Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 180 Werden, Folkwang Universität der Künste, Hauptgebäude, Gewölbekeller 1. H. 17. Jh., 1656–1667

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Zwei Steinplatten. Der Wortlaut der Inschrift auf der älteren, nur noch fragmentarisch erhaltenen Sandsteinplatte (I.) wurde vermutlich zwischen 1658 und 1667 auf eine Kalksteinplatte (II.) übertragen, weshalb die Inschriften beider Inschriftenträger ediert werden.

I.: Das Fragment der Sandsteinplatte wurde als Kämpferplatte für den westlichsten Mittelpfeiler des Gewölbekellers über dem Refektorium im Südflügel des ehemaligen Abteigebäudes wiederverwendet. Am erhabenen, profilierten Rand des linken und des unteren Plattenrands und an den Abbruchkanten der beiden anderen Ränder ist erkennbar, dass es sich um das linke untere Fragment einer Platte handeln muss. Zu sehen ist im oberen Teil eine Schriftzeile, wobei die eingehauenen Buchstaben bereits in der unteren Hälfte der Zeile von dem aufgesetzten Gewölbe verdeckt werden. Von der nächsten Zeile sind nur der Anfangsbuchstabe und am Ende Buchstabenreste zu sehen. Im unteren Teil der Platte ist keine Schrift mehr zu erkennen.1) Die Zeilenhöhe beträgt etwa 7 cm, die Buchstabenhöhe 4,2 cm.

II.: Die Kalksteinplatte ist im südlichen Seitenschiff im vierten Joch von Osten in die Westwand eingemauert, ursprünglich war sie im Kreuzgang angebracht.2) In die nicht ganz quadratische Platte ist eine dreizehnzeilige historische Nachricht eingehauen. In den vier Ecken sind Lilien eingehauen, unten in der Mitte eine Rosette. Der Unterhang mit dem Wappen des Auftraggebers in Flachrelief ist schmaler als die Platte und wurde kopfüber oben an die Platte angesetzt. Es fehlen vermutlich Teile der Rahmung.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/2]

I. (Sandsteinplatte):

Maße: H. 75 cm; B. 71 cm; Bu. 4,2 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

  1. S(ANCTVS) LIVDGERVS FRISO[NVM] / S[AXONVM - - -]

II. (Kalksteinplatte):

Maße: H. 158 cm (mit Unterhang); B. 101 cm; Bu. 3,5–5,2 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

  1. CIRCAa) ANNVM DOMINIb) / DCCILXXVIIc) / SANCTVS LVDGERVSd) / FRISONVM SAXONVM ET WESTPHALORVM / APOSTOLVS, PRIMVS EPISCOPVS / MIMIGARDEVORDENSIS SIVEe) MONASTERIENSIS, / PATROCINIO DIVI CAROLI MAGNIf) IMPERATORIS, / HANC IMPERIALEM HOC IN LOCO, DEO EI / REVELANTE, DICTO WERTHINAg) IN DENSA / OLIM SYLVA WENESWALDT APVD RVRAM / FLVVIVM, FVNDAVIT ABBATIAM; QVAM / MVLTIS IMPETRATIS PRIVILEGIIS / POSTERITAS PIA STABILIVIT.h)

Übersetzung:

Um das Jahr 777 gründete der heilige Liudger, Apostel der Friesen, Sachsen und Westfalen, Bischof von Mimigardia oder Monasteria (= Münster)3), hier an diesem ihm von Gott offenbarten Ort, der Werden genannt wurde, im tiefen, einst ‚Weneswald’ genannten Wald bei dem Flusse Ruhr mit dem Beistand des heiligen Kaisers Karl des Großen diese kaiserliche Abtei, welche die fromme Nachfolgerschaft durch die Erlangung vieler Privilegien festigte.

 
Wappen:
Dücker.4)

Kommentar

Die wenig kunstvoll ausgeführte Inschrift der Sandsteinplatte hat erhöhte Kapitalisversalien und i-Punkte. Diese Merkmale sind schon bei frühen neuzeitlichen Kapitalisinschriften aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts aus Worms zu beobachten.5) Die Inschrift ist nicht vor dieser Zeit entstanden; eine genauere zeitliche Einordnung nur aufgrund paläographischer Überlegungen ist nicht möglich.

