstellung und Namensbeischrift als Stiftervermerk (B, C) (oder Stiftervermerk [B] und Namensbeischrift [C]). Die Inschriften sind als dünne, meist doppelt gelegte Goldstege von transluzidem Email umschmolzen, sie sind also metall-positiv.2) Die Darstellung zeigt die Essener Äbtissin Mathilde (um 973–1011) und ihren Bruder, Herzog Otto von Schwaben und Bayern (973/976–982), beide in höfischer Kleidung. Gemeinsam halten sie ein Vortragekreuz. Um das Kruzifix und die Emailplatten verläuft eine Gemmenleiste mit Steinen, Filigran und Perlen. Auf die kapitellartig verbreiterten Enden des lateinischen Kreuzes ist auf der Vorderseite je ein Dreieck mit Filigran, Edelsteinen und Perlen aufgelegt. Die Rückseite des Kreuzes besteht aus einer vergoldeten, gravierten Kupferplatte mit dem Agnus Dei in einem Medaillon im Zentrum und den Evangelistensymbolen, ebenfalls in Medaillons, auf den Kreuzenden, dazwischen steht der ornamental gestaltete Lebensbaum.

Maße: H. 44,5 cm; B. 29,5 cm; Bu. 0,5 cm (A), 0,2 cm (B, C).

Schriftart(en): Kapitalis.

Domschatz Essen [1/3]

  1. A

    (IESVS)a) NA/ZARENVS / REX IVDEOR(VM)b)3)

  2. B

    MAHT/HILDc) / ABB(ATISS)Ad)

  3. C

    OTTO / DVX

Kommentar

Die Schrift ist äußerst sorgfältig ausgeführt. A ist mit gebrochenem Balken und kurzem Deckbalken gestaltet. Die ausgeprägten Sporen sind rechtwinklig an Schäfte, Balken und Bögen angesetzt. Die hohe Qualität zeigt sich in Details, die Nähe zum karolingisch-antikisierenden Ideal der Kapitalis aufweisen: N ist am linken Schaft oben mit einem deutlichen Sporn ausgestattet, während die unteren Enden des Schrägschafts und des rechten Schafts eine Spitze bilden; die Cauda des R ist einmal stachelförmig und einmal gerade. Der HT-Nexus in Inschrift B wurde auch bei den Inschriften auf dem von Äbtissin Mathilde gestifteten Leuchter und dem Mathilden-Kreuz verwendet.4) Die Buchstabenfolge -HTH- in MAHTHILD entspricht der zeitgenössischen Schreibweise.5)

Die Emailplatten gehören zu den qualitätvollsten Schmelzarbeiten der ottonischen Zeit. Technische Details wie der breite, punktierte Goldrand und die Verwendung schwarzer Perlen für die Augen finden sich auch bei den in Trier hergestellten Emails am Andreas-Tragaltar und am Petrus-Stab.6) Die Kreuzenden entsprechen in ihrer Gestaltung denen des Aachener Lothar-Kreuzes (um 980), das vermutlich in Köln hergestellt wurde.7) Es ist denkbar, dass auch das Essener Kreuz in Köln angefertigt wurde,8) allerdings wird auch die Entstehung in Trier nicht ausgeschlossen.9)

Das Kreuz wurde in der Forschung lange als Schenkung der Äbtissin Mathilde (um 973–1011) und ihres Bruders Otto, Herzog von Schwaben (seit 973) und Bayern (seit 976), angesehen und folglich in die Regierungszeiten der beiden und vor den Tod Ottos 982 datiert.10) Dagegen hat Klaus Gereon Beuckers vorgeschlagen, das Kreuz als eine Stiftung Mathildes zum Gedenken an ihren verstorbenen Bruder zu interpretieren und dementsprechend nach 982 zu datieren.11) Er weist zu Recht darauf hin, dass die Gestaltung des Stifteremails die Gleichrangigkeit der beiden Personen betont: Die Äbtissin und der Herzog tragen weltliche Kleidung mit ähnlichen Motiven, beide sind gleich groß ausgeführt und stehen auf vergleichbarem Untergrund. Mathilde ist hier trotz der Inschrift weniger als Äbtissin, sondern vor allem als „gleichrangige Verwandte Ottos“ dargestellt. Beuckers formuliert die These, dass es sich bei dem auf dem Email dargestellten griechischen Kreuz um eine Chiffre für das Familienerbe handelt, das Mathilde als letztes Mitglied der schwäbischen Linie der Liudolfinger von dem verstorbenen Otto entgegennimmt. Genauso gut kann das Kreuz auf dem Stifteremail, trotz seiner griechischen Form, allerdings auch für das gestiftete Vortragekreuz stehen.

