Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 24† Werden, St. Ludgerus, ‚Liudgeridenkrypta’ um 1065–um 1080

Beschreibung

Tumba für Thiadgrim, Bischof von Halberstadt und nach dem Tod Gerfrids 839 wahrscheinlich auch kurz Vorsteher des Klosters Werden.1) Vermutlich wie die Fragmente der Tumbenplatte für Gerfrid aus Baumberger Sandstein,2) möglicherweise mit Marmor- oder Kalksinterplatten oder poliertem Stuck verkleidet.3) Das Grabgedicht enthält eine Grabbezeugung, einen Sterbevermerk und ein Totenlob. Es war am Rand der Tumbenplatte umlaufend eingehauen.4) Die Tumba befand sich bis zum Abbruch der vier Grabdenkmäler für Werdener Vorsteher aus der Familie der Liudgeriden 1791/92 im Mittelschiff der ‚Liudgeridenkrypta’ im ersten Joch von Westen an der nordöstlichen Seite.5)

Nach Nünning.6)

Schriftart(en): Kapitalis.7)

  1. + HAC · RECVB/ANT · FOSSA · THIDGRIMI · PRAESVLIS · OSSA8) ·TERRA · TENET · CORPVS9) · PNEVMA10) · FO/VET · DOMINVS ·IDIBVSa) · IN / FEBRVIb) · SENISc) · OBITd) · ASSECLA · CHRISTI · PROMERITVSe) ·VITAE · GAVDIA / PERPETVAE

Übersetzung:

In dieser Grube ruhen die Gebeine des Bischofs Thiadgrim. Die Erde behält den Körper, der Herr erquickt die Seele. Der Diener Christi starb an den sechsten Iden des Februar, nachdem er sich die Freuden des ewigen Lebens verdient hatte.

Versmaß: Zwei elegische Distichen, leoninisch ein- und zweisilbig (Vers 1) rein gereimt.

Datum: 8. Februar.

Kommentar

In der Inschrift wurden zwei Wortverbindungen verwendet, die auch von anderen Grabinschriften bekannt sind. Der Reim FOSSA – OSSA ist in Grabinschriften seit dem 10. Jahrhundert mehrfach belegt,11) der erste Halbvers des ersten Pentameters findet sich bereits in einer antiken Grabinschrift, wo ebenfalls der Aufstieg der Seele in den Himmel folgt.12) Die Vorstellung, dass die Seele in den Himmel oder zum Herrn aufsteigt, während der Körper in der Erde bleiben muss, kommt auch in der Tumbeninschrift für Altfrid zum Ausdruck.13) Der Körper wird als minderwertig gegenüber der Seele angesehen und mit Erde und Asche in Verbindung gebracht. Der Gedanke von der Trennung von Körper und Seele durch den Tod entspricht antiken Vorstellungen und bleibt im frühmittelalterlichen Christentum präsent.14) Der Aufstieg der Seele zum Himmel oder zu Gott wird häufig in Grabinschriften und Epitaphien angesprochen, die Wendung spiritus astra petit beispielsweise begegnet bereits im Epitaph Gregors des Großen, später in karolingischen Grabinschriften und wird schließlich in der Renaissance wieder besonders beliebt.15) Die Verwendung von PNEVMA anstelle von lateinisch ‚spiritus’ oder ‚anima’ für Geist oder Seele war wenig verbreitet. Der griechische Begriff als Übersetzung des lateinischen ‚spiritus’ wird beispielsweise von Ambrosius von Mailand erklärt.16)

Der Hinweis auf die Verdienste, die bereits das ewige Leben in Aussicht stellen, zeigt die hohe Verehrung, die Thiadgrim in Werden genoss, denn sie rückt ihn in die Nähe der Vollkommenen und Märtyrer, die bereits nach ihrem Tod eine erste Auferstehung erfahren und Anteil am Himmel haben.17) Thiadgrim findet in den frühmittelalterlichen Viten Liudgers im Gegensatz zu Hildegrim und Gerfrid noch keine Erwähnung, erst ab dem 16. Jahrhundert wird er als heilig bezeichnet.18)

