Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 98† Werden, St. Ludgerus 1517

Beschreibung

Grabplatte für Abt Anton Grimmolt. Kupferplatte, befestigt auf einer Steinplatte.1) Die zwei Inschriften (A: Grabgedicht mit Nachruf, Anrede an den Leser, Grabbezeugung und Totenlob; B: Sterbevermerk), die von Johannes Cincinnius verfasst wurden,2) sind als Einblattdruck überliefert, eingebunden in ein Buch aus Cincinnius’ Bibliothek und von ihm mit kurzen Kommentaren zum Inhalt versehen.3) Andreas Freitäger vermutet, dass der Einblattdruck zusammen mit der Todesanzeige an die Mitglieder der Bursfelder Kongregation verschickt wurde.4) Die Grabplatte lag über dem Grab des Abtes im Chor in der Nähe des Altars.5) Die Kupferplatte war spätestens 1705 nicht mehr vorhanden, jedenfalls wird anlässlich der Erneuerung des Kirchenbodens erwähnt, dass die Grabplatte keine Inschrift enthält.6)

Nach Cincinnius.7)

  1. A

    Ecce sub hoc saxo praeclarus conditur Abbas,Qui piusa) hic pulchri pastor ouilis8) erat. Abbas (si ignoras) grimmolt Antonius ipse.Ossa tenet tellus, spiritus astra colit.9) Cui patriam dederat terra inclyta translupiana.Hildsemque oblatus relligione sacra.Inde Prioratus erat olim munere functusb),Iam cunctis magni tunc precijque fuit.Ast vbi iam mitram tractusque ad munia sacraVirtus virtutem fert cumulata palam.Quo magis ipsa viri coelo dignissima virtusSe premit, hoc semper tollitur illa magisSignifer heu cecidit pietatis totius, ipsumOrdinis et culmen, et decus et specimen, Vnus enim. quo tota basis pendebat, et in quo Totusc) inhaerebat relligionis apex.Quem reuerebantur cuncti simul atque colebant Fratres. plaebs, proceres,10) gratia talis erat.Quippe erat illius studij componere pacid)Res vbi turbarat11) si qua profana virosOccidit heu patriae consultus, cuius abe) orePoscebaturf) opem. ceu Clarij ex Tripode.12)Rebus enim cunctis prudens, mores grauis almos, Comis et in verbis. numine sic Charitum.13)Maxima cunque viris habuit commertia doctis Nam paritas homines conciliare solet.14)Et quod inane foret verbum, non illius oreProdibat, fuit hicg) integritatis honos, Extulit hunc siquidem pietate locum, grege cultoAuxid et, amissis restituitque bonis.Illi quas nimium laceras inuenerat aedeis15)Ac delubra dei cura nouare fuitMagno inopes studio fouit, pia viscera16) pandens Semper eis, fouet hunc quin deus arce poli.17)Omnibus hic neruis coelum nauabat, et omne Pectus lucrandis sic animabus erat.Quin vocitabatur nostri saecli Benedictus, Ludgerusque alter, tempora ceu ista petunt. Viuit in aethereo. Quem nos hic flemus. olympo,Et gaudet superum transsilijsse domos.

  2. B

    Rexit quidem annis .xxxiij. Et octogenarius ex vita defunctus. Anno christianae salutis. M . CCCCC . XVII . Die . XIII. Mensis Iunij.

Übersetzung:

Sieh, unter diesem Stein ist der berühmte Abt bestattet, der hier frommer Hirte der schönen Herde war. Eben dieser Abt ist, falls du es nicht weißt, Antonius Grimmolt. Die Erde bewahrt die Gebeine, der Geist bewohnt die Sterne. Diesem hatte das ruhmreiche Land jenseits der Lippe Heimat gegeben, und er war in Hildesheim in der heiligen Religion geweiht worden. Dann war er einst betraut mit dem Priorenamt. Schon damals ist er für alle von großem Wert gewesen. Aber sobald er zu den heiligen Pflichten die Mitra empfangen hat bringt die vermehrte Tugend die Tugend zum Vorschein. Je mehr sich die Tugend des Mannes, die dem Himmel besonders würdig ist, selbst erniedrigt, desto mehr wird sie immer weiter emporgehoben. Ach weh, der Bannerträger aller Frömmigkeit ist gefallen. Die Spitze des Ordens, die Zierde und das Vorbild, der einzigartige, auf dem das ganze Fundament ruhte und in dem die höchste Stufe der Frömmigkeit wurzelte. Alle achteten ihn hoch und verehrten ihn zugleich: die Brüder, das Volk, die Vornehmen, so groß war seine Beliebtheit. Es war nämlich sein Bemühen, für den Frieden zu versöhnen, wo eine ruchlose Angelegenheit die Menschen verwirrt hatte. Ach, es starb der Ratgeber des Vaterlands, von dessen Munde Beistand erfleht wurde gleichwie vom Orakel des Klarischen. Er war nämlich durch das Walten der Chariten klug in allen Dingen, angesehen in Bezug auf den hehren Lebenswandel und freundlich im Gespräch. Den meisten Umgang hatte er mit gelehrten Männern. Denn Gleichheit pflegt die Menschen zusammenzubringen. Kein unnützes Wort kam aus seinem Mund. Hier war die Zierde der Redlichkeit, weil er nämlich diesen Ort hervorhob durch Frömmigkeit, ihn mehrte an gebildetem Kirchenvolk (grex), und, nachdem Güter verloren gegangen waren, diese wieder beschaffte. Er kümmerte sich darum, die Gebäude und Tempel Gottes, die er allzu verfallen vorgefunden hatte, zu erneuern. Er begünstigte mit großem Fleiß die Armen, ihnen immer das fromme Herz ausbreitend, so begünstigt (jetzt) auch Gott ihn (selbst) in der Himmelsburg. Mit allen Kräften diente er hier dem Himmel, und so trachtete sein ganzes Herz nach der Gewinnung von Seelen. Er wurde sogar Benedikt unseres Zeitalters und zweiter Ludgerus genannt, so wie es diese Zeiten erstreben. Er, den wir hier beklagen, lebt im himmlischen Olymp und freut sich, dass er hinübergegangen ist zu den Wohnungen der Götter. (A) Er regierte freilich 33 Jahre, und als Achtzigjähriger ist er aus dem Leben geschieden. Im Jahre des christlichen Heils 1517 am 13. Tag des Monats Juni. (B)

Versmaß: 20 elegische Distichen, reimlos (A).

Kommentar

Der Text ist ein ausführliches Lobgedicht als Nachruf auf den verstorbenen Abt Anton Grimmolt. Der vierte Vers greift die in antiken Grabinschriften und dann besonders in Renaissance-Epitaphien formulierte Vorstellung vom toten Körper, der in der Erde verbleibt, und der Seele, die zu den Sternen steigt, auf.18) Die damit verknüpfte Idee, dass die Seele aus dem Äther herabsteigt, während des Lebens im Körper eingeschlossen ist und durch den Tod von diesem befreit wird, um wieder zu den Sternen aufzusteigen, ist Bestandteil spätantiker Todesvorstellungen, die auch Eingang in die christliche Gedankenwelt fanden.19) Der erste Halbvers lehnt sich an Ovid an, bei dem es heißt: „ossa tegit tellus“.20) Antike Wurzeln hat auch der Halbvers spiritus astra colit,21) er begegnet dann bei Venantius Fortunatus und findet sich mit Varianten wie z. B. „spiritus astra petit“ vom Frühmittelalter (Alkuin, Rabanus Maurus) bis in die Neuzeit.22)

In der Verwendung von Sonderformen und Junkturen sowie dem Rückgriff auf die griechische Mythologie (Chariten, Orakel des Klarischen Apollo, Olymp23)) spiegelt sich die Bildung des Verfassers Johannes Cincinnius wieder. Die Verse sind, wie bei anderen gelehrten humanistischen Autoren, bewusst reimlos gehalten, in Anlehnung an die ebenfalls reimlose antike Dichtung.24)

