Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 26 Werden, Schatzkammer St. Ludgerus um 1065–um 1080

Beschreibung

Zwei Säulenschäfte.1) Kalksinter, Kupfer mit Resten von Vergoldung, graviert. An den sich nach oben verjüngenden Schäften, die auf erneuerten Basen und oktogonalen Sockeln stehen, sind je am oberen und unteren Ende Metallbänder befestigt, auf denen in Distichen ein Bittgebet mit Stiftervermerk graviert ist. Das Metallband mit dem ersten Hexameter war zeitweise verloren und konnte erst nach dem Wiederauffinden durch Wilhelm Effmann in den 1880er Jahren an seiner ursprünglichen Stelle befestigt werden.2) Je ein Distichon ist auf eine Säule verteilt, wobei der Hexameter auf dem oberen und der Pentameter auf dem unteren Metallband graviert sind. Die Schrift steht zwischen rahmenden Ritzlinien. Die Schäfte gehörten zu zwei Säulen, die im Chor hinter dem Hochaltar standen und gemeinsam mit dem Altar einen Unterbau stützten, auf dem der vergoldete Schrein mit den Gebeinen des heiligen Liudger ausgestellt war.3) Der Altarbereich wurde Anfang des 18. Jahrhunderts barock umgestaltet,4) vermutlich wurde der Aufbau mit den Säulen aus diesem Anlass abgebaut.

Maße: H. 156 cm (ohne Sockel); Dm. 16–16,5 cm (oben); Bu. 1,4–1,7 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/25]

  1. + CONFER · ADALVVIGO · REQVIE(M) · D(EV)S · IN · PARADISO //+ QVI PERAGEBAT · OPVS · QVO · NITET · ISTE · LOCVS5) //+ INTER CONIVNCTAS · FIDEI · CO(M)PAGE · COLV(M)NAS6) //+ VIVORVM LAPIDVM7) · DA SIBI · (CHRISTE)a) · LOCVM

Übersetzung:

Schenke Adalwig Ruhe, Gott, im Paradies, der (d. h. Adalwig) das Werk vollbrachte, durch das dieser Ort glänzt; inmitten der Säulen, die durch die Fugung des Glaubens verbunden sind, gib ihm, Christus, den Ort lebendiger Steine.8)

Versmaß: Zwei elegische Distichen, leoninisch zweisilbig assonierend gereimt.

Kommentar

Die sorgfältig gravierte Inschrift in romanischer Majuskel ist kapital bestimmt, runde Formen wurden nur für zwei unziale D und die eingerollten G verwendet. Die Verteilung der Buchstaben auf den Kupferbändern ist sehr ausgeglichen, die Buchstaben sind an keiner Stelle gedrängt oder übermäßig auseinander gezogen. Die Inschrift enthält nur einen Nexus litterarum und wenige Kürzungen. A ist mit einem kurzen Deckstrich ausgestattet, die Schrägschäfte stoßen nicht direkt zusammen, so dass von trapezförmigen A gesprochen werden kann. Die Schäfte verdicken sich nach unten leicht. Schwache Verbreiterungen sind an einigen Schäften und Balken anderer Buchstaben festzustellen, ebenso wie schwache Bogenverstärkungen; vereinzelte Schrägenverstärkungen treten dagegen nur bei A auf. Q ist mit geschwungener, weit nach rechts ausgreifender Cauda gestaltet, die bei QVI und QVO mit deutlicher Bogenschwellung ausgestattet ist. Die Buchstabenproportionen sind in der Regel breit, nur E und L sind schmaler. Als Worttrenner wurden kleine, halbkugelig vertiefte Punkte verwendet.

Die Verse sind ein Bittgebet für Abt Adalwig (um 1064–um 1080), der als Stifter, „der das Werk vollbrachte“, hervorgehoben wird. Bei dem Werk, „durch das dieser Ort“, damit ist sicherlich das Kloster gemeint, „glänzt“, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die von Adalwig veranlasste Umgestaltung des Altarbereichs: Die Gebeine des heiligen Liudger wurden aus einem Steinsarkophag in der Krypta erhoben und in einem vergoldeten Schrein hinter dem Hochaltar aufgestellt, getragen vom Altar selbst und den zwei Säulen.9) Auch die Erneuerung der Grabdenkmäler der Liudgeriden und die aufwendige Gestaltung des Fußbodens in der ‚Liudgeridenkrypta’ gehörten zu dem angesprochenen OPVS.10)

