Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 42† Rellinghausen, St. Lambertus 10.–12. Jh.?

Beschreibung

Grabgedicht für eine Mathilde. Das tumbenartige Grabmal befand sich im nördlichen Teil des Chors.1) Es war mit drei- und viereckigen Steinplättchen aus Marmor verziert. Die nur fragmentarisch überlieferte Inschrift mit Totenlob, Gebetsaufforderung als Anrede an den Leser und Fürbitte war umlaufend angebracht.2) Das Grabmal und die Inschrift werden in einem Prosatext beschrieben bzw. wiedergegeben, der in zwei Fassungen durch Abschriften von Nikolaus Kindlinger (gest. 1819) auf uns gekommen ist.3)

Nach Kindlinger.4)

Maße: H. ca. 15 cm.5)

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. Matildt [ – – – ]a) nostrumb) fidissima cura sororumc)[ – – – ] hincd) quisque transiverite) [ – – – ][ – – – ]vis [ – – – ] orandof) fidelesg)[ – – – ]bus huic misereh) Deusi)

Übersetzung:

Matildt, treueste Fürsorgerin unserer Schwestern, (…) wer auch immer hier vorübergeht, der (möge …) durch Beten (…). Gott, erbarme dich ihrer.6)

Versmaß: Zwei elegische Distichen, Vers 1 zweisilbig assonierend, Vers 4 mindestens einsilbig rein gereimt.

Kommentar

Bei der ältesten fassbaren Überlieferung handelt es sich um die Wiedergabe der Grabinschrift in einem verlorenen Prosatext, von dem um 1592 eine Abschrift angefertigt wurde. Der Abschreiber vermerkte zusätzlich am Rand, dass er die Grabinschrift „beschädigt und zertrümmert“ am 11. April 1592 vorgefunden habe. Diese Abschrift diente wiederum Kindlinger als Vorlage für seine hier als Version I bezeichnete Abschrift des Prosatextes. Die darin enthaltene Überliefung der Inschrift ist mithin mindestens drei Stufen vom Original entfernt. Von dem ersten Drittel der Abschrift von ca. 1592 wurde 1644–1679 eine von Essener Kanonikern beglaubigte (heute verlorene) Kopie angefertigt, die ebenfalls in einer Kindlinger’schen Abschrift (= Version II) vorliegt und eine leicht abweichende Version der Grabinschrift enthält.7) Die Grabinschrift ist auch in den Annalen von Gregor Overham (gest. 1687) und im Katalog der Essener Äbtissinnen bei Gabriel Bucelinus enthalten. Beide schöpften aus der beglaubigten Kopie (= Version II) oder einer Abschrift davon, wobei Bucelinus aber zusätzlich auch der vollständige Text von Version I vorgelegen haben muss.8)

Das Grabdenkmal wird in dem Prosatext und von dem Steeler Vikar Jacob Ortmann als leicht erhöhte und mit Opus sectile verzierte Tumbenplatte beschrieben.9) Die nicht sehr zahlreichen bekannten Grabdenkmäler, die in dieser Technik mit zugeschnittenen Steinplatten ausgestattet worden sind, stammen aus dem 10. bis 12. Jahrhundert,10) weshalb auch für die Rellinghauser Grabinschrift die Einordnung in diesen Zeitraum in Erwägung gezogen wird. Die Überlieferungen der Grabinschrift sind zu fragmentarisch, als dass daraus mehr als schwache Anhaltspunkte für die Datierung gewonnen werden können.

Der erste und der vierte Vers sind einsilbig rein gereimt. Diese Reimqualität kommt seit dem Beginn des 9. und besonders häufig bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts vor, findet aber auch danach noch Verwendung.11) Die Inschrift wird bei Kindlinger (in Version I)12) und bei Overham in Majuskeln mit eingestellten Buchstaben in nostrum und quisque wiedergegeben. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Inschrift in romanischer Majuskel ausgeführt wurde und damit grob in die Zeit zwischen 10. und der Mitte des 13. Jahrhunderts datiert werden kann.13) Die Reimqualität und die Ausführung der Inschrift sowie die Gestaltung des Inschriftenträgers weisen also auf eine Entstehung zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert hin.

