Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 49 Werden, Schatzkammer St. Ludgerus 2. H. 13. Jh.

Beschreibung

Schüssel (sog. Nap des heiligen Liudger).1) Silber, teilvergoldet. Die flache Schüssel hat einen hochgezogenen Rand, in den außen zwischen Linien umlaufend eine Reliquienbezeichnung graviert ist. Am Boden ist eine flache, runde Kapsel mit etwa 8,8 cm Durchmesser eingelassen, in der Reliquien enthalten sind.2)

Maße: H. 4,3 cm; Dm. 19,8–20,1 cm; Bu. 0,5–0,6 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/2]

  1. + IN · HOC · CIFO · CO(N)TINET(VR) SANIIVISa) ·S(AN)C(T)I LVDG(ER)I ·ET PARSb) · DE · CINGVLO · EIVS · DE · S(ANCTO) ·HVP(ER)TO · DE · S(ANCTO) · GEORGIO · DE · SOCIIS · S(ANCTI)c) · MAVRICII · DE · CILICIO · EIVSd) ·

Übersetzung:

In diesem Becher ist Blut des heiligen Liudger und ein Teil seines Gürtels, (Reliquien) vom heiligen Hubertus, vom heiligen Georg, von den Gefährten des Mauritius und von dessen härenem Gewand enthalten.

Kommentar

Der Beginn der Inschrift ist durch ein Invokationskreuz markiert. Die Inschrift ist in teilweise konturierten Buchstaben graviert, breite Buchstabenteile sind häufig schraffiert. Als Worttrenner, die mit zwei Ausnahmen regelmäßig verwendet wurden, dienen zwei übereinander gesetzte Punkte, nach dem letzten Wort der Inschrift sind drei Punkte als Schlusszeichen übereinander gesetzt. Als Kürzungszeichen wurden gerade, in Kontur ausgeführte Striche über der Oberlinie, keilförmige Haken (für die Suspension der SANCTI mit Ausnahme von S(AN)C(T)I LVDG(ER)I, das durch eine Kontraktion gekürzt ist), ein in einfacher Linie gravierter -ur-Haken und die von einem eingeschnürten, konturierten Balken mit gewellten Enden durchgestrichene Unterlinie des P für PER verwendet. Das S-förmige Kürzungszeichen über SANIIVIS ergibt keinen Sinn, ebenso wenig wie die zwei dicht aneinander gestellten I anstelle des G. Die Buchstaben zeigen bereits die Flächigkeit der ausgebildeten gotischen Majuskel. Die Schaft- und Balkenenden sind verbreitert, besonders deutlich und keilförmig beispielsweise bei A, manchen I und L, T, V. Bei L ist zudem der Balken teilweise als Dreieck ausgeführt, besonders in LVDG(ER)I. Die Bögen weisen durchgehend Schwellungen auf, deren Innenkontur meist gerade ist, besonders deutlich bei C, D und E, weniger ausgeprägt bei den O. Bei einzelnen C, D, E und G sind Ansätze spitz ausgezogener Bogenschwellungen zu erkennen, bei den Cauden der R aufgesetzte, vereinzelt auch spitze (bei PARS) Schwellungen. Bei C, E, G und S sind die Bogenenden serifenartig dreieckig und teilweise stark verbreitert, bei C und E berühren sie sich entweder direkt oder sind durch einen dünnen Abschlussstrich verbunden. Bei S ist der Mittelteil stark geschwollen. Als Sporen sind durchgehend dünne, rechtwinklig angesetzte Striche eingesetzt, die sich teilweise zu Abschlussstrichen verbinden, beispielsweise bei allen A, einem H, einem N und dem M. Beim runden N überschneidet sich der lange Sporn mit der ausgezogenen Zierlinie des Bogens. Der eingerollte Bogen des G in LVDG(ER)I weist Zierelemente auf, die wie ein kleines florales Element wirken. Schräg- und Mittelbalken bei A, E, H und N sind meist als dünne Linie ausgeführt, teils mit doppelter Zierlinie, wobei sich der Mittelbalken bei einigen E zum Abschlussstrich hin verbreitert.

Die Flächigkeit, die konsequent eingesetzten Abschlussstriche, die Ansätze zu spitz ausgezogenen Bogenschwellungen und aufgesetzten spitzen Schwellungen weisen auf die Herstellung der Inschrift nicht vor der Mitte des 13. Jahrhunderts hin.3) Die Inschrift wird vor dem 14. Jahrhundert graviert worden sein; das ist aus den nur sparsam eingesetzten unzialen und runden Buchstabenformen (E, eingerolltes G, ein rundes N) zu schließen. Außerdem sind nach dieser Zeit vermehrt Inschriften überliefert, bei denen die Flächigkeit und Abgeschlossenheit der Buchstaben deutlich stärker ausgeprägt sind als bei der Inschrift auf der Schüssel.4)