Die Verse haben sowohl inhaltlich als auch sprachlich den Hymnus ‚Urbs beata Hierusalem’ als maßgeblichen Bezugstext.11) Dieser Hymnus aus dem 7. oder 8. Jahrhundert gehört zur Liturgie des Kirchweihfests. Er besingt das ‚Himmlische Jerusalem’, die endzeitliche Vollendung der Herrschaft Gottes, die in der Apokalypse beschrieben wird, und das reale Kirchengebäude, in dem alle Gläubigen den Einzug ins Paradies erlangen können.12) Die Allegorie der ‚lebendigen Steine’ entstammt dem ersten Petrusbrief13) und wurde u. a. von Augustinus aufgegriffen.14) Sie steht für die Gemeinschaft der Gläubigen, später teilweise eingegrenzt auf Geistliche, die mit Christus als ‚Eckstein’ das Gebäude der Kirche bilden.15) Der Zusammenhang der ‚lebendigen Steine’ mit dem ‚Himmlischen Jerusalem’ wird, neben dem frühmittelalterlichen Hymnus, besonders auch in den kopial überlieferten Inschriften zweier verlorener Radleuchter aus St. Pantaleon in Köln16) und St. Maximin in Trier17) unterstrichen, die wie die Säulen im 11. Jahrhundert hergestellt wurden. Der Hezilo-Leuchter (1054–1079) in Hildesheim stellt ebenfalls das ‚Himmlische Jerusalem’ dar und bezeichnet die Verfugung der Stadt durch den Glauben mit den Worten FIDEI COMPAGINE IUNCTA, die vergleichbar auch in der Säuleninschrift benutzt werden.18) In einer karolingischen Bauinschrift im Aachener Dom, die auf einem Gedicht von Prosper von Aquitanien basiert, wird die Verfugung der ‚lebendigen Steine’ in vergleichbarer Wortwahl ausgedrückt: Cum lapides vivi pacis conpage ligantur.19)

Wie die ‚lebendigen Steine’ sind auch die Säulen Bestandteil der Architekturallegorie des ‚Himmlischen Jerusalem’: Nach der im Mittelalter weitverbreiteten Vorstellung sind mit den Säulen die Apostel20) und deren Nachfolger, Propheten, Kirchenlehrer und höhere Geistliche gemeint.21) Weiter wird der Kreis in der Apokalypse des Johannes gefasst, hier werden alle Gläubigen nach dem Jüngsten Gericht zu Säulen im Tempel des Herrn.22) Die Inschrift benutzt das Wort COLVMNA sowohl wörtlich für die Inschriftenträger als auch allegorisch als Bestandteil des ‚Himmlischen Jerusalem’.

Die Verse erbitten für Adalwig Ruhe im Paradies und einen Platz im ‚Himmlischen Jerusalem’. Damit sind wohl zwei Zustände in der patristischen Jenseitsvorstellung angesprochen: Nach dem Tod bleiben die Seelen der Verstorbenen in einem Zwischenzustand, für die ‚Gerechten’ wird der Ort dieses Zwischenzustandes als das Paradies, der Schoß Abrahams oder als Ort am Fuße des Altars Gottes bezeichnet.23) Erst beim Jüngsten Gericht kommt es zur wirklichen leiblichen Auferstehung und Herrlichkeit. Im zweiten Distichon kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass Adalwig dann als ‚lebendiger Stein’ Teil des ‚Himmlischen Jerusalems’ sein wird. So wäre das Verdienst für den diesseitigen Ort, der im ersten Distichon erwähnt wird, auch im Hinblick auf die Hoffnung für den im zweiten Distichon angesprochenen jenseitigen Ort zu verstehen.

Abt Adalwig stand dem Kloster von etwa 1064 bis etwa 1080 vor.24) Als Werdener Mönch hatte er vorher die Ämter des Küsters und des Propstes inne. In seiner Amtszeit wurde die ‚Liudgeridenkrypta’ mit den Tumben für die ersten vier Werdener Vorsteher aus dieser Familie umgebaut und mit einem Mosaikfußboden ausgestattet, nachdem bereits Abt Gero (gest. nach 1059) mit der Umgestaltung begonnen hatte. Adalwigs bedeutendstes Werk war die in der Säuleninschrift angesprochene Neugestaltung des Altarbereichs im Hochchor und dabei vermutlich auch die Stiftung des vergoldeten Schreins. Von Adalwig ist eine Anniversarstiftung bekannt,25) sein Todestag ist der 27. Oktober.26)