Das Plattenfragment wurde als Kämpfer eines Pfeilers im Gewölbekeller im Südflügel des Abteigebäudes wiederverwendet. Über diesem Keller befand sich das Refektorium, dessen Neubau jeweils für 1506 und 1746 belegt ist.6) Von dem Bau von 1506 sind keine Reste mehr erhalten. Eva Winkler, die als Erste auf das Inschriftenfragment hingewiesen hat, vermutet allerdings, dass beide Neubauten des Refektoriums auf den bereits vorhandenen Keller gesetzt wurden, der beim Bau 1506 teilweise mit neuen Gewölben ausgestattet worden sein soll.7) Die Datierung des Gewölbes an den Anfang des 16. Jahrhunderts ist nicht mit dem Schriftbefund auf der Kämpferplatte in Einklang zu bringen. Deshalb ist davon auszugehen, dass doch das ganze Gewölbe bei dem barocken Neubau des Refektoriums erneuert wurde, vielleicht in den gleichen Proportionen wie 1506, oder dass mindestens an dem betreffenden Pfeiler Erneuerungsarbeiten stattgefunden haben müssen, bei denen die Sandsteinplatte wiederverwendet wurde.

Die wenigen noch sichtbaren Reste der Inschrift auf der Sandsteinplatte stimmen in etwa mit der Inschrift auf der Kalksteinplatte überein.8) Der Wortlaut dieser Inschrift II. folgt dem einer älteren, zum Zeitpunkt der Neuanfertigung nicht mehr gut erhaltenen Inschrift, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei der Inschrift der Kalksteinplatte um eine leicht modifizierte, kopiale Überlieferung der nur noch fragmentarisch erhaltenen Inschrift auf der Sandsteinplatte handelt.

Die Inschrift der Kalksteinplatte ist von hoher Qualität, die sich in verschiedenen Details der Schriftausführung, in der durchdachten Platzaufteilung für die lange Inschrift und in der Verwendung verschiedener Buchstabenhöhen zur Auszeichnung besonders wichtiger Wörter zeigt. A ist häufig leicht nach rechts geneigt. Die i-Punkte bestehen aus rautenförmigen Vertiefungen. Bei den M reicht der Mittelteil meist bis auf die Grundlinie. O ist überwiegend kreisrund. Die Cauda des R ist geschwungen und setzt am Bogen an. Die Buchstaben sind mit deutlichen und sorgfältig ausgeführten Serifen ausgestattet.

In einem 1668 gedruckten Band der Acta Sanctorum wird der Zeitpunkt des Baus des Werdener Klosters mit 797 angegeben und auf eine fehlerhafte Inschrift, die erst vor kurzem an einer Mauer des Kreuzgangs angebracht worden sei, verwiesen.9) In einem daraufhin wohl von Gregor Overham (gest. 1687) verfassten Kommentar wird festgestellt, dass diese Inschrift vor zwölf Jahren (also frühestens 1656) erneuert worden sei, allerdings auf der Grundlage einer älteren Inschrift,10) vermutlich der Inschrift auf der Sandsteinplatte. Dies deckt sich mit der Datierung der Kalksteinplatte, die durch das Wappen im Unterhang in die Regierungszeit des Abtes Heinrich Dückers (1646–1667) eingeordnet werden kann.

Es bleibt zu klären, wann und aus welchem Grund die erste Inschrift verfasst wurde. Der Wortlaut betont neben dem Alter und der Bedeutung des Klosters besonders das enge Verhältnis zum Kaiser (ABBATIA IMPERIALIS, PRIVILEGIA). Dies lässt sich gut aus der Situation heraus erklären, in der sich das Kloster in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach dem Aussterben der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg (1609) befand.11) Diese hatten bis dahin die Vogtei des Klosters als Mannlehen inne, das nach dem Tod des letzten Familienangehörigen wieder an das Kloster zurückfallen sollte. Das Herzogtum Jülich-Kleve-Berg wurde von den Fürstenhäusern Brandenburg und Pfalz-Neuburg beansprucht. Beide unternahmen den Versuch, sich als Erbe des verstorbenen Herzogs Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg die Werdener Vogtei zu sichern. Um die abteiliche Landeshoheit nicht zu gefährden und den Status der Vogtei als Mannlehen zu bewahren, versuchte Abt Hugo Preutäus (1614–1646) erfolgreich, sich den Forderungen beider Seiten zu verweigern. Er erhielt dazu 1618 ein kaiserliches Mandat, das den Heimfall der Vogtei an das Kloster bestätigte.12) Es ist durchaus denkbar, dass die Inschrift, deren mutmaßliche Reste sich heute im Gewölbekeller befinden, in dieser Zeit der Annäherung an den Kaiser verfasst wurde.13) Preutäus’ Nachfolger Heinrich Dücker erhielt nach seiner Wahl zum Abt vom Kaiser am 1. Oktober 1646 zur Belehnung auch eine Privilegienbestätigung, 1648 wurde eine weitere Bestätigung erteilt, die das Recht der freien Vogtwahl enthielt.14)

