Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 55 Ruhr Museum E. 13. Jh.–1. H. 14. Jh.

Beschreibung

Zwei Schreibtafeln.1) Holz, Bienenwachs. Beide Tafeln sind auf Vorder- und Rückseite mit einer Wachsschicht belegt, die als Beschreibstoff diente. Auf der Vorderseite einer Tafel wurde ein Briefkonzept (A) eingeritzt, auf der Rückseite die Nacherzählung einer Fabel von Äsop (B) und als Feder- bzw. Griffelprobe ein Sprichwort und Einzelbuchstaben (C). Auf der zweiten Tafel sind nur auf der Rückseite Inschriftenfragmente (D) (Briefkonzept?) erhalten. Die Tafeln wurden 1926 bei Ausgrabungen am Essener Burgplatz in einer Latrine gefunden.2) Die nach dem Fund angefertigten Fotos zeigen, dass zu diesem Zeitpunkt noch mehr von der Wachsschicht und damit auch mehr Schrift erhalten war. Beide Tafeln wurden 2001–2003 restauriert.3)

Ergänzt nach den Fotos aus der Grabungsdokumentation des Ruhr Museums.4)

Maße: H. ca. 5,5 cm; B. 12,5 cm (jeweils); Bu. ca. 0,2 cm.

Schriftart(en): Frühgotische Minuskel.5)

  1. A

    uelud [fides si[ne - - -]]a) (et) i(n) [.]al sic nimiru(m) di/l(e)c(ti)o u(e)l [amicitia s[ine - - -]]ḷạa) e(st) (et) inanis. Sane / lectis v(est)[ris l(itte)ris [ – – – ]]b) tota m(en)te (et) gauisus cu(m) / intellexi uos uelle int(ra)re n(ost)r(u)m opid(um)c) ad mora(n)d(um) q(uia) h(oc) fui / desid(er)ansd) multis annis. Quo ci(r)ca uob(is) sig(ni)fico (et) dema(n)do / me p(er)scrutatu(m) e(ss)ee) aream ut autumof) uobis (con)uenie(n)tem / domui pone(n)de alijs(que) h(ab)itac(u)l(is) si(mi)l(ite)r (con)strue(n)dis q(uem) potestis p(ro) xx/xi · marcisg) (com)p(ar)are. Quare uob(is) (con)sulo dilige(n)ter ut p(rae)t(er)missish) / quibusl(ibet) op(er)ib(us) curetis t(r)ansireg) ad n(ost)r(u)m opidu(m)c) in q̣ụ(ọ)i) b(re)ui ad ex/amina(n)dum p(er)(sona)l(ite)r (et) uide(n)du(m) si iace(n)tia s(i)u(e) situs p(rae)d(ic)te aree uob(is) / (con)uenie(n)s sit (et) place(n)s ego n. [paratus e(r)o cu(m) m]eisj) notis (et) actis / adop(er)ari uobis fidel(ite)r (et) asta(r)e [ad (com)p(ar)and(am) d(ic)tam area]mj) si alias uob(is) /plac(uit) ad em(en)ndum.

  2. B

    ṣ[up(er)]f̣luak) / [ – – – ]pore[.]l) fug[……] / fugien[.]m) aut(em) timueru(n)t an(te) (et) ṛẹṭ(ṛọ) / Qui curre(n)tes uener(un)t ta(n)de(m) ad pallude(m)c) / ap(u)dn) q(uam) sta(n)tes delib(er)auer(un)t in cordib(us) suis p(rae) ti(m)ore /an uelle(n)t se s(u)bm(er)g(er)e an n(on) / [Cu(m)]j) (er)goi) p(ro) met(u) sic cogitar(ent) q(uid) f(a)c(t)uri e(ss)ent / [uideru(n)t]o) ranas si(mi)li m(od)o t(er)ritas e(ss)e / [Quia ip(s)e p(rae) m]etu m(er)ge(re)nt se s(u)bito s(ub) aquis. / [syluis [ – – – ]]p) [ – – – ]entiap) (con)stat / [de quo cesseru(n)t t(amen) lepore]sj) nimiu(m) stupef(ac)ti. / [vndiq(ue) curre(n)tes s(ed) (con)]tinuoj) timuerunt.6)

  3. C

    o(m)n(ia) dat do(min)(us) n(on) h(abe)sq) (er)goi) / min(us)7) / min(us) / g / g / gṃ[.]