Antonius Grimmolt, geboren um 1437, stammte aus Lippstadt und legte in St. Michael in Hildesheim die Profess ab.25) Er kam 1474 mit Adam Meyer, Abt des Kölner Klosters Groß St. Martin und Visitator der Bursfelder Kongregation für die Kirchenprovinzen Trier und Köln, in das Kloster Werden, um Reformen durchzuführen.26) Hier übernahm er das neu geschaffene Amt des Priors, der an der Spitze der Mönche stand, später auch das Amt des Kellners.27) Die Grabschrift, die wie ein Nachruf formuliert ist, betont Grimmolts erfolgreiches Wirken bereits zu der Zeit, als er noch als Prior fungierte. Nach dem Tod des ersten Werdener Reformabtes Dietrich Hagedorn wurde Grimmolt 1484 zum Abt gewählt.

Die Grundlage für die in Inschrift A und von den Werdener Chronisten erwähnten Erfolge bei der Konsolidierung der Verwaltung und der Rückgewinnung entfremdeter Güter wurde bereits mit der Einführung der Bursfelder Reform gelegt. Die Wirtschaftsverwaltung wurde zentralisiert und vom Kellner geleitet, außerdem wurde der gesamte Güterbestand in einem Vollregister erfasst.28) Cincinnius merkt auch in dem von ihm verfassten Lehnsregister an, Grimmolt habe das Kloster von seinen Schulden befreit und die verfallenen Bauten erneuert.29) Aus Rechnungen geht hervor, dass in Grimmolts Amtszeit z. B. das Refektorium, das Dormitorium und eine Infirmarie neu errichtet wurden,30) außerdem wurden 1512 ein neuer Tafelaltar für den Hochaltar in Auftrag gegeben31) und liturgische Bücher angeschafft32). Vermutlich wurde in seiner Amtszeit auch der Tafelaltar mit Szenen aus dem Leben des heiligen Hubertus in Auftrag gegeben.33)

Der Nachruf thematisiert Grimmolts Umgang mit gelehrten Männern und seine eigene Gelehrsamkeit und spielt damit vielleicht auch auf seine Kontakte und seine hohe Stellung in der Bursfelder Kongregation an. Der Werdener Abt war auf etwa der Hälfte der während seiner Amtszeit abgehaltenen Generalkapitel der Bursfelder Kongregation anwesend, bei acht hatte er die Funktion des Mitpräsidenten,34) bei vier die des Definitors35) und 1487 sowie 1501 las er sogar die Eröffnungsmesse.36) Zusammen mit Adam Meyer war Grimmolt auch weiter als Visitator tätig.37)

Die abschließende Würdigung Grimmolts als „Benedikt unseres Zeitalters“ stellt den Verstorbenen bereits in die Nähe des heiligen Benedikt. Der Vergleich mit Benedikt von Nursia findet sich beispielsweise auch für Bernhard von Clairvaux, der in seiner Vita als „alter Benedictus“ bezeichnet wird.38) Diese Formulierung wird aufgegriffen und zur Charakterisierung Grimmolts als „zweiter Ludgerus“ verwendet. Damit wird der verstorbene Abt in eine Reihe mit dem heiligen Ordensgründer und dem heiligen Klostergründer gestellt.

Textkritischer Apparat

  1. prius Witte.
  2. fultus Witte.
  3. tota Witte.
  4. pacem Witte.
  5. in Witte.
  6. Haec poscebat Witte.
  7. fuit hic]sint haec Witte.

