Inschriftenkatalog: Stadt Essen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 81: Stadt Essen (2011)
Nr. 73† Dom 1454?
Beschreibung
Tafel aus unbekanntem Material. Sie befand sich am Fuß des zwischen den westlichen Vierungspfeilern befindlichen Kreuzaltars, später dann an der heute verlorenen Tumba der heiligen Pinnosa, die auf dem Kreuzaltar aufgestellt war.1) Der Text besteht aus einer Reliquienbezeichnung und einer Gebetsaufforderung. Die Reliquienbezeichnung nennt Reliquien, die im Corpus des auf einer Marmorsäule hinter dem Kreuzaltar aufgestellten Kruzifixes enthalten waren.2) Die älteste Überlieferung ist als Nachtrag von einer Hand des 15. Jahrhunderts im Liber ordinarius der Essener Kanoniker aufgezeichnet. Sie diente wohl als Grundlage für die Überlieferung in einem Äbtissinnenkatalog.3) Dieser Katalog (oder eine Abschrift davon) befindet sich im Stadtarchiv Essen, er (bzw. wohl eine weitere Abschrift) wurde von Jodocus Nünning (gest. 1753) als Vorlage für seine ‚Series antistitarum Essendiensium’ benutzt, in denen die Inschrift ebenfalls überliefert ist.4) Nünning bietet in der vierten Zeile eine abweichende Lesung an und weist auf eine Variante hin, „die die anderen lesen“, und die in etwa dem Text im Liber ordinarius entspricht. Möglicherweise lag ihm neben dem Äbtissinnenkatalog noch eine Transkription der Inschrift vor, die sein Zuträger, der Steeler Vikar Jacob Ortmann, vor Ort gemacht hat.5)
Nach dem Nachtrag im Liber ordinarius.
Sicuta) scripserunt seniores qui perieruntAurea gemmata super hac statuaque locatab)Crux consecratum corpus de virgine natumContinet ac alias res dignas res quoque sacrasc)De domini statua qua sustulit ipse flagellaDe crucis et ligno sacro dominique sepulchroDe sua veste sacra sua de spineaqued) coronaHac quoque de petra qua crux stetit ipsa locataCur non praetereas nisi devotus benedicasHic laudes dando culpae veniamque rogando
Übersetzung:
So wie die Vorfahren schrieben, die verstorben sind: Das goldene, edelsteinbesetzte und auf diese Säule gesetzte Kreuz enthält den geweihten, von der Jungfrau geborenen Körper (= die geweihte Hostie) und andere, würdige und heilige Dinge: Von der Säule des Herrn, an der er die Geißeln erduldet hat, vom heiligen Holz des Kreuzes und vom Grab des Herrn, von seinem heiligen Rock und von seiner Dornenkrone, auch von diesem Stein, auf dem das aufgestellte Kreuz selbst gestanden hat. Warum solltest du stehen bleiben (= nicht vorbeigehen), wenn nicht, um ergeben zu lobpreisen, indem du hier Ehre bezeugst und um Vergebung deiner Schuld bittest?
Versmaß: Hexameter, leoninisch ein- und zweisilbig rein gereimt.
Textkritischer Apparat
- Sic Arens.
- locuta Arens.
- res dignas res quoque sacras] condignas res quoque sacras Nünning. Er ergänzt: „alii legunt: res dignas resque sacratas“. Arens: ter dignas resque sanctas. Im Liber ordinarius wurden in den Wörtern alias res dignas Buchstaben nachgezogen, vermutlich war die Stelle also schlecht lesbar. Die abweichenden Lesarten sind als Verlesungen einzelner Buchstaben (con anstelle von res) sowie der falschen Auflösung einer quoque-Kürzung zu erklären. Letzteres führt zum Fehlen einer Silbe und damit zu einem unvollständigen Vers, weshalb sacras dann als sacratas gelesen wurde.
- spinaque Arens.
Anmerkungen
- Arens, Liber ordinarius, S. IX; Müller, Geschichtsschreibung, S. 11; Abel, Altäre V, S. 172. Im Liber ordinarius ist von der Nachtragshand des 15. Jh. die Anbringung am Fuße des Kreuzaltars vermerkt, eine Hand wohl des 17. Jh. ergänzt, dass der Inschriftenträger mit den Versen an der Tumba befestigt war. Zu den Standorten und dem Abbruch des Kreuzaltars 1808 vgl. Arens, Liber ordinarius, S. 260.