In dem verlorenen Prosatext, allen darauf basierenden Überlieferungen und in den Äbtissinnenkatalogen wird das Grabmal der Essener Äbtissin Mathilde (um 973–1011) zugeordnet und/oder behauptet, sie habe das Stift Rellinghausen gegründet.14) Dass diese Identifizierung falsch ist, geht bereits aus einer Anweisung im Liber ordinarius der Essener Stiftskanoniker vom Ende des 14. Jahrhunderts hervor, in der die Grabbeleuchtung bei der Feier bestimmter Anniversarien, darunter auch dem der Äbtissin Mathilde, der „mat[er] ecclesie nostre“, beschrieben wird.15) Das Grab der Essener Äbtissin befand sich also in Essen und nicht in Rellinghausen.16) Ob es sich bei der anderen, in Rellinghausen bestatteten Mathilde um die Stiftsgründerin handelte oder ob die Essener Äbtissin Mathilde das Stift Rellinghausen gegründet hat, ist nicht zu entscheiden. Die aufwendige Ausstattung des Grabmals mit Opus sectile spricht jedenfalls dafür, dass es sich bei der Verstorbenen um eine höher gestellte Persönlichkeit handelte, zumal die vergleichbaren mit Opus sectile ausgestatteten Grabdenkmäler für Bischöfe, Äbte und Stiftsgründer geschaffen wurden.17)

Paul Derks vertrat zuletzt die Ansicht, dass es sich bei dem Prosatext, der in den Vorlagen Kindlingers als Abschrift von 1572 (verlesen von 1592) bzw. 1592 gekennzeichnet war, um zwei Exemplare eines gefälschten Texts handelte, der im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen im 16. und 17. Jahrhundert zwischen den Stiften Essen und Rellinghausen nach 1600 von Essener Kanonikern verfasst worden war.18) Derks geht davon aus, dass in Rellinghausen kein Grab dieser Art vorhanden war und dass es sich bei der angeblichen Grabinschrift folglich um eine „intentionelle Fälschung“ handelt mit dem Ziel, das Rellinghauser Stift als Essener Gründung darzustellen. Hintergrund des Streits zwischen den beiden Stiften war die Frage, ob das Rellinghauser Stift vom Essener Stift abhängig war oder zu Recht den Anspruch auf Reichsunmittelbarkeit erhob.19) Tatsächlich ist der Prosatext ganz offensichtlich gegen die Rellinghauser Unabhängigkeitsbestrebungen gerichtet.20) Derks’ Vermutung, dass es sich gar nicht um eine Abschrift handelt, sondern bereits an dieser Stelle um eine Fälschung vom Anfang des 17. Jahrhunderts, überzeugt allerdings u. a. deshalb nicht, weil aus dem Stift Essen gerade aus den 1590er Jahren noch andere, ähnlich wie Kindlingers Vorlagen am Rand kommentierte bzw. datierte Abschriften überliefert sind.21) Weiterhin äußert Derks Zweifel an der Authentizität der Schriftgestaltung der Inschriftenabschrift, insbesondere an den Enklaven, die er nur in der Buchschrift für möglich hält. Wie erwähnt sind Enklaven jedoch typische Elemente der romanischen Majuskel. Sein Hinweis auf die im 11. Jahrhundert „völlig unmögliche“ (Derks) Schreibweise des Namens „Matildt“ ohne h vor t reicht nicht aus, die ganze Inschrift als Fälschung zu beurteilen. Naheliegender ist es, einen Abschreibefehler zu vermuten, zumal die Namensform ‚Mahthild’ ab dem Spätmittelalter nicht mehr gebräuchlich war und von der Form ‚Mechthild’ verdrängt wurde.22) So wird die Essener Äbtissin im Übrigen auch in dem Prosatext bezeichnet. Das wichtigste Argument, das gegen die Erfindung einer Grabinschrift spricht, bleibt der Augenzeugenbericht Jacob Ortmanns.23) Dieser beschreibt in eigenen Worten, die er so nicht dem Prosatext entnommen hat, die Überreste des in der nicht sehr verbreiteten Technik des Opus sectile hergestellten Grabmals und die umlaufende Inschrift, deren Text er allerdings nicht wiedergibt. Noch Georg Humann (1847–1932) kann mitteilen, dass sein Vater über das im südlichen Teil der Kirche befindliche Grab mit Mosaikverzierungen berichtet hat.24)

Derks hat als Erster darauf hingewiesen, dass die Essener Äbtissin, entgegen den Angaben in den Ende des 16. Jahrhunderts zusammengestellten und nicht immer zuverlässigen Äbtissinnenkatalogen,25) nicht in Rellinghausen begraben war. Sein Schluss, dass es sich deshalb bei der Grabinschrift nur um eine Fälschung handeln kann, überzeugt allerdings nicht. Geht man dagegen von einer Verwechslung der in Rellinghausen bestatteten Person namens Mathilde mit der berühmten Essener Äbtissin aus, erklärt sich die Existenz des Grabmals in Rellinghausen und die Anweisung im Essener Liber ordinarius zur Beleuchtung des Grabs der Äbtissin Mathilde.