  4. D

    [ – – – ]j) [ – – – ]eg[.]r) cogi(ta)bil(is) utile e(st) ip[.]/ [ – – – ]linisj). Q(u)oi) c(ir)ca honestati u(est)re / [ – – – ] quor(um) vndiq(ue) sonat fama / [ – – – ]j) filios 10 · (et) h(abet) scolares rogans / [ – – – ]j) qs) 20 · s(olidos) locetis ad expe(n)sas alicui(us) / [ – – – ]

Übersetzung:

Gleichwie Treue ohne (…), so ist in Wahrheit Wertschätzung oder Freundschaft ohne (…) und unnütz. Fürwahr, nachdem ich euren Brief gelesen hatte, (…) von ganzer Seele und erfreut, als ich ersehen habe, dass ihr in unsere Stadt kommen wollt, um zu bleiben, weil ich dies seit vielen Jahren gewünscht habe. Deswegen zeige und vertraue ich euch an, dass ich ein Areal erkundet habe, das, wie ich meine, passend für euch ist, um darauf ein Haus zu bauen und in ähnlicher Weise weitere Wohnungen zu errichten, und das ihr für 31 Mark kaufen könnt. Aus diesem Grund rate ich gewissenhaft dazu, dass ihr, unter Hintanstellung aller anderen Tätigkeiten, in Kürze in unsere Stadt zu gehen sucht, um persönlich zu untersuchen und zu schauen, ob die Lage und die Gegend des oben genannten Areals euch passt und gefällig ist. Ich, N., werde bereit sein, mit meinen Briefen und Akten treu für euch tätig zu sein und euch beizustehen beim Kauf der besagten Hofstätte, wenn es euch gefällt, anderswo zu kaufen. (A) Auf der Flucht haben sie sich aber gefürchtet, vorher und (…). Als sie umher rannten, sind sie endlich an einen Sumpf gekommen. Bei diesem stehend haben sie in ihren Herzen aus Furcht erwogen, ob sie sich ertränken wollten oder nicht. Als sie so also aus Angst überlegt haben, was sie machen sollten, haben sie gesehen, dass die Frösche auf ähnliche Weise erschreckt waren, da sie selbst aus Angst sofort ins Wasser untergetaucht sind. (…), steht fest. Davor wichen die sehr erstaunten Hasen, von allen Seiten zusammeneilend, zurück, fürchteten sich jedoch sofort (wieder) (?). (B) Gott gibt alles, und du hast (!) dennoch nicht weniger. (C) (…) denkbar nützlich ist (…) eurem Ansehen (…) deren guter Ruf ertönt von überall (…) zehn Söhne und hat fragende Schüler (…) du sollst 20 Schillinge anlegen für die Ausgaben von irgendjemandem (…) (D)8)

Versmaß: Pentameter, leoninisch zweisilbig rein gereimt, mit prosodischem Verstoß (C).

Kommentar

Die Texte wurden von geübter Hand in einer flüssig geschriebenen Buchschrift ausgeführt.9) Als Merkmale der frühgotischen Minuskel sind beispielsweise die spitzwinklig angesetzten Anstriche sowie Bogenverbindungen bei de, do, po und pa zu erkennen. Die Schrift weist nur eine leichte Tendenz zur Brechung auf. Fortschrittlich erscheint a, das schon durchgehend zweistöckig ausgeführt ist, während in Inschrift A noch langes s am Wortende verwendet wurde, was etwas antiquiert wirkt. i ist noch überwiegend ohne i-Punkt gestaltet. Dies könnte zwar ebenfalls für eine ältere Schriftstufe sprechen, ist vermutlich aber eher dem Material Wachs geschuldet und für die zeitliche Einordnung der Inschrift nicht aussagekräftig. Die Schrift zeigt Ansätze von Kursivschreibung, z. B. in den Verbindungslinien zwischen m, n und u, die teilweise in einem Zug geschrieben wurden, sowie in den Schleifen an den Oberlängen der d, die vereinzelt mit dem Nachbarbuchstaben verbunden sind (z. B. in fides und demando in Inschrift A). f und langes s haben Unterlängen. r wurde als Bogen-r und in seiner kursiven Form ausgeführt. Von den Majuskelbuchstaben wurde nur Q zweimal mit Doppelstrichen verziert.