- Zu den Kruzifixen auf der Säule hinter dem Kreuzaltar vgl. Nr. 5 und Nr. 91.
- StadtA Essen, Rep. 100, Nr. 2601 (ohne Paginierung).
- Müller, Geschichtsschreibung, S. 11.
- Zu Jacob Ortmann und seinen Recherchen für Jodocus Nünning vgl. Einleitung 3.
- Vgl. Nr. 5.
- Arens, Kapitel, S. 147, Anlage III.
- So kann jedenfalls das Dokument von 1413 verstanden werden. Es werden zwei Gruppen von Herrenreliquien genannt: Reliquien vom Körper und vom Blut des Herrn, vom Kreuzesholz, von den Kleidern und vom Ort des Grabes wurden in dem Corpus vorgefunden, während Reliquien vom Grab, von der Geißelsäule, vom Kalvarienberg und von der Dornenkrone hinzugefügt wurden („Hec sanctuaria […] cum reliquiis infrascriptis et additis diligenter reclusa:“ [es folgt die Aufzählung der hinzugefügten Reliquien]), vgl. Arens, Kapitel, S. 147, Anlage III. Die Reliquienpäckchen waren zusammen in zwei im 11. Jahrhundert hergestellten Einschlagtücher eingewickelt, vgl. Kat. Essen 2009, S. 230, Nr. 108 (A. Stauffer).
- Ebd., S. 147f.
- Vgl. Nr. 91.
- Vgl. Kat. Essen 2009, S. 140, Nr. 53 (B. Falk).
- Kat. Essen 2009, S. 230, Nr. 108 (A. Stauffer).
- Vgl. z. B. DI 35 (Stadt Braunschweig 1), Nr. 1, 2, 6; DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 14 C; zum Erpho-Kreuz vgl. Kat. Paderborn 2006, S. 144, Nr. 138 (M[ichael] P[eter]). Zwei inschriftlich ausgeführte, metrisch gebundene Reliquienbezeichnungen sind aus dem Aachener Dom überliefert, vgl. DI 31 (Aachen Dom), Nr. 62a, 121. Eine davon befand sich wie die Essener Inschrift auf einer Tafel an einem Altar. Sie kann nur mit dem Terminus ante quem 1442 datiert werden. Nr. 121 wird unter Vorbehalt ins 16. Jh. eingeordnet.
- Zur Entwicklung des Reims vgl. Bayer, Entwicklung, S. 120ff.
- Vgl. E. Iserloh, Art. Abendmahl III. 2. Mittelalter, in: TRE 1 (1977), S. 89–106.
- Analecta Hymnica 54, S. 257, Nr. 167; 34, S. 48, Nr. 51; 37, S. 40, Nr. 37; 41, S. 110, Nr. 12.
Nachweise
- MüA, Hs. 19, fol. 70v.
- StadtA Essen, Rep. 100, Nr. 2601 (ohne Paginierung).
- Müller, Geschichtsschreibung, S. 11 (= Nünning).
- Arens, Kapitel, S. 117f., Anm. 2.
Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 73† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0007303.
Kommentar
Das Kruzifix wurde im dritten Viertel des 10. Jahrhunderts von der Essener Äbtissin Ida gestiftet, die Tafel mit der Stifterinschrift hat sich erhalten.6) Bei diesem Kreuz hat es sich laut der Beschreibung in der Inschrift um ein goldenes Gemmenkreuz gehandelt. 1413 wurde das Kruzifix von der Säule herabgenommen und restauriert. Aus einem aus diesem Anlass verfassten Dokument geht hervor, dass dabei im Corpus Herrenreliquien wiederentdeckt wurden, die seit 200 Jahren in Vergessenheit geraten waren.7) Dieser Reliquienbestand wurde anscheinend durch weitere Herrenreliquien ergänzt.8) Die genannten Reliquien stimmen weitgehend mit den in der Inschrift angeführten überein, nur das Blut Christi und eine Reliquie vom „Ort des Grabes“ („de loco sepulcri“) werden in der Inschrift nicht erwähnt; letzteres vielleicht, weil in der Inschrift bereits eine Reliquie vom Grab genannt ist. Nachdem die Reliquien den Gläubigen gezeigt worden waren, wurde das restaurierte Kreuz mit dem reliquiengefüllten Corpus zurück auf die Säule gestellt. Aus Anlass von Arbeiten am Gewölbe wurde das Kruzifix 1454 nochmals abgenommen.9) Dabei wurde der Corpus geöffnet und die Reliquien ausgestellt. Anschließend montierte man das Kruzifix wieder auf der Säule.
