Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 129† Dom 1575

Beschreibung

Grabgedicht (A: Grabbezeugung und Totenlob) und Mahnung (B) für Äbtissin Irmgard von Diepholz auf unbekanntem Träger. Die Inschriften sind nur im Äbtissinnenkatalog von Jodocus Nünning (gest. 1753) überliefert. Über die Gestaltung des Inschriftenträgers oder des Grabes und den genauen Bestattungsort ist nichts bekannt, die inschriftliche Ausführung von B ist nicht gesichert. Nünning zitiert noch weitere Verse, bei denen es sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um einen inschriftlich ausgeführten Text handelt, da weder der Name, das Sterbedatum noch irgendein anderer Hinweis auf Irmgard von Diepholz oder das Stift Essen Erwähnung finden.1)

Nach Nünning.

  1. A

    Hoc tegitur nostra antistes pie functa sepulcroIrmgardis fato jam meliore fruens.Transiit e vivis ad vera palatia vitaeCredidit ipsa diu jam videt ecce DeumEt capit aeternae dulcissima gaudia vitaeParta sibi merito Christe benigne tuo.

  2. B

    Umbra sic alloquitur sacerdotes quosdam ejus aemulos: Invide sacrifice adsis qui piae praesidis mortem saepe optasti en compos es factus voti tui namque recessi recipis aliam gaudens sed non diu deplorabis nunc me tibi ereptam videbistunc pileos et monilia gestantes pro habitu religioso et hactenus consueto videbis equitem egregiam minime tamen talem nempe piam qualem Alfridus fundator cupiebat dum vixit. Quomodo eheu! Cadit excellens fundatio claustri. Ibit ad interitum totaque res publica.

Übersetzung:

Von diesem Grab wird unsere Vorsteherin bedeckt, die fromm (ihres Amtes) gewaltet hat, Irmgard, die jetzt ein besseres Los genießt. Sie ist von den Lebenden zu den wahren Palästen des Lebens hinübergegangen, geglaubt hat sie es schon lange, sieh da, jetzt sieht sie Gott, und ergreift die süßesten Freuden des ewigen Lebens, die ihr zuteil wurden durch dein Verdienst, gnädiger Christus. (A) So spricht ihr Schatten gewisse, ihr feindlich gesinnte Priester an: Missgünstiger Priester, merke auf, der du der treuen Vorsteherin oft den Tod gewünscht hast, siehe, dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, denn ich bin gegangen, du empfängst freudig eine andere, aber nicht lange, dann wirst du klagen, dass ich dir entrissen wurde, du wirst nun sehen, dass man Hüte und Halstücher anstelle des bis jetzt gewohnten geistlichen Habits trägt, du wirst eine hervorragende ritterschaftliche Adelige sehen, keinesfalls freilich eine derart fromme, wie sie der Gründer Altfrid wünschte, solange er lebte. Achje, wie geht die hervorragende Klostergründung zugrunde. Sie und das ganze Gemeinwesen werden in den Untergang gehen. (B)

Versmaß: Drei elegische Distichen, reimlos (A).

Kommentar

Die ersten drei Verse von Inschrift A sind fast vollständig einem Epitaph entnommen, das der Marburger Gelehrte Peter Paganus für den ebenfalls in Marburg lehrenden protestantischen Theologen Andreas Hyperius (gest. 1564) verfasst hat.2) Auch der zweite Halbvers des sechsten Verses wurde von Paganus für ein Gedicht auf Hyperius verwendet.3) Die gesamte Inschrift A besteht aus drei prosodisch korrekten elegischen Distichen, die inhaltlich unspezifische Aussagen wiedergeben, wie sie sich häufig in Epitaphien finden, sowohl in inschriftlich als auch in rein literarisch ausgeführten. Hier wird die inschriftliche Ausführung allerdings durch den Beginn Hoc sepulcro tegitur nahegelegt, der sich offensichtlich auf einen spezifischen Bestattungsplatz bezieht. Diese Verse unterscheiden sich sprachlich und inhaltlich von dem folgenden Prosatext, weshalb dieser als zweite Inschrift wiedergegeben wird.

Inschrift B ist sprachlich von schlechterer Qualität als Inschrift A. Inhaltlich behandelt der Prosatext die Situation nach dem Tod der Essener Äbtissin, allerdings aus sehr parteiischer Sicht. Es werden scharfe Vorwürfe gegen „feindlich gesinnte Priester“ erhoben, z. B. werden sie bezichtigt, den Tod der Äbtissin gewünscht zu haben. Es wird prophezeit, dass die gewohnte geistliche Tracht der Stiftsdamen unter der Nachfolgerin Irmgards durch modische weltlich-adelige Kleidung mit Hüten und Halstüchern ersetzt werden wird. Auch wird der Stiftsgründer Altfrid erwähnt und die Befürchtung ausgesprochen, mit dem Tod der Äbtissin werde auch das Gemeinwesen untergehen. Es ist fraglich, ob dieser anklagend formulierte Text tatsächlich als Inschrift auf einem Epitaph der Äbtissin ausgeführt war, oder ob es sich um ein literarisches Epitaph gehandelt hat.4)

