Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 138† Pfarrgemeinde St. Ignatius 1600

Beschreibung

Glocke des Gießers Johann Neelman. Vermutlich Bronze. Die Glocke stammt ursprünglich aus der Münsterkirche, dem heutigen Dom. Die Inschriften mit Spruch (A), Auftraggebervermerk (B) sowie Glockenrede (Meisterinschrift) (C) standen dreizeilig zwischen Stegen im oberen Drittel der Flanke. Die Glocke diente zeitweise in der 1849 abgebrochenen barocken Laterne über dem Westturm als Schlagwerkglocke der Turmuhr, später hing sie im Dachreiter über der Vierung, bevor sie vor 1915 abmontiert wurde. Vor 1940 wurde die Glocke an die Pfarrgemeinde St. Ignatius in Essen übergeben, wo sie im Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich einem Bombenangriff zum Opfer fiel. Durch ein Foto von ca. 1915 ist die Gestaltung der Glocke mit abgesetzter Kronenplatte mit zwei Wulsten, stehendem Kreuzblumenfries mit Perlstab an der Schulter, Stegen zwischen den Schriftbändern, drei Stegen am Wolm und zwei am Schlagring überliefert.1)

Nach Foto im MüA, B 361, Ergänzungen nach KDM.2)

Schriftart(en): Kapitalis (A, B), gotische Minuskel (C).

  1. A

    + NVNQVAM TE CRASTINA FALLET HORA3)

  2. B

    DRa) JOANNES A GELDRENb) · CAN/+ONICVS ET AEDILIS ECCLESIAE ASSNIDENSIS FIERI FECIT ANNO 1600 + +c)

  3. C

    johan neelman von soeistd) · goeis mich +

Übersetzung:

Nie wird die morgendliche Stunde dich (ent)täuschen (A). Herr Johannes von Geldern, Kanoniker und Werkmeister der Essener Kirche, ließ (mich) machen im Jahre 1600. (B)

Kommentar

Der auf dem Foto sichtbare Teil der Inschriften A und B zeigt gleichmäßige, aber wenig kunstvolle Kapitalisbuchstaben ohne Linksschrägenverstärkung. In Inschrift A wurde eine Lilie als Worttrenner verwendet. Der Beginn der zweiten Zeile von Inschrift B ist durch ein griechisches Kreuz markiert, am Ende der Zeile stehen zwei griechische Kreuze. Der Worttrenner in Inschrift C ist größer als in Inschrift A, vielleicht handelt es sich eine Rosette. Für die lateinischen Inschriften wurde die Kapitalis gewählt, für die deutsche die gotische Minuskel.4)

Johannes von Geldern ist ab 1590 als Kellner der Essener Kanoniker nachweisbar.5) 1593 gab er in seiner Funktion als Werkmeister der Münsterkirche die Erneuerung des Vierungsturms in Auftrag,6) wahrscheinlich war hier der ursprüngliche Aufhängungsort der Glocke. 1600 wurde ihm die Vikarie am Jacobusaltar in der Krypta übertragen,7) im selben Jahr ist er in der Glockeninschrift als Werkmeister erwähnt. Als Dekan hatte er bis zu seinem Tod 1635 das wichtigste Amt des Kanonikerkapitels inne.8) Ein Nekrolog der Essener Kanoniker vermerkt seinen Tod am 11. Juli 1633,9) was angesichts der letzten Erwähnung als Dekan 1635 wohl eine Verschreibung (oder Verlesung des Herausgebers des Nekrologs) sein muss.

Das Fragment zweier Verse in Inschrift A stammt aus Vergils Georgica, wurde aber von Seneca im 88. Brief an Lucilius aufgegriffen.10) Während die Stelle bei Vergil im Zusammenhang mit der Wetterbeobachtung steht, wird sie bei Seneca dahingehend ausgelegt, dass der folgende Tag nichts bringen wird, wovon man überrascht werden könnte. Es ist nicht zu entscheiden, ob Vergil oder Seneca zitiert wird, in christlichem Verständnis ist aber die Interpretation Senecas als eine Art Gottvertrauen denkbar.