Der memoriale Charakter von Stifterbildern und -inschriften ist unbestritten und gilt sowohl für lebende als auch für tote Personen.12) Dass Kreuze zum Andenken an Verstorbene gestiftet wurden, zeigen z. B. das sog. Gisela-Kreuz (nach 1006) und das sog. Liudolf-Kreuz (nach 1038). Das Gisela-Kreuz wurde von Königin Gisela zum Andenken an ihre 1006 verstorbene Mutter gestiftet, zur Aufstellung an ihrem Grab.13) Beide Frauen sind in Orantenhaltung zu Füßen des Gekreuzigten zu sehen, ohne dass die Darstellung einen Hinweis darauf gibt, dass eine der Personen bereits verstorben ist.14) Dies geht dafür umso deutlicher aus den Inschriften hervor.15) Das Liudolf-Kreuz wurde von der Gräfin Gertrud P(RO) ANIMA LIVDOLFI COM(ITIS), also für die Seele ihres 1038 verstorbenen Ehemanns gestiftet.16)

In diesen Beispielen wird der Zweck der Stiftung, die Sicherung der Memoria einer verstorbenen Person, ausdrücklich in den Inschriften genannt. Die These Beuckers’ von der posthumen Darstellung wird damit nicht widerlegt, sie kann aber nicht als bewiesen gelten. Deshalb werden beide Interpretationen, sowohl die ältere, die eine gemeinsame Stiftung der Geschwister annimmt, als auch die von Beuckers vertretene Interpretation einer posthumen Darstellung Ottos berücksichtigt. Eine Entscheidung zwischen den daraus resultierenden Datierungen ist nicht möglich.