Textkritischer Apparat

  1. Buchstabenbestand in griechischen und lateinischen Buchstaben: XPE.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 75, 76.
  2. Kraus, Inschriften 2, S. 291, Nr. 631.
  3. Vgl. Nr. 186.
  4. Elbern, Erinnerungen, S. 33ff.
  5. NITET ISTE LOCVS vgl. Nr. 97.
  6. Vgl. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 25A, Vers 2. Bayer weist darauf hin, dass die Ausdrucksweise des Verses in Verbindung mit einer Passage aus dem zweiten Buch der Homilien Gregors des Großen zu Ezechiel steht, Kat. Paderborn 2006, S. 327, Nr. 434, vgl. Gregorius Magnus, Homiliae in Hiezechihelem prophetam (hg. v. M. Adriaen, CCSL 142, S. 268–271), 2, 13–15, 17. Mindestens das erste Buch der Homilien war im 11. Jh. in Werden vorhanden, vgl. Rose, Verzeichniss 2,1, S. 102f., Nr. 315.
  7. Vgl. DI 31 (Aachen Dom), Nr. 6, dazu Bayer, Bauinschrift, S. 446; Alkuin, Carmina, in: MGH Poetae 1, hg. v. E. Dümmler, Nr. IX, S. 234,201; Kraus, Inschriften 2, S. 274, Nr. 586; DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 79.
  8. Übersetzung nach Kat. Paderborn 2006, S. 327, Nr. 434 (C. B[ayer]).
  9. Duden, Historia, S. 22. Wallmann, Lapis vivus, S. 28f., sieht den Schwerpunkt des gerühmten Werkes in der Erhebung der Gebeine und weniger in der Aufstellung des Schreins. Er versteht den Glanz als Licht, das von den Reliquien ausgeht und LOCVS nicht als das Kloster, sondern als den Ort, an dem die Gläubigen nun „den Lichtschein des Glaubens und der Erkenntnis Gottes“ sehen können. Zur Deutung der Begriffe OPVS und LOCVS vgl. Kat. Paderborn 2006, S. 327f., Nr. 434 (C. B[ayer]).
  10. Vgl. Nr. 22, 23, 24, 25.
  11. Kat. Paderborn 2006, S. 327, Nr. 434 (C. B[ayer]).
  12. Analecta Hymnica 51, S. 110ff., Nr. 102. Die in der Inschrift genannte Ruhe im Paradies wird auch im Hymnus erwähnt: „Hic promereantur omnes (…) paradisum introire translati in requiem“.
  13. I Pt 2,4f.
  14. Augustinus, Enarrationes in psalmos (hg. v. E. Dekker, I. Fraipont, CCSL 38), Enarratio in psalmos 39,1, S. 424,79ff. Vgl. zu dieser Metapher auch Bandmann, Bauherr, S. 227–237.
  15. An einem Ende des 12. bis Anfang des 13. Jh. geschaffenen Relief am Basler Münster werden zwei Männer, vermutlich die Stifter, als LAPDES (!) VIVI bezeichnet, vgl. CIMAH 3, Nr. 34.
  16. Kraus, Inschriften 2, S. 274, Nr. 586.
  17. DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 79.
  18. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 25A, Vers 2.
  19. DI 31 (Aachen Dom), Nr. 6, vgl. Bayer, Bauinschrift, S. 446.
  20. Gal 2,9.
  21. Reudenbach, Säule, S. 334–337.
  22. Apc 3,12.
  23. Vgl. Angenendt, Theologie, S. 81–86; G. Greshake, Art. Benedictus Deus (B) 1, in: LThK3 2 (1994), Sp. 198f.
  24. Vgl. Stüwer, GS Werden, S. 311.
  25. Crecelius, Traditiones 2, S. 11f., Nr. 110.
  26. Urbare A, S. 344; Duden, Historia, S. 22.

Nachweise

  1. Duden, Historia, S. 22 (nur der erste Vers).
  2. Anonymus, Annales, S. 61.
  3. Overham, Annalen, S. 76.
  4. StA Wolfenbüttel, VII B Hs 93, fol. 91r.
  5. StA Wolfenbüttel, VII B Hs 92, fol. 161r, 309v.
  6. Bucelinus, Germania 2, S. 315.
  7. BSBM, Cgm 2213 (Slg. Redinghoven) 18, fol. 329v. (nach Anonymus).
  8. HStAK, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen) 184, fol. 176r.
  9. Roskamp, Catalogus, S. 9.
  10. KDM Essen, S. 96.
  11. Jacobs, Pfarreien 1, S. 179, Anm. 2.
  12. Kraus, Inschriften 2, S. 291, Nr. 631.
  13. Effmann, Bauten 1, S. 46 (Zeichnung).
  14. Braun, Altar 2, S. 565.
  15. Stüwer, Verehrung, S. 190, Anm. 41.
  16. Elbern, Erinnerungen, S. 23f., mit Übersetzung.
  17. Wesenberg, Bildwerke, S. 54, mit Übersetzung.
  18. Eickermann, Grabschrift, S. 64, mit Abb.
  19. Kahsnitz, Psalter, S. 28.
  20. Wallmann, Neuausstattung, S. 24, mit Skizze und Übersetzung.
  21. ders., Lapis vivus, S. 25, mit Übersetzung.
  22. Binding, Bauherr, S. 336.
  23. Kat. Essen 1999, S. 511, Nr. 375, mit Abb. und Übersetzung (P. W[allmann]).
  24. Kat. Paderborn 2006, S. 327f., Nr. 434, mit Abb. und Übersetzung (C. B[ayer]).

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 26 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0002604.