Textkritischer Apparat

  1. Das Versmaß erfordert an dieser Stelle ein einsilbiges Wort mit lang gemessenem Vokal.
  2. Sic! Vgl. Anm. c. Es handelt sich vermutlich um einen Überlieferungsfehler. In der Übersetzung wird das Pronomen deshalb auf die Schwestern bezogen.
  3. Sororum Matildt [ – – – ] nostrum fidissima curet Version II der Kindlinger’schen Abschrift; Sororum Matild. nostrum fidissima cura Overham; Sororum Matild nostrorum (!) fidissima cura Bucelinus; Mechtildis sororum nostrarum fidissima cura KDM Essen, Kraus.
  4. nunc Version II der Kindlinger’schen Abschrift.
  5. hinc quisque transiverit] quae transivit Overham, Bucelinus, KDM Essen, Kraus.
  6. ornanda KDM Essen, Kraus.
  7. fideles] fehlt bei Overham.
  8. Sic! miserere Version II der Kindlinger’schen Abschrift.
  9. [ – – – ]bus huic misere deus] huic miserere deus Overham, Bucelinus, KDM Essen, Kraus.

Anmerkungen

  1. StAM, Msc. II (Kindlinger’sche Sammlung) 107, S. 1, 7. Teiltranskription der Abschriften Kindlingers bei Derks, Gerswid, S. 120: „ad latus sinistrum templi in angulo nuncupatum“. Jacob Ortmann berichtet um 1747, dass er das Grabmal zeichnen werde, weil dort ein Hochaltar errichtet werden solle („Delineabo illud cum altare majus methodo non ita obvio a me conceptum et projectum, erigetur.“), vgl. Müller, Geschichtsschreibung, S. 50.
  2. Müller, Geschichtsschreibung, S. 49f., vgl. Anm. 5.
  3. StAM, Msc. II (Kindlinger’sche Sammlung) 107, S. 1, 7. Die von Kindlinger auf S. 1 wiedergegebene Fassung basiert auf der von Kindlinger selbst auf S. 7 mitgeteilten Version, weshalb diese als Editionsgrundlage herangezogen wurde. Vgl. Anm. 7.
  4. Die älteren Überlieferungen bei Overham, Annalen, S. 66, und Bucelinus, Germania 2, S. 144, geben im Gegensatz zu Kindlinger keine Quelle an. Der Kindlinger’schen Abschrift von Version I wird aber der Vorzug gegeben, da es sich bei ihr nachweislich um eine Abschrift der Abschrift von 1592 handelt.
  5. StAM, Msc. II (Kindlinger’sche Sammlung) 107, S. 1: „sepulta sub sarcophago ad palmam manus a superficie pavimenti levato, opere mosaico decenter ornato.” Overham bei Müller, Geschichtsschreibung, S. 49: „opere mosaico ettwaß von der erden erhohet, die circumscriptio ist an vielen Stellen verdorben.”
  6. Die Übersetzung kann nur Fragmente bieten, da die Bezüge wegen der vielen Fehlstellen nicht zu erkennen sind.
  7. Dass es sich bei der beglaubigten Kopie um eine Abschrift der Abschrift von 1592 handelt, geht aus der an der gleichen Stelle auf Höhe der Inschrift befindlichen Randbemerkung hervor, die mit Ausnahme der verlesenen Jahreszahl (von 1592 zu 1572) den gleichen Wortlaut hat. Das metrisch unpassende Wort sororum am Anfang des ersten Verses in der beglaubigten Kopie (= Version II) erklärt sich durch die Vorlage, in der das am Ende des Verses stehende Wort aus Platzmangel über der Zeile nachgetragen worden war. Bei der Anfertigung von Version II wurde deshalb fälschlicherweise vermutet, dass sororum in der ersten Zeile des Inschriftentextes und deshalb am Versanfang gestanden habe.
  8. Vgl. Nr. 19. Bucelinus überliefert auch die Inschriften von Nr. 19, die nur in Version II mitgeteilt werden, nicht aber in Version I.
  9. StAM, Msc. II (Kindlinger’sche Sammlung) 107, S. 1, 7: „opere Mosaico decenter ornato“; Müller, Geschichtsschreibung, S. 50: „Constat illud ex opere tessolato diversorum marmorum in quadrati et trianguli formam sectorum.” (Brief Overhams von ca. 1747).