Der Verwandtschaftsgrad Thiadgrims zum heiligen Liudger ist nicht genau zu rekonstruieren.19) Er übernahm nach dem Tod Hildegrims 827 die Leitung der Halberstädter Kirche und war bis zu seinem Tod am 15. Februar 840 Bischof von Halberstadt.20) Vermutlich folgte er als Leiter des Klosters Werden zusammen mit seinem Verwandten Altfrid (gest. 849) dem am 12. September 839 verstorbenen Gerfrid.21)

Textkritischer Apparat

  1. Editus Nünning.
  2. februum Anonymus. Die Sonderform ‚februi’ von ‚februus’ wurde im Hinblick auf das Versmaß gewählt, vgl. Du Cange, Glossarium 2, S. 426.
  3. suuis Anonymus (Handschrift SBB Berlin), sinis (Handschrift StA Münster, Depot Landsberg-Velen), Angaben nach Anonymus, Annales, S. 55, Anm. h.
  4. Sic! Zur Vermeidung eines prosodischen Verstoßes anstelle von obiit.
  5. Pro meritis Anonymus.

Anmerkungen

  1. Stüwer, GS Werden, S. 299f.
  2. Vgl. Nr. 23.
  3. Zu Material und Gestaltung der vier Grabtumben für die Liudgeriden vgl. Nr. 22, Anm. 2.
  4. Zu Nünnings Angabe über die Anordnung der Verse auf den Tumbenplatten vgl. Nr. 22 Anm. 3.
  5. Zu diesen Tumben vgl. Nr. 22, 23, 25. In der ‚Liudgeridenkrypta’, die sich nordöstlich der ‚Liudgeruskrypta’ befindet, wurde ein weiterer Verwandter und Werdener Vorsteher, Hildegrim d. J., bestattet, vgl. Nr. 97.
  6. Zur Verlässlichkeit von Nünnings Überlieferung vgl. Nr. 22 Anm. 5.
  7. Nach Nünning „litter[ae] major[es]“ (im Manuskript durchgestrichen) bzw. „litter[ae] roman[ae]“.
  8. Der zweisilbige Reim ‚fossa’ – ‚ossa’ ist häufig in Grabinschriften zu finden, vgl. z. B. DI 32 (Aachen Stadt), Nr. 2; DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 19; DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 37; die Grabschrift für Beda Venerabilis: Vita venerabilis Bedae (Migne, PL 90, Sp. 54); weitere Beispiele bei Strecker, Studien, S. 210f., Anm. 5; Schaller/Könsgen, Supplementband, Nr. 5783.
  9. Die Junktur ‚terra tenet corpus’ ist bereits in einer antiken Grabinschrift überliefert, vgl. CIL 3, Nr. 3247 („[…] terra tenet corpus nomen lapis atque animam aer […]“). Vergleichbar: Alkuin, Carmina, in: MGH Poetae 1, hg. v. E. Dümmler, S. 305, Nr. 88,1 („Corpus terra tegit, spiritus astra petit“); Theodulf von Orléans, Carmina, in: ebd., S. 532, Nr. 40,15f. („Hierusalis habet haec eius terrea corpus, spiritus at superae regna beata petat“), vgl. Wallmann, Tumba, S. 219, Anm. 10.
  10. Das griechische Wort ‚pneuma’ wurde erst in nachantiker Zeit als Lehnwort in das Lateinische aufgenommen. In karolingischen Dichtungen steht ‚pneuma’ meist für den Heiligen Geist, aber auch die Verwendung zur Bezeichnung des menschlichen Geistes, wie in der Inschrift, ist belegt, vgl. Stotz, Handbuch 1, IV, § 14.16. Weitere Beispiele im Hex.-Lex. 4, S. 274f.
  11. Vgl. Anm. 8.
  12. Vgl. Anm. 9.
  13. Vgl. Nr. 25.
  14. Angenendt, Theologie, S. 99f.; Favreau, Inscriptions et résurrection, S. 291f.
  15. Angenendt, Theologie, S. 104f.; Nr. 98; DI 27 (Stadt Würzburg), Nr. 1; MGH Poetae 1, hg. v. E. Dümmler, S. 305,2 (karolingische Inschrift); DI 31 (Aachen Dom), Nr. 114; DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis), Nr. 392; DI 46 (Stadt Minden), Nr. 81 (alle 16. Jh.).
  16. Ambrosius Mediolanensis, De spiritu sancto 2,6,42 (hg. v. O. Faller, CSEL 79), zum Begriff vgl. Anm. 10.
  17. Angenendt, Theologie, S. 81ff.; Scholz, Totengedenken, S. 37f.; vgl. Nr. 25.
  18. Anonymus, Annales, S. 55; Overham, Annalen, S. 49f. mit Zitaten weiterer Autoren des 17. Jh.
  19. Stüwer, GS Werden, S. 299.
  20. Gesta episcoporum Halberstadensium (hg. v. L. Weiland, MGH SS 23, S. 81).
  21. Stüwer, GS Werden, S. 299f. Thiadgrim wird erst von Johannes Trithemius (gest. 1615) als ‚abbas’ bezeichnet, vgl. Overham, Annalen, S. 49f. In Duden, Historia, S. 14, und den anonymen Annales, S. 55, ist er nicht als Vorsteher des Klosters genannt, genauso wenig wie in Quellen des 9. Jh. Allerdings überlebte er Gerfrid nur um vier Monate, und seine Grablege in Werden spricht dafür, dass er wie die übrigen ‚Liudgeriden’ enge Verbindungen zu dem Kloster hatte, vgl. Schmid, Liudgeriden, S. 81.

Nachweise

  1. Anonymus, Annales, S. 55.
  2. Brouwer, Vita, S. 91.
  3. Gelenius, De magnitudine Coloniae, S. 668.
  4. Bucelinus, Germania 2, S. 308.
  5. StA Wolfenbüttel, VII B Hs 94, S. 97 (= Overham, Annalen, S. 51, dort nur der Anfang der Inschrift).
  6. HAB Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 64.6 Helmst., fol. 365v, 61r.
  7. BNF, Fonds latin 12703, fol. 218v/213v.
  8. StA Wolfenbüttel, VII B Hs 92, fol. 57r.
  9. BSBM, Cgm 2213 (Slg. Redinghoven) 6, fol. 298r; 31, fol. 538r, 539r.
  10. LWL – Archivamt für Westfalen, Münster, Archiv Haus Ruhr, Nachlass Nünning, Nr. 943.
  11. ebd., Nr. 949.
  12. ebd., Nr. 979.
  13. ebd., Nr. 1134, mit Skizze (alle ohne Paginierung).
  14. Martène/Durand, Voyage 2, S. 235.
  15. HAStK, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen) 184, fol. 176r.
  16. HStAD, Kloster Werden, Akten II c 2, fol. 8r.
  17. Kleinsorgen, Kirchengeschichte 1, S. 301.
  18. Jacobs, Pfarreien 1, S. 22.
  19. KDM Essen, S. 97.
  20. Kraus, Inschriften 2, S. 291, Nr. 630,3.
  21. Effmann, Bauten 1, S. 54, Anm. 4.
  22. MGH Poetae 4, hg. v. K. Strecker, S. 1040, Nr. III.
  23. Korte, Geschichte, S. 14.
  24. Hauck, Werke, S. 364, Anm. 91.
  25. ders., Geist, S. 27, Nr. 5.
  26. Wallmann, Tumba, S. 219.
  27. ders., Neuausstattung, S. 11.
  28. Päffgen, Gräber, S. 225.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 24† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0002400.