Textkritischer Apparat

  1. Buchstabenbestand in griechischen Buchstaben: IHC. Kürzungsstrich durch den rechten Schaft des H.
  2. Der Bogen des durch Nexus litterarum mit dem O verbundenen R ist oben offen.
  3. alheidis Seemann, Nünning.
  4. Kürzungsstrich über dem ersten B.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 3. Bei einer Inventarisierung 1797 wurde an der Seite die Zahl 39 eingeschlagen, vgl. Pothmann, Kirchenschatzverzeichnis, S. 30.
  2. Diese Technik wurde z. B. auch für die Schriftbänder in den Senkschmelzplatten der Reichskrone verwendet, vgl. Fillitz, Studien, S. 50. Zur Terminologie Bayer, Versuch, S. 97.
  3. Io 19,19.
  4. Vgl. Nr. 8, 10.
  5. Förstemann, Personennamen, Sp. 1083.
  6. Kahsnitz, Emails, S. 130ff. schließt die Entstehung des Emails in Trier aus und weist auf die im Gegensatz zu der Qualität der Essener Emails stehenden „ganz unsicheren und schematischen Menschendarstellungen der Trierer Arbeiten, vor allem des 980 (…) entstandenen Petrusstabes (…)“ hin. Eckenfels-Kunst, Goldemails, S. 63f. lokalisiert die Essener Emails nach Trier und argumentiert, dass sie im Hinblick auf eine Datierung nach 982 gut in die Reihe der Trierer Erzeugnisse passen.
  7. Schnitzler, Schatzkammer, S. 29; DI 31 (Aachen Dom), Nr. 11.
  8. Kahsnitz, Emails, S. 135f.; Kat. Bonn/Essen 2005, S. 272, Nr. 152 (B. F[alk]).
  9. Beuckers, Otto-Mathilden-Kreuz, S. 59f.; Eckenfels-Kunst, Goldemails, S. 62; Kat. Essen 2009, S. 64, Nr. 6 (K. G. Beuckers).
  10. Zum Beispiel Humann, Kunstwerke, S. 144f. (Humann vermutet, dass das Kreuz zwar von beiden Geschwistern gestiftet, aber wohl von Herzog Otto in Auftrag gegeben wurde); Schnitzler, Schatzkammer, S. 32, Nr. 43; Kat. Köln 1985 1, S. 150, Nr. B 1 (U. B[ergmann]); Pothmann, Kirchenschatz, S. 143ff.; Kat. Hildesheim 1993 2, S. 387, Nr. VI-53 (H. F[illitz]).
  11. Beuckers, Otto-Mathilden-Kreuz, S. 60–64. Mathilde initiierte auch die Memoria in dem von Otto stark geförderten Stift St. Peter und Alexander in Aschaffenburg, vgl. ebd., S. 56f.
  12. Vgl. Oexle, Memoria und Memorialbild, S. 394.
  13. Schramm/Mütherich, Denkmale, S. 168, Nr. 143.
  14. Auf diese Parallele zum Otto-Mathilden-Kreuz verweist auch Beuckers, Otto-Mathilden-Kreuz, S. 75f.
  15. Vgl. Favreau, Commanditaires, S. 501ff.: HANC CRUCEM GISILA DEVOTA REGINA AD TUMULUM SUAE MATRIS GISILE DONARE CURAVIT. Diese Inschrift wird u. a. durch eine Fürbitte ergänzt.
  16. DI 35 (Stadt Braunschweig 1), Nr. 2; vgl. auch Westermann-Angerhausen, Stiftungen, S. 52–55.

Nachweise

  1. Seemann, Aebtissinnen, S. 3 (B, C).
  2. Müller, Geschichtsschreibung, S. 12 (= Nünning) (B, C).
  3. A[…]., Münsterkirche, S. 19 (B, C).
  4. B[audri], Geschenkgeberin, S. 270 (B, C).
  5. von Quast, Beiträge, S. 259 (B, C).
  6. Kat. Köln 1876, S. 77, Nr. 557 (B, C).
  7. KDM Essen, S. 44.
  8. Kraus, Inschriften 2, S. 293, Nr. 637.
  9. Goebel, Münsterschatz, S. 32.
  10. Arens, Münsterkirche, S. 49.
  11. Kat. Amsterdam 1949, S. 24, Nr. 47.
  12. Messerer, Goldschmiedewerke, S. 38.
  13. Medding-Alp, Goldschmiedekunst, S. 34, mit Abb. 34, 35.
  14. Kat. Essen 1956, S. 267, Nr. 500, mit Tf. 49 (B, C).
  15. Müller, Geschichtsschreibung, S. 99, Anm. 108 (B, C).
  16. Favreau, Commanditaires, S. 494 (B, C).
  17. Kat. Hildesheim 1993 2, S. 387f., Nr. VI-53 (H. F[illitz]).
  18. Kahsnitz, Emails, S. 130 (A).
  19. Pothmann, Kirchenschatz, S. 143 (B, C), mit Abb.
  20. Nielsen, Patronage, S. 75 (B, C).
  21. Beuckers, Otto-Mathilden-Kreuz, S. 58f., mit Abb. 4.
  22. Eckenfels-Kunst, Edelstein, S. 182 (B, C).
  23. Bodarwé, Sanctimoniales, S. 229, Anm. 233 (B, C).
  24. Farbiges Gold, S. 9 (B, C), mit Abb.
  25. Lange, Mahthildis, S. 96 (B, C).
  26. Eckenfels-Kunst, Goldemails, S. 67 (A).
  27. Kat. Essen 2009, S. 64, Nr. 6, mit Abb. (K. G. Beuckers)

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 6 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0000602.