Die Inschriften weisen einige mittellateinische Besonderheiten auf. Bei adoperari hat das Präfix keine besondere Bedeutung, die Form unterscheidet sich inhaltlich nicht von dem Verb ‚operari’.10) Bei der Verkürzung opidum für ‚oppidum’ liegt eine verbreitete Geminatenvereinfachung vor, d. h. statt Doppelkonsonant wird der einfache Konsonant geschrieben.11) Bei pallude(m) ist die Verdoppelung von l zu ll festzustellen. Auch dieses Phänomen begegnet oft in mittelalterlichen Texten.12)

Schreibtafeln mit Wachs wurden häufig zum Notieren von Rechnungen und Briefkonzepten benutzt, kamen aber auch oft im Schulunterricht zum Einsatz.13) Das Diptychon hat zuletzt für die Aufzeichnung von Briefkonzepten, der Nacherzählung einer Fabel und eines metrisch gebundenen Sprichworts14) als Griffelprobe gedient. Die Erzählung und die Erwähnung von scolares (D) weisen darauf hin, dass auch die Essener Täfelchen in einer Schule benutzt wurden. Diese Vermutung wird durch das primitive Latein und durch den Fundort der Tafeln, eine Latrine am Burgplatz, gestützt. Am Burgplatz befand sich auch die 1396 erstmals bezeugte Jungenschule.15) Hier wurden sowohl der geistliche Nachwuchs für das Herrenkapitel des Stifts als auch Laien unterrichtet.16)

Fabeln waren seit der Antike fester Bestandteil des Schulunterrichts.17) Sie wurden für Lese- und Schreibübungen, zum Erlernen von Grammatik und Rhetorik sowie zur Vermittlung von Moralvorstellungen und Verhaltensmaßregeln eingesetzt. In mittelalterlichen Texten über die Gestaltung von Schulunterricht wird Äsop als einer der Autoren genannt, die bereits im Elementarunterricht gelesen wurden.

Vermutlich handelt es sich auch bei den Briefkonzepten um Übungstexte aus dem Schulunterricht. Der Hintergrund des in Inschrift A beschriebenen, wohl fiktiven Immobiliengeschäfts könnte im Zusammenhang stehen mit Versuchen des Stadtregiments, Neubürger zu gewinnen. Das Angebot, einen geeigneten Baugrund zu finden und dessen Verkauf an neu in die Stadt gezogene Personen zu vermitteln, spricht für eine aktive Zuwanderungspolitik. Eine solche lässt sich für viele Städte im Spätmittelalter feststellen, da steigende Einwohnerzahlen oftmals die Voraussetzung für Wirtschaftswachstum bedeuteten.18)