  10. Vgl. Nisters-Weisbecker, Grabsteine, S. 316. Erhalten sind die Platte vom Grabmal des Kölner Ebf. Gero (gest. 973) im Kölner Dom (Abb. bei Kier, Schmuckfußboden, Farbtafel II), die Platte vom Grabmal des Gründers des Lütticher Stifts St. Barthélemy, Godescalc de Morialmé (gest. 1031) in St. Barthélemy, Lüttich, und von Abt Wirich von Sint-Truiden in Sint-Pieter, Sint Truiden (Brassinne, Monuments, S. 174). Als Nachzeichnungen sind die Platten über den Gräbern der Lütticher Bischöfe Richer (gest. 945) und Wolbodon (gest. 1010) überliefert (ebd., Tf. III, IV). Die Tumben der vier Vorsteher des Klosters Werden aus der Familie des Klostergründers Liudger waren vermutlich auch mit Opus sectile ausgestattet, vgl. Nr. 22, 23, 24, 25.
  11. Bayer, Entwicklung, S. 120.
  12. In Kindlingers Abschrift von Version II wurden Majuskeln und Minuskeln benutzt, anscheinend ist auch hier die Vorlage (= Version I) missverstanden worden. Die Enklaven sind ebenfalls nachgebildet.
  13. Vgl. Einleitung 5. 2.
  14. StAM, Msc. II (Kindlinger’sche Sammlung) 107, S. 1, 7; Seemann, Aebtissinnen, S. 3f.; Hiltrop, Catalogus, S. 456; Overham, Annalen, S. 66; Bucelinus, Germania 2, S. 14. Stangefol, Annales 2, S. 229, berichtet von der Gründung des Stifts Rellinghausen durch die Essener Äbtissin Mathilde im Jahre 1008 und beruft sich dabei auf „Migerus“. Diese Quelle konnte nicht identifiziert werden.
  15. Arens, Liber ordinarius, S. 120. Aus dieser Bezeichnung geht hervor, dass eindeutig die Essener Äbtissin Mathilde gemeint ist.
  16. Weitere Überlegungen zum genauen Ort von Mathildes Bestattung bei Lange, Krypta, passim. Zur Verwechslung gleichnamiger Personen mit der Äbtissin Mathilde vgl. auch Nr. 9, 45.
  17. Vgl. Anm. 10.
  18. Derks, Gerswid, S. 119–133.
  19. Vgl. Grevel, Gerichtswesen, S. 22f.; Derks, Gerswid, S. 147ff.
  20. Es wird z. B. besonders betont, dass die Rellinghauser Kirche mit dem umliegenden Gebiet rechtlich der „Matricis Ecclesie Assnidensis“ gehöre, und dass Essener Gesänge, Riten und Zeremonien auch in Rellinghausen abgehalten würden. Ein offensichtlicher inhaltlicher Fehler ist die Angabe der Todestage der Äbtissinnen Theophanu und Mathilde. Für Mathilde werden zwei unterschiedliche Daten für den Todestag und die Anniversarfeier angegeben, wobei kein Datum mit dem aus dem Liber ordinarius bekannten Sterbetag übereinstimmt. Für das Anniversar der Theophanu, deren Grab in Essen durch eine Inschriftentafel (Nr. 21) identifiziert werden konnte und sich also nachweislich nicht in Rellinghausen befand, wurde zwar der Liber ordinarius herangezogen, die dort angegebene „prima feria quinta mensis Martis“ wurde jedoch missverstanden als „feria […] S. Martii“. Der Text enthält weitere Fehler, vgl. Derks, Gerswid, S. 125f., 131.
  21. Vgl. z. B. die am 10. Oktober 1597 angefertigte Nachzeichnung eines Frontispizes bei Rensing, Kunstwerke, S. 48, Abb. 31.
  22. Derks, Gerswid, S. 122–125.
  23. Müller, Geschichtsschreibung, S. 49f.
  24. Humann, Kunstwerke, S. 18, Anm. 2.
  25. Vgl. Seemann, Aebtissinnen, passim.

Nachweise

  1. StAM, Msc. II. (Kindlinger’sche Sammlung) 107, fol. 4v (= Kindlinger, Version I).
  2. ebd., fol. 1r (= Kindlinger, Version II).
  3. Overham, Annalen, S. 66.
  4. Bucelinus, Germania 2, S. 144.
  5. Funke, Geschichte, S. 46.
  6. A[…], Münsterkirche, S. 18.
  7. KDM Essen, S. 67f.
  8. Kraus, Inschriften 2, S. 297, Nr. 647.
  9. Derks, Gerswid, S. 120, 127.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 42† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0004208.