Textkritischer Apparat

  1. Erste drei Zeilen zentriert.
  2. DOMINI] fehlt bei Müller.
  3. Sic! I nach DCC fehlerhaft, gemeint war sicherlich das Jahr 777.
  4. Zeile in deutlich größerem Schriftgrad.
  5. MIMIGARDEVORDENSIS SIVE] fehlt bei Bucelinus, Müller.
  6. CAROLI MAGNI in deutlich größerem Schriftgrad.
  7. WERTHINA in deutlich größerem Schriftgrad.
  8. Letzte Zeile zentriert.

Anmerkungen

  1. Der Pfeiler wurde aus statischen Gründen 1987 innen mit einem Doppel-T-Träger verstärkt. Die während dieser Maßnahme nötige Stütze wurde allerdings unterhalb der Kämpferplatte angebracht, so dass auch bei dieser Gelegenheit nicht mehr von der Inschrift zu sehen war als vorher und nachher, vgl. Winkler, Klosterbauten, S. 121, 313, Abb. 49–52.
  2. AASS, Martii 3 (1668) zum 26. März, S. 633.
  3. In der Inschrift werden beide lateinischen Adjektivformen genannt.
  4. Fünf Balken, hier Wappenschild auf ein Hochkreuz aufgelegt, hinterlegt von zwei gekreuzten Krummstäben. Vgl. Glöckner, Wappen, S. 80, Tf. III, 6.
  5. DI 29 (Stadt Worms), S. LXVf.; ebd., Nr. 316.
  6. Winkler, Klosterbauten, S. 147ff.
  7. Ebd., S. 94f., 203f. Winkler vermutet, dass es sich bei dem Fragment um die Grabplatte eines Klosterangehörigen handelt und interpretiert die Nennung des Heiligen als Hinweis auf ihre Entstehung zeitlich vor der Annahme der Bursfelder Reform in Werden 1474, da nach diesem Zeitpunkt die Identifizierung mit dem Gründer weniger stark gewesen sei, vgl. ebd., S. 121. Da LIVDGERVS im Nominativ steht, kann es sich nicht um die Nennung des von ihm gegründeten Klosters handeln, ansonsten hätte der Genitiv verwendet werden müssen.
  8. Auf der Sandsteinplatte ist S(ANCTVS) gekürzt, bei Bucelinus und auf der Kalksteinplatte ausgeschrieben, der Heiligenname lautet auf der Sandsteinplatte und bei Bucelinus LIVDGERVS, auf der Kalksteinplatte LVDGERVS.
  9. AASS, Martii 3 (1668) zum 26. März, S. 633.
  10. Paris, BNF, Ms. Fonds latin 12703, fol. 212/217r. Zu der Handschrift vgl. Stüwer, GS Werden, S. 83.
  11. Zum Verhältnis der Abtei zum Reich und zu den Vögten vgl. Stüwer, GS Werden, 150f., 162ff., zum Streit um die Vogtei Langenbach, Zeitalter, S. 5–12, 29–36, 94–112.
  12. Stüwer, GS Werden, S. 163.
  13. Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass bereits Abt Konrad Kloedt (1601–1614) die Inschrift in Auftrag gegeben hat. Da seine Amtszeit aber hauptsächlich von der schlechten finanziellen Situation des Klosters bestimmt war und er stärker dem Einfluss der Pfalz-Neuburger ausgesetzt war, ist Hugo Preutäus als Auftraggeber wahrscheinlicher. Vgl. Stüwer, GS Werden, S. 162f., 350ff.
  14. Stüwer, GS Werden, S. 354f.

Nachweise

  1. Winkler, Klosterbauten, S. 121, mit Abb. 59, S. 317 (Sandsteinplatte).
  2. Bucelinus, Germania 2, S. 305.
  3. Müller, Stadt und Stift Werden, S. 28.
  4. Jacobs, Annalen, S. 18, Anm. 3.
Addenda & Corrigenda (Stand: 11. August 2021):

Übersetzung: streiche "Bischof von Mimigardia oder Monasteria (= Münster)" setze "erster Bischof von Mimigardeford oder Münster." Korrektur nach Heinrich Tiefenbach, Rez. DI 81, in: Beiträge zur Namenforschung 47 (2012), S. 474

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 180 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0018003.