Anmerkungen

  1. Anonymus, Annales, S. 78: „Sepulchrum eius nihilminus tectum est alio lapide insigni aurichalco in superficie cum alia inscriptione (als auf dem davor beschriebene Epitaph, vgl. Nr. 99) exornato.“
  2. Unter dem Druck des Gedichts ist vermerkt „Cincinnius concinnabat“.
  3. ULB Düsseldorf, an Ling.208 (Ink). Vgl. Freitäger, Cincinnius, S. 355, Nr. 41; S. 372, Nr. 121.
  4. Freitäger, Cincinnius, S. 154, Anm. 507. Vgl. den Abdruck des „epitaphiums“ bei Witte, Historia, S. 657f.
  5. Anonymus, Annales, S. 78.
  6. Roskamp, Katalog, S. 17; Meyer, Werden und Helmstädt, S. 87.
  7. Die Satzzeichen werden in der Edition berücksichtigt, weil der Verfasser der Inschriften vermutlich auch für den Druck verantwortlich war. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass diese Satzzeichen auch inschriftlich ausgeführt waren.
  8. Verbreitete Junktur, vgl. Hex.-Lex. 4, S. 142ff.
  9. Hex.-Lex. 5, S. 246f.
  10. Diese Junktur z. B. auch in DI 29 (Stadt Worms), Nr. 398.
  11. Vgl. die Verbform bei Ovid, met.3, 410.
  12. Clarius ist ein Name des Apoll, der sich auf sein Orakel in der Stadt Clarus bezieht.
  13. Die Chariten sind die drei Grazien aus der griechischen Mythologie.
  14. Der Vers findet sich fast wörtlich (‚quod’ anstelle von ‚nam’ am Versanfang) in einem 1524 gedruckten Werk des französischen Juristen André Tiraqueau (Ex commentariis in Pictonum consuetudines Sectio de legibus connubialibus et iure maritali, Lyon 1616, fol. 58r.)
  15. Sonderform, die allerdings bereits bei Plautus Verwendung fand (Plaut., Merc. 784; ders., Rud. 583).
  16. Die Junktur ‚pia viscera’ wird z. B. bereits von Paulinus von Nola benutzt: Paul. Nol., carm. 6, 104 (hg. v. W. Hartel, CSEL 30); vgl. auch Hex.-Lex. 4, S. 242.
  17. Häufig benutzte Junktur, vgl. Hex.-Lex. 1, S. 117.
  18. Vgl. Kajanto, Classical and Christian, S. 70ff.
  19. Angenendt, Theologie, S. 99f.; vgl. Nr. 24, 25.
  20. Ovid, ars 2, 96.
  21. Rädle, Typik, S. 245.
  22. Hex.-Lex. 5, S. 246f., mit weiteren Nachweisen; in Grabschriften der Neuzeit z. B. in DI 31 (Aachen Dom), Nr. 115; DI 36 (Stadt Hannover), Nr. 320; DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis), Nr. 392.
  23. Zu Olympus im christlichen Zusammenhang vgl. Stotz, Handbuch 2, V, § 22.1.
  24. Vgl. Fuchs, Inschriften, S. 180.
  25. Zu den biographischen Angaben vgl. Duden, Historia, S. 34f.; Overham, Annalen, S. 132–137; Stüwer, GS Werden, S. 343ff.; Freitäger, Cincinnius, S. 151–155.
  26. Zur Bursfelder Reform in Werden vgl. Stüwer, GS Werden, S. 102f.; Wallmann, Kloster, passim; Hammer, Reform, S. 158–174.
  27. Duden, Historia, S. 34f.
  28. Urbare A, S. XLV; Druck in Urbare B, S. 445–540; Kuchenbuch, Register, S. 142f.
  29. Freitäger, Cincinnius, S. 152.
  30. Stüwer, GS Werden, S. 42, 44ff.; Winkler, Klosterbauten, S. 146–154.
  31. Anonymus, Annales, S. 77; Stüwer, GS Werden, S. 20.
  32. Vgl. z. B. Stüwer, GS Werden, S. 37.
  33. Vgl. Nr. 80.
  34. Volk, Generalkapitels-Rezesse, S. 255, 288, 319, 352, 378, 381, 420, 427.
  35. Ebd., S. 242, 340, 346, 362.
  36. Ebd., S. 224, 324.
  37. Püttmann, Grymholt, S. 27–31; vgl. z. B. Hammer, Reform, S. 196, 256, 260f.
  38. S. Bernardi vita prima 1, Subscriptio (Migne, PL 185, Sp. 267).

Nachweise

  1. ULB Düsseldorf, an Ling.208 (Ink).
  2. Witte, Historia, S. 657f.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 98† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0009801.