Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 173 Rellinghausen, St. Lambertus 1643

Beschreibung

Glocke des Gießers Johann Paris. Bronze. Gewicht ca. 750 kg, Schlagton war f’.1) Die flache Haube ist profiliert und mit einzelnen Salbeiblättern verziert, die Krone ist nicht mehr vorhanden. An der steilen Schulter verläuft oben ein breiter Fries (H. 4,7 cm), bestehend aus einem schmalen stehenden Lilienfries und einem Renaissancefries aus Ranken und Akanthusblättern. Darunter befinden sich Inschriften mit Bibelparaphrase und Bibelstellenangabe (A), Auftraggebervermerk (B) und Glockenrede (Meisterinschrift) (C). Das Zweilinienschema wird von Stegen markiert; über und unter den vier Schriftzeilen befindet sich je ein weiterer Steg. Die Flanke ist mit dem gleichen Zierfries wie die Schulter ausgestattet, hier befinden sich außerdem zwei Reliefs (Maria lactans [H. 7,6 cm; B. 5,5 cm] und Kruzifix [H. 7,5 cm; B. 4,5 cm]) sowie ein Ornamentkreuz mit vierstufigem Sockel, das aus dem Lilienfries konstruiert und mit Salbeiblättern verziert ist.2) Die Glocke ist beim Turmbrand 1944 abgestürzt und steht vor der Kirche.

Maße: H. 90 cm; Dm. 109 cm; Bu. 2,4 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/12]

  1. A

    + CANITE TVBA IN SION VLVLATE IN MONTE SANCTO EIVS QVIA PROPE EST DIES DOMINI IOEL. 2.3)

  2. B

    + GISBERT IOHAN VON DEM VITTINCKHOFF GNANTTa) SCHELL AVFF DEM BERGE ERBKIRCHENMEISTER ZV RELINC:/+:KHAVSEN R(EVEREN)D(V)S D(OMI)N(V)S MATTHIAS BERSCHEIDT PASTOR D(OMI)N(V)S IOANNES NATROPIVS CASPARVS TINNISFELT / + VND IOANNES BECHIVS KEIRCHENMEISTERa)

  3. C

    IOAN //b) PARIS ME FECIT ANNO 1643c)

Übersetzung:

Blaset die Posaune zu Zion, rufet laut auf seinem heiligen Berg, denn der Tag des Herrn ist nahe. (A) Johann Paris machte mich im Jahre 1643. (C)

 
Gießerzeichen:
Johann Paris.4)

Kommentar

Die Buchstaben der auf Plättchen aufgelegten Model sind schmal proportioniert und haben eine dünne Strichstärke. Besonders fein sind die hoch angesetzten, gebrochenen Balken der A ausgeführt. Die Balken von H sind mit einer Ausnahme spitz nach unten ausgebuchtet, bei IOHAN nach oben, hier wurde das Model falsch herum aufgeklebt. I ist mit einem kleinen Nodus ausgestattet. Auffällig ist die geschwungene, „säbelförmige“ Cauda des R. Eine charakteristische Besonderheit der Inschriften sind die wellenförmig gerundeten Unterseiten der Balken des T. Für Z wurde das gleiche Model wie für 3 verwendet. Die Buchstaben haben kleine Serifen. Alle vier Zeilenanfänge sind durch Kreuze mit kleinen Stufensockeln markiert, sie liegen nicht in einer senkrechten Linie, sondern sind leicht versetzt.

Der Glockenguss wurde am 5. Juli 1643 von dem Erbkirchenmeister Gisbert Johann von Vittinghoff genannt Schell, den Pastoren Matthias Berscheidt und Johannes Natropius und den Kirchenmeistern Kaspar Tinnisfelt und Johannes Becher bei dem Gießer Johann Paris in Auftrag gegeben und anschließend in Waltrop (Kreis Recklinghausen) ausgeführt.5) Eine neue Glocke war nötig geworden, weil die erst 1603 gegossene Sturmglocke nicht mehr funktionstüchtig war.