Die Wahl des lateinischen Zitats betont die Gelehrtheit des Auftraggebers. Ob Johannes von Geldern allerdings einen Doktorgrad hatte, wie die Lesungen in den Kunstdenkmälern und von Feldens und Rinken (DR. JOANNES A GELDREN) nahelegen, ist unwahrscheinlich. In Urkunden, in denen Johannes von Geldern als Zeuge auftritt, wird der Kanoniker nicht als Doktor bezeichnet, ebenso wenig in einem Nekrolog der Essener Kanoniker.11) Zudem konnte seine Immatrikulation an einer Universität nicht nachgewiesen werden.12) Vermutlich handelt es sich hier um eine Verwechslung mit D(OMINVS), wobei die us-Kürzung fälschlicherweise als R gelesen oder ausgeführt wurde. Dafür spricht auch, dass ‚doctor’ im 16. und 17. Jahrhundert zumeist nur mit D., das zudem hinter dem Namen stand, abgekürzt wurde.13)

Der Gießer Johannes Neelman entstammte der im 16. Jahrhundert von Essen nach Soest umgesiedelten Glockengießerfamilie Neelman.14) Gemeinsam mit Peter Neelman, der mit großer Wahrscheinlichkeit sein Bruder war, goss er 1597 eine Glocke für die Pfarrkirche von Werl-Westönnen, Kreis Soest.15)

Textkritischer Apparat

  1. Sic!
  2. GELDERN Rinken.
  3. Die Buchstaben REN . CAN nach dem Foto.
  4. Emendiert nach Feldens und Rinken, KDM Essen überliefert boeist.

Anmerkungen

  1. MüA, B 361. Die Akte betrifft eine Anfrage des Direktors des Essener Heimatmuseums, Dr. Ernst Kahr, der die Glocke 1915 im Museum ausstellen wollte, was vom Kirchenvorstand von St. Johann abgelehnt wurde.
  2. Da auf dem Foto zu sehen ist, dass die U als V ausgeführt sind, wurde diese Schreibweise, abweichend von KDM Essen, Feldens und Rinken, beibehalten.
  3. Verg., georg. 1, 425f.; Sen., epist., 88, 11.
  4. Vgl. die gleiche Schriftwahl z. B. in DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis), Nr. 363.
  5. Schaefer/Arens, Urkunden, Nr. 420 (1590).
  6. Müller, Geschichtsschreibung, S. 24.
  7. HStAD, Stift Essen, Urkunden, Nr. 2106 (1600 Januar 29).
  8. Krägeloh, Unterlagen, S. 74, mit Angabe der Quellenbelege im HStAD.
  9. Tönnissen, Verzeichnis, S. 189.
  10. Vgl. Anm. 3.
  11. Vgl. Anm. 5, 7, 9.
  12. Überprüft wurden die Matrikel Köln (ein Johannes de Geldria immatrikulierte sich 1525, aufgrund des Todesjahres 1635 kann dies aber nicht der Essener Kanoniker sein), Matrikel Würzburg, Matrikel Rostock, Matrikel Freiburg, Matrikel Heidelberg, Matrikel Leipzig, Matrikel Tübingen, Matrikel Basel, Matricule Louvain und Matrikel Erfurt. Auch in der Datenbank ‚Repertorium Academicum Germanicum. Die graduierten Gelehrten des Alten Reiches zwischen 1250 und 1550’ (www. rag-online.org, besucht am 25.10.2010) ist Johannes von Geldern nicht nachgewiesen.
  13. Vgl. z. B. DI 61 (Stadt Helmstedt), Nr. 80, 87, 135.
  14. Vogeler, Glockengießerfamilie, S. 23.
  15. KDM Kreis Soest, S. 172. Der erste Soester Glockengießer dieser Familie war der aus Essen stammende Rochus Neelman, vgl. Vogeler, Glockengießerfamilie, S. 21ff.

Nachweise

  1. MüA, B 361.
  2. KDM Essen, S. 53.
  3. Walter, Glockenkunde, S. 336 (nur Teil von A).
  4. Feldens, Glocken, S. 82.
  5. Rinken, Glocken, S. 97.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 138† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0013809.