Textkritischer Apparat

  1. Fehlstelle im Wachs (ca. 20 Buchstaben).
  2. Fehlstelle im Wachs (ca. 20 Buchstaben). Einige untere Schaftenden sind sichtbar.
  3. Sic!
  4. Davor ist ein Wort durchgestrichen.
  5. Beide e über der Zeile nachgetragen.
  6. Es folgt ein graphisches Symbol (Kreis mit Rosette).
  7. a übergeschrieben.
  8. Die Schriftreste am Rand gehören zu einer älteren, nicht ganz ausgelöschten Inschrift.
  9. o hochgestellt.
  10. Fehlstelle im Wachs.
  11. Fehlstelle im Wachs. Im Oberlängenbereich Bogen und Kürzungsstrich zu erkennen. Die in derselben Zeile folgenden Wörter gehören zu Inschrift C.
  12. Fehlstelle im Wachs, vermutlich zu einer Form von ‚lepor’ zu ergänzen. Am Zeilenanfang fehlen etwa 12 Buchstaben.
  13. Vielleicht fugie(n)t[es]?
  14. d hochgestellt.
  15. Fehlstelle im Wachs. Der linke Teil der Wachsschicht fehlt bei den Zeilen 7 bis 12. 1926 war die gesamte Wachsschicht mit Ausnahme der ersten beiden Zeilen noch intakt.
  16. Auf der Fotografie von 1926 sind etwa zwei Drittel der Zeile unleserlich, weil eine ältere Inschrift nicht vollständig entfernt worden ist. Von dem noch lesbaren sylvis bis –entia fehlen etwa 20 Buchstaben.
  17. Sic! Das Sprichwort hat an dieser Stelle habet. Ob es sich um einen Schreibfehler oder um eine absichtliche Abweichung von dem Sprichwort handelt, ist nicht festzustellen.
  18. Die obere Hälfte der Zeile ist zerstört, die Buchstaben sind nicht mehr lesbar.
  19. Mit Kürzungszeichen.

Anmerkungen

  1. Kulturhistorische Sammlungen / Mittelalter und Frühe Neuzeit; Altbestand, Inv.-Nr. U.Es.10/11 und U.Es. 12/13. Ich danke Harald Drös, Heidelberg, Helga Giersiepen, Manfred Groten und Ulrike Spengler-Reffgen, alle drei Bonn, für ihre Hilfe bei der Lesung und Übersetzung der Inschriften.
  2. Kat. Essen 2004, S. 92, Nr. 28 (J. Gerchow).
  3. Vgl. Moritz, Wachstäfelchen, passim.
  4. Ich danke Reinhild Stephan-Maaser, Ruhr Museum Essen, die mir Abzüge dieser Fotos zur Verfügung gestellt hat.
  5. Die Bezeichnung der Schriftart ist hier im Sinne der Buchschrift zu verstehen.
  6. Aesop, fab. 134; vgl. Thiele, Der Lateinische Äsop, S. 112f., Nr. 35.
  7. Walther, Proverbia 3, Nr. 19969; vgl. ders., Proverbia, Nova series 8, Nr. 39226a3.
  8. Die Inschrift D ist zu fragmentarisch für eine sinnvolle Übersetzung.
  9. Zur Schrift vgl. Beck/Beck, Schrift, S. 37ff., 42ff.
  10. Vgl. Stotz, Handbuch 2, V, § 78.3.
  11. Ebd., 3, VII, § 209.1.
  12. Ebd., 3, VII, § 241.1.
  13. Wattenbach, Schriftwesen, S. 76–80. Zu den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten vgl. die Zusammenstellung der bekannten Wachstafeln bei Lalou, Inventaire, S. 248–278. Zu Wachstafeln aus einer Schule vgl. Engel/Jacob, Leben, S. 111, Abb. 40. Die Abb. zeigt die in der Kloake der St.-Jacobi-Stadtschule in Lübeck gefundenen drei Schreibtafeln mit zugehörigem Schreibgerät aus dem 14. Jh.
  14. Vgl. Anm. 6.
  15. Ribbeck, Gymnasium, S. 10. Er bezieht sich auf die Nennung einer „scola masculorum“, die in einer Abschrift Kindlingers erwähnt wird, geht aber nicht weiter auf diese Quelle ein.
  16. Zur Ausbildung der Essener Kanonissen im Früh- und Hochmittelalter vgl. Bodarwé, Sanctimoniales, S. 75–86.
  17. Grubmüller, Meister Esopus, S. 87–97.
  18. Gerber, Einbürgerungsfrequenzen, S. 253; zur Bevölkerungsentwicklung in Essen vgl. Feggeler, Sozialstruktur, S. 51–56.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 55 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0005505.