Die Schüssel selbst wird unterschiedlich vom 11. bis ins 13. Jahrhundert datiert und häufig mit den sog. Hanseschüsseln des 11. und 12. Jahrhunderts verglichen.5) Diese Schalen aus Bronze zeichnen sich allerdings durch einen schmalen, waagrecht ausgebogenen Rand und durch Gravuren in der Innenseite aus,6) weshalb der Vergleich keinen direkten Datierungshinweis für die Werdener Schüssel bietet. In frühen Publikationen wurde die Schüssel als Patene zu dem sog. Kelch des heiligen Liudger bezeichnet.7) Dies wurde bereits von Alexander Schnütgen,8) Wilhelm Diekamp und später von Victor H. Elbern zurückgewiesen, wobei letzterer besonders auf die Herkunft des Kelches aus Helmstedt hingewiesen hat.9)

Die Schüssel ist in dem 1512 von Johannes Cincinnius aufgeschriebenen Reliquienverzeichnis als „Nap s. Ludgers, darynne helichdom besloeten is van s. Jorgen, van s. Hubert und van der geselschop s. Mauritii“ bezeichnet.10) Die in der Beschreibung der Schüssel nicht enthaltene Blutreliquie des heiligen Liudger ist in dem Verzeichnis im Zusammenhang mit einem goldenen Bild des Heiligen genannt. Bereits in der Vita secunda wird berichtet, dem Heiligen sei nach seinem Tod Blut aus der Nase geflossen, zum Zeichen dafür, dass er wunschgemäß in Werden bestattet werden würde.11) Elbern sieht in der Umgestaltung einer Schüssel für Blutreliquien die Idee eines „redenden Reliquiars“, das von seiner Form her das Blut des Heiligen aufgefangen haben könnte.12) Das Reliquienverzeichnis führt auch Liudgers Gürtel „dar men swanger frawen mede umbgordet“ gesondert auf. Das härene Gewand des heiligen Mauritius findet keine Erwähnung. Aus dem Verzeichnis geht auch hervor, dass die Schüssel als Trinkgefäß gegen Fieber und andere Krankheiten benutzt wurde. Cincinnius berichtet, die aufgezählten Reliquien würden alljährlich bei der Heiltumsschau am Kirchweihtag (2. Juli) gezeigt. Der heilige Hubertus ist zweimal auf einem um 1490 für das Kloster Werden geschaffenen Flügelaltar abgebildet.13) Vermutlich befanden sich in dem 1537 errichteten Altar in der Stephanskirche Reliquien von ihm. Der heilige Mauritius wird ebenfalls im Zusammenhang mit einer Altarweihe genannt, zu seiner Ehre (und zur Ehre weiterer Heiliger) wurde 1630 ein Altar in der Abteikirche geweiht.14)

Textkritischer Apparat

  1. Sic! Statt SANGVIS, wie das Wort meist wiedergegeben wird. Zwischen A und N zusätzliches S über der Zeile.
  2. Zwischen R und S befindet sich ein Worttrenner.
  3. S(ANCTI)] Fehlt in KDM Essen.
  4. DE CILICIO EIVS wird von KDM Essen hinter DE CINGVLO EIVS eingefügt.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 2.
  2. Vgl. Diekamp, Vitae, S. 277.
  3. Kat. Düsseldorf 1880, S. 136, Nr. 568; Linas, Expositions, S. 54 und KDM Essen, S. 98 datieren die Inschrift an den Anfang des 13. Jh.
  4. Vgl. z. B. DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 22; DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 80; DI 64 (Landkreis Querfurt), Nr. 25; Fritz, Goldschmiedekunst, S. 219, Nr. 242, 243 (Patene aus Klosterneuburg). Vgl. aber bereits die Flächigkeit und die ausgeprägten Sporen bei DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 69.
  5. Vgl. z. B. KDM Essen, S. 98; Elbern, Erinnerungen, S. 19f.; Kat. Essen 1999, S. 510, Nr. 372 (N[ikolaus] G[ussone]).
  6. Kat. Speyer 1992, S. 445 (S[chulze]-D[örrlamm]); Kat. Paderborn 2006, S. 204, Nr. 290 (W. S[chlüter]).
  7. Aus’m Weerth, Kunstdenkmäler 1,2, S. 39.
  8. Schnütgen, Bericht, S. 206.
  9. Elbern, Erinnerungen, S. 20.
  10. Diekamp, Vitae, S. 276.
  11. Ebd., S. 83. Vgl. auch Diekamp, Reliquien, S. 53, 68f.
  12. Elbern, Kelch, S. 7.
  13. Vgl. Nr. 80.
  14. Overham, Annalen, S. 114.

Nachweise

  1. LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 946 (ohne Paginierung), mit Zeichnung.
  2. aus’m Weerth, Kunstdenkmäler 1,2, S. 39, Nr. 4, mit Übersetzung, Tafelbd. 1,2, Tf. 29,4 (Zeichnung).
  3. Kat. Münster 1879, S. 14, Nr. 271.
  4. Kat. Düsseldorf 1880, S. 136, Nr. 568.
  5. Linas, Expositions, S. 54.
  6. Diekamp, Vitae, S. 276, Anm. 5.
  7. ders., Reliquien, S. 70, Anm. 4.
  8. KDM Essen, S. 98.
  9. Kraus, Inschriften 2, S. 290, Nr. 629,2, mit älterer Literatur.
  10. Stüwer, Verehrung, S. 194, Anm. 63.
  11. Elbern, Kelch, S. 7.
  12. Kat. Essen 1999, S. 510, Nr. 372, mit Abb. und Übersetzung (N. G[ussone]).

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 49 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0004904.