Inschriftenkatalog: Stadt Essen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 81: Stadt Essen (2011)

Nr. 17 Domschatzkammer 1054

Beschreibung

Altarsepulchrum mit Deckel.1) Blei. Das rechteckige Kästchen ist aus einer gewalzten Bleiplatte gefaltet, die Kanten sind unverlötet übereinandergelegt. Als Deckel dient eine ebene Bleiplatte, in die auf der Innenseite eine vierzehnzeilige Reliquienbezeichnung (A) und auf der Außenseite ein Datum (als Weihevermerk?) (B) eingeritzt sind. In dem Bleibehältnis befinden sich in Stoff gehüllte Reliquien und eine 1877 ausgestellte Konsekrationsurkunde.2) Das Altarsepulchrum war möglicherweise im Hauptaltar im Hochchor eingelassen.3)

Maße: H. 5,5 cm; L. 16 cm; B. 9,2 cm (Behältnis); L. 17,3 cm; B. 9,3 cm (Deckel); Bu. 0,2 cm (A), 0,6 cm (B).

Schriftart(en): Karolingische Minuskel mit Versalien (A), Kapitalis (B).

Domschatz Essen [1/2]

  1. A

    De ligno d(omi)ni · Rel(iquie) S(ancti) Ioh(annis) bapt(iste) · Dyonisii · S(an)c(t)or(um) Cosmę et Dam/iani · De capillis s(ancte) marie magd(alene) · Stephani p(ro)tom(artyris) · Cristopho/ri · Marci eu(an)g