Bereits Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts wurde dieses goldene Kruzifix durch ein silbernes ersetzt.10) Der dafür angefertigte Corpus ist heute auf einer Nachbildung des im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten spätgotischen Kreuzes angebracht.11) Die früher in diesem Corpus enthaltenen Reliquienpäckchen stammen aus dem 10. und 11. Jahrhundert und haben sich vor der Herstellung des silbernen Kreuzes vermutlich im Corpus des goldenen Gemmenkreuzes befunden.12) Sie lassen sich teilweise durch beiliegende Authentiken identifizieren, die auch einige Herrenreliquien bezeichnen. Bei den 1413 hinzugefügten Herrenreliquien muss es sich also um solche gehandelt haben, die bereits im Stift vorhanden gewesen waren.
Die Nachrichten von 1413 und 1454 lassen vermuten, dass die Inschrift zu einem dieser beiden Zeitpunkte angefertigt wurde. Allerdings könnte auch bereits die Herstellung des ottonischen Kruzifixes im 10. oder die Ergänzung des Reliquienbestandes im Corpus und seine Einhüllung in zwei größere Tücher im 11. Jahrhundert den Anlass für die Herstellung einer Inschrift gegeben haben. Es erscheint aber wenig wahrscheinlich, dass die vorliegende Inschrift zu so einem frühen Zeitpunkt verfasst wurde. Zwar sind Reliquienkreuze dieser Zeit häufig mit Reliquienbezeichnungen ausgestattet, es handelt sich dabei aber meist um einfache Aufzählungen und nicht um metrisch gebundene Inschriften.13) Einer Entstehung bereits im 10. Jahrhundert steht die Reimqualität entgegen, da zweisilbig reine Reime, die sich in der Inschrift in fünf der zehn Verse finden, zu dieser Zeit nicht gebräuchlich waren, sondern erst im 11. Jahrhundert zunehmend Verwendung fanden.14)
Der Anlass für die Herstellung der Inschrift könnte die Wiederauffindung und Ergänzung des Reliquienbestandes 1413 gewesen sein. Unklar bliebe dann aber die Erwähnung der verstorbenen seniores, die im ersten Vers als diejenigen bezeichnet werden, die etwas aufgeschrieben haben. Deshalb ist es naheliegender, die vollständige Inschrift mit der erneuten Demontage des Kruzifixes 1454 in Verbindung zu bringen. Der Hinweis auf die seniores könnte sich dann auf das Dokument von 1413 beziehen, in dem der Reliquienbestand im Corpus aufgezählt wird, oder auch auf eine erste, 1413 angefertigte Inschrift, die 1454 erneuert und mit dem einleitenden ersten Vers versehen worden sein könnte. In diesem Fall hätte es sich bei der vermutlich 1454 angefertigten Inschrift um eine kopiale Überlieferung einer Inschrift von 1413 mit dem zusätzlichen ersten Vers gehandelt. Ob die Gebetsaufforderung in den letzten beiden Versen dann vielleicht ebenfalls ein späterer Zusatz war, kann nur vermutet werden.
Die Bezeichnung der Hostie als den „geweihten, von der Jungfrau geborenen Körper“ ist im Zusammenhang mit dem Streit um die Realpräsenz Christi in der Eucharistie zu verstehen.15) Bereits im Frühmittelalter wurde diskutiert, ob es sich bei der geweihten Hostie um den tatsächlichen, von der Jungfrau geborenen Leib Christi, d. h. den historischen Leib, handelt, oder um den des nach der Himmelfahrt zur Rechten Gottes sitzenden Christus, d. h. den sakramentalen Leib. Das Thema blieb auch in den folgenden Jahrhunderten bis in die Reformationszeit präsent; ein Hinweis auf die Datierung der Inschrift ergibt sich daraus nicht. Der Vers „Ave verum corpus natum de Maria virgine“ ist als Anfang einer Sequenz und in weiteren liturgischen Texten seit dem 14. Jahrhundert belegt.16)