Irmgard von Diepholz wurde 1538 zur Pröpstin des Stifts Essen gewählt, bei ihrer Wahl zur Äbtissin 1561 war sie bereits Ende sechzig.5) Ihre Amtszeit war geprägt von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Stifts und Auseinandersetzungen mit den beiden Kapiteln und der Stadt. Streitpunkte innerhalb des Stifts waren Irmgards Einbehaltung von Propsteigütern sowie des Kapitelsiegels und des Schlüssels zum Archiv, die Einführung neuer Statuten und die von ihr vorgenommene Suspension von Kanonikern, weswegen sie 1569 sogar exkommuniziert wurde. Der Streit mit der Stadt, die der Äbtissin Veruntreuung von Reichssteuern vorwarf und angesichts der innerstiftischen Probleme die Chance sah, den Status als Reichsstadt durchzusetzen, führte schließlich zu einem Prozess vor dem Reichskammergericht.6) Die Äbtissin starb am 28. Juni 1575.7)

Helmut Müller hat gezeigt, dass die Politik der Äbtissin vor allem von ihren Räten bestimmt wurde.8) Konfessionelle Fragen spielten trotz der unruhigen Zeit nach der Einführung der Reformation in Essen 1563 nur eine untergeordnete Rolle, der Äbtissin ging es vor allem um die Erhaltung ihrer obrigkeitlichen Rechte. Sie stammte aus einer zum Luthertum übergetretenen Familie und stand vermutlich auch selbst der Augsburgischen Konfession nahe. Die Einschätzung späterer Quellen, sie sei in Religionsfragen „weder warm noch kalt“ gewesen, bestätigt sich beispielsweise daran, dass sie zwar den Reformator Heinrich Barenbroich gewähren ließ und von lutherischen Räten und Dienern umgeben war, es gleichzeitig aber ablehnte, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt zuzulassen.

Nünning vermutete, das Epitaph für Irmgard sei von dem Schulrektor Gerhard „Platius“ oder dem Kirchmeister und Kantor Heinrich Berverus verfasst worden.9) Hier handelt es sich mit Sicherheit um eine Verwechslung mit dem Ehrenkaplan der Äbtissin, Gerhard Emporius.10) Er ist ab 1564 in diesem Amt bezeugt.11) Aus den Quellen ergibt sich das Bild einer streitbaren Persönlichkeit, die das anklagende und scharf formulierte Epitaph durchaus verfasst haben könnte. 1564 musste er sich bei einem Essener Vikar in Anwesenheit mehrerer Zeugen und „Schiedsfreunden“ wegen Beleidigung entschuldigen.12) Gemeinsam mit der Äbtissin stand er in einem Prozess, der auch lange nach dem Tod Irmgards von Diepholz weitergeführt wurde, den beiden Kapiteln des Stifts gegenüber.13) Eine erhoffte Rehabilitierung des anscheinend nach dem Tod der Äbtissin aus dem Amt entfernten Ehrenkaplans wurde von Irmgards Nachfolgerin abgelehnt.14) Es ist nicht zu klären, ob die beiden stark unterschiedlichen Texte der Inschriften A und B von einer Person verfasst wurden, die die ersten drei Distichen abgeschrieben und leicht umgedichtet und den Prosatext selbst formuliert hat, oder ob zwei Verfasser am Werk waren.

Anmerkungen

  1. Müller, Geschichtsschreibung, S. 34. Die Verse lauten: „Cur mea nunc spernis poscentia funera luctus / Nullos? Cur ejicis invida scomma tuum. / Desine laetantem nimiis turbare cacillis / Ecce via trita, quae tibi restat aevo. / Tu modo mortalis sic accipe gaudia vitae / Ut memor aeternae sit tibi cura domus.“
  2. Dilich, Urbs, S. 31.
  3. Ebd.
  4. Zum Begriff ‚epitaphium’, der sowohl den nur literarischen Nachruf als auch dessen inschriftliche Ausführung bezeichnen kann, vgl. Rädle, Epitaphium, passim.
  5. Biographische Angaben nach Eger, Herrscherinnen, S. 145–149; Müller, Reformation, S. 175–182.
  6. Zu diesen Auseinandersetzungen auch Grevel, Elsabetha, S. 9–15.
  7. Vgl. ihr Testament im HStAD, Stift Essen, Urkunden, Nr. 1977 (1575 Juni 27).
  8. Müller, Reformation, S. 177.
  9. Müller, Geschichtsschreibung, S. 33.
  10. Lat. emporium = Handelsplatz, Markt.
  11. Schaefer/Arens, Urkunden, Nr. 384 (1564 März 14).
  12. Ebd., Nr. 483 (1564 September 19).
  13. Ebd., Nr. 588. Die Akte enthält dazu Schriftstücke von 1576–1582.
  14. Ebd., Nr. 411 (1578).

Nachweise

  1. Müller, Geschichtsschreibung, S. 34 (= Nünning).

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 129† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0012907.