Die Stiftskirche wurde anscheinend von 1629 bis 1652 vereinzelt auch von den evangelischen Stiftsbewohnern genutzt.6) Darauf weist auch Inschrift B hin, in der neben dem katholischen Pfarrer Matthias Berscheidt, der 1632 als Kanoniker und bis 1648 als Pfarrer belegt ist,7) drei protestantische Auftraggeber genannt werden. Gisbert Johann von Vittinghoff genannt Schell gehörte einem seit dem 13. Jahrhundert in Rellinghausen ansässigen Rittergeschlecht an, in dessen Besitz sich ab 1442 das spätere Schloss Schellenberg, ebenfalls in Rellinghausen gelegen, befand. Seit dem 15. Jahrhundert hatte die Familie das Erbdrostenamt des Stifts Essen inne.8) Sie war, wie anscheinend die Mehrheit der Rellinghauser, zu der in den 1560er Jahren eingeführten lutherischen Lehre übergetreten.9) Gisbert Johann fiel 1652 in der Schlacht von Orsoy.10) Johannes Natropius war der Sohn des 1617 verstorbenen gleichnamigen ‚Pastor primarius’, des ranghöchsten der drei Stiftskanoniker, der entscheidenden Einfluss auf die Verbreitung der Reformation im Stift Rellinghausen hatte.11) Natropius jun. war ebenfalls als Kanoniker am Stift tätig, musste aber 1618 wegen des Vorwurfs, einen Totschlag begangen zu haben, von seinem Amt zurücktreten.12) Offensichtlich war er aber trotzdem weiter als Prediger tätig, weswegen Johannes Karsch vermutet, die Anklage habe nur als Vorwand gedient, um den evangelischen Pfarrer zu vertreiben. Caspar Tinnisfelt ist einer der Unterzeichner einer Bekanntmachung, in der die Einwohner des Stifts Rellinghausen 1653 den Bau einer eigenen evangelischen Kirche ankündigen.13) Johannes Becher ist 1639 gemeinsam mit Caspar Tinnisfelt als Unterkirchenmeister belegt.14) Die Tatsache, dass keine Vertreterin des Stifts Rellinghausen genannt ist, hängt vielleicht damit zusammen, dass zwischen 1638 und 1648 das Amt der Pröpstin nicht besetzt war.15)

Johann Paris entstammte einer Lothringer Gießerfamilie, deren Angehörige zuerst als Wandergießer und später dauerhaft im Rheinland und in Westfalen tätig waren.16) Im 17. Jahrhundert siedelten zahlreiche Glockengießer aus Lothringen in diese Region über, bedingt einerseits durch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Ludwig XIII. von Frankreich und Herzog Karl von Lothringen in der Heimat, andererseits durch die guten Verdienstmöglichkeiten in dem vom Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Gebiet, da hier zahlreiche Glocken neu gegossen werden mussten.17) Johann Paris wurde um 1619 geboren, 1639 ist er als Mitglied einer lothringischen Gießergemeinschaft gemeinsam mit seinem Bruder Antonius in Westfalen nachweisbar. Die letzte von ihm bekannte Glocke wurde 1658 gegossen, danach war er anscheinend nicht mehr als Gießer tätig. Im Nekrolog des Franziskanerklosters in Dorsten ist sein Tod am 21. März 1677 mitgeteilt, zusammen mit dem Hinweis, dass er in verschiedenen Konventen als Koch tätig gewesen sei. Die Rellinghauser Glocke ist die einzige bekannte, an der das Gießerzeichen von Johann Paris, eine in Untersicht dargestellte Glocke im Schild, verwendet wurde. Die Gestaltung der Glocke mit dem aus Lilienfriesornament zusammengesetzten Kreuz und mehrfach gestuftem Sockel entspricht lothringischen Gießertraditionen.

Textkritischer Apparat

  1. Sic!
  2. Gießerzeichen.
  3. Weite Ziffernabstände.

Anmerkungen

  1. Nach Schaeben, Denkmalglocken, S. 96, Nr. 2.
  2. Vgl. Renard, Glocken, S. 44, mit Abb. 45, S. 47.
  3. Nach Ioel 2,1 (Vulgata): „… in monte sancto meo, conturbentur omnes habitatores terrae quia venit dies Domini, quia prope est dies tenebrarum et caliginis …”. Der Vers ist in der Inschrift angepasst zu in monte sancto eius, also „auf seinem (des Herrn) heiligen Berg.“ Die Bibelstelle ist Thema einer Antiphon zum vierten Adventssonntag, in der ihr Wortlaut zu „Canite tuba in Sion, quia prope est dies Domini“ zusammengefasst wird, vgl. CAO 3, Nr. 1757.
  4. Gießerzeichen Nr. 1.
  5. Potthoff, Rellinghausen, S. 46.
  6. Karsch, Geschichte, S. 23ff.
  7. Potthoff, Rellinghausen, S. 110, ohne Quellenangaben.
  8. Vietinghoff gen. Scheel, Stamm, S. 138. Zu diesem Amt vgl. HStAD, Stift Essen, Akten, Nr. 1085.
  9. Vietinghoff gen. Scheel, Stamm, S. 143; Karsch, Geschichte, S.16.
  10. Vietinghoff gen. Scheel, Stamm, S. 143.
  11. Karsch, Geschichte, S. 19ff.
  12. Ebd., S. 20, 24.
  13. Ebd., S. 31f.
  14. StadtA Essen, Findbuch Pfarrarchiv St. Lambertus, Essen-Rellinghausen, S. 230, Nr. 1327.
  15. Humann, Rellinghausen, S. 72; Potthoff, Rellinghausen, S. 116.
  16. Ich danke Claus Peter, Hamm, der mir freundlicherweise sein Manuskript über Johann Paris zur Verfügung gestellt hat. Die folgenden Angaben sind diesem Manuskript entnommen.
  17. Vgl. Nr. 175.

Nachweise

  1. Feldens, Glocken, S. 90, Nr. 1.
  2. Potthoff, Rellinghausen, S. 47.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 173 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0017308.