Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

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DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 1 Werden, Schatzkammer St. Ludgerus E. 8. Jh.

Beschreibung

Beinkasten.1) Eichenholz, Platten aus Walrosszahn, graviert, punziert. Der Kasten wurde 1982/83 durch Restauratoren des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz umfassend restauriert und untersucht.2) Dabei wurde festgestellt, dass der Beinbeschlag ursprünglich zu einem kleineren Kasten gehörte und durch einzelne jüngere Leisten ergänzt wurde. Die nach dieser Untersuchung vorgeschlagene Rekonstruktion weicht von der heutigen Anordnung der Platten und von älteren Rekonstruktionsvorschlägen3) deutlich ab: Demnach befand sich auf dem Deckel die Figur des gekreuzigten Christus (mit gravierter Bildbeischrift im Kreuznimbus), flankiert von Stephaton und Longinus4). Über und unter dem Kreuz waren Platten mit doppelten Tierdarstellungen angebracht. Die Vorderseite, an der ursprünglich ein Eisenschloss befestigt war, zeigte Christus mit Kreuznimbus, links und rechts begleitet von Engeln mit erhobenen Armen.5) Auf der Rückseite waren neun Platten mit den Darstellungen von kauernden Vierfüßlern zu sehen.6) Die Rückseite weist heute die größten Fehlstellen auf, weil die ursprünglich dort angebrachten Platten als Ersatz für Verluste an den übrigen Seiten verwendet wurden. Die Schmalseiten hatten keine figürlichen Darstellungen; sie waren mit Leistengittern und Platten mit Kreisornamenten geschmückt. Diese Elemente wurden auch für die übrigen Seiten zum Schmuck und zur Gliederung verwendet.

Bei der Restaurierung wurde ein nach 1511 verfasstes Werdener Bücherverzeichnis zwischen dem Holzkästchen und dem Beschlag entdeckt,7) d. h. die Anbringung der Platten an dem neuen, dendrochronologisch auf 1243 datierten Kasten muss zeitlich danach erfolgt sein. Mechthild Schulze-Dörrlamm vermutet, dass der ursprüngliche Kasten in den 1630er Jahren durch niederländische oder schwedische Truppen zerstört wurde.8)

Maße: H. 21,2 cm; L. 40 cm; B. 21,2 cm; Bu. 0,5 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/2]

  1. R//E//X

Kommentar

Die drei Buchstaben bieten zu wenig Anhaltspunkte für eine paläographische Einordnung. Es kann nur festgestellt werden, dass sie keine Einflüsse der karolingischen Kapitalis aufweisen. Die gleichlangen, sich verbreiternden Balken des E und der nicht geschlossene Bogen des R, an dessen Ende sich die ebenfalls stark verbreiterte Cauda anschließt, finden sich z. B. in Inschriften vom Ende des 7. bis Anfang des 8. Jahrhunderts, aber auch später.9) An den schräglinken Schrägschaft des X ist eine Art Anstrich angesetzt. Die Gestaltung des Kreuznimbus mit den Buchstaben REX kommt vereinzelt bei Christusdarstellungen seit der Karolingerzeit vor, so z. B. in Darstellungen der Maiestas Domini,10) auf dem Elfenbeindeckel eines Reliquiars aus Genoels-Eldernen (Provinz Limburg, Belgien, um 780, entstanden vermutlich im insularen Raum)11) und im Karolingischen Evangeliar des Stifts Essen, das um 800 im Rhein-Maas-Raum entstanden ist.12)

Der Beinkasten ist seit Ende des 19. Jahrhunderts Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen.13) Zuletzt wurde er von Mechthild Schulze-Dörrlamm bearbeitet, die sich für ihre Untersuchung auch auf den Restaurierungsbericht von 1982/83 stützen konnte. Sie identifizierte den Kasten u. a. mithilfe eines umfassenden Vergleichs der Zierformen als karolingisches Werk und datierte ihn ins späte 8. Jahrhundert.14) Aufgrund dieser zeitlichen Einordnung hält sie es für plausibel, dass der Beinkasten möglicherweise aus dem Besitz des heiligen Liudger, der ihn während seines Aufenthalts in Montecassino (784–787) erworben haben könnte, stammt.15)

Der Beinkasten diente vermutlich als Reliquiar v. a. für Herrenreliquien.16) Darauf weist die dominierende Kreuzigungsdarstellung auf der Deckelplatte hin, die gleichzeitig die Überwindung des Todes durch Christus zeigt, indem sie ihn als siegreichen, lebendigen König und Herr über die erlöste Tierwelt abbildet.17) Der heilige Liudger hat 784 von Papst Hadrian oder später von dessen Nachfolger Papst Leo III. zahlreiche Reliquien, darunter auch Herrenreliquien, erhalten,18) vielleicht war er aber schon früher in den Besitz von Partikeln des heiligen Kreuzes gelangt19).

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 5.
  2. Vgl. Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, S. 289–293.
  3. Effmann, Kruzifixus, Sp. 298–302; Elbern, Reliquienkasten, S. 440–443; Schumacher, Tragaltar, S. 100–108.
  4. Der Kreuzstamm mit dem Körper und dem Kopf ist jetzt auf der Vorderseite angebracht, der linke Arm auf der linken Schmalseite. Der rechte Arm ist verloren.
  5. Die Christusfigur und der noch erhaltene Engel befinden sich weiterhin an der Vorderseite.
  6. Sieben dieser Tierdarstellungen befinden sich heute auf dem Deckel, zusammen mit einem der Doppeltiere.
  7. Vgl. Freitäger, KlosterHumanismus, S. 249.
  8. Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, S. 292.
  9. Zum Beispiel DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 16, 20 (gleichlange, sich verbreiternde Balken des E, sich verbreiternde Cauda des R), Nr. 15, 18 (offenes R).
  10. Schiller, Ikonographie 3, S. 233, Abb. 676.
  11. Heute in den Musées Royaux d’Art et d’Histoire, Brüssel, Belgien, Abb. bei Elbern, Reliquienkasten, Abb. 35; Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, Tf. 69,1.
  12. Humann, Kunstwerke, Tf. 2; Kat. Essen 2009, S. 172, Nr. 81 (K. Bodarwé).
  13. KDM Essen, S. 98ff., Fig. 14 (mit älterer Literatur); Effmann, Kruzifixus, passim; Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen 2, S. 54, Nr. 180; Schnitzler, Schatzkammer, S. 34, Nr. 49, Tf. 159; Elbern, Reliquienkasten, passim; Schumacher, Tragaltar, passim; Kat. Frankfurt 1994, S. 153f., Nr. VII/15 (M. R[ibbert]); Kat. Mannheim 1996 2, S. 644ff., S. 928, Nr. 7; Kat. Paderborn 1999 2, S. 179f., Nr. VII.35 (V. H. E[lbern]); Kat. Essen 1999, S. 519ff., Nr. 380 (G. B[ühl]); Kat. Münster 2005, S. 114f. (M. Schulze-Dörrlamm).
  14. Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, S. 350.
  15. Ebd., S. 356f.
  16. Die Verwendung als Tragaltar, die verschiedentlich vorgeschlagen wurde (Elbern, Reliquienkasten, S. 464–469; Schumacher, Tragaltar, S. 108f., dagegen Budde, Altare portatile, S. 26), kann weder durch einen Altarstein im Deckel belegt noch sicher widerlegt werden, vgl. Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, S. 350–354.
  17. Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, S. 353.
  18. Vgl. zum Problem der zeitlichen Einordnung Röckelein, Reliquientranslationen, S. 144, Anm. 69. Schulze-Dörrlamm (in Kat. Münster 2005, S. 114) datiert die Herstellung des Reliquienkastens deshalb „wohl um 784“.
  19. Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, S. 353.

Nachweise

  1. Effmann, Kruzifixus, Sp. 301f., Fig. 4 (nur Abb.) – Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen 2, S. 54, Nr. 180.
  2. Kat. Essen 1956, S. 193, Nr. 334, mit Tf. 18.
  3. Elbern, Reliquienkasten, S. 437, mit Abb. 1.
  4. ders., Species crucis, S. 174.
  5. Roth, Kunst, S. 279f., Nr. 228, mit Tf. (M. Schulze).
  6. Schumacher, Tragaltar, S. 98, mit Abb. 7, S. 103.
  7. Kat. Frankfurt 1994, S. 153, Nr. VII/15 (M. R[ibbert]).
  8. Kat. Mannheim 1996 2, S. 928, Nr. 7, mit Abb. S. 929.
  9. Schulze-Dörrlamm, Beinkasten, S. 294, 329, 350, 355, mit Tf. VIII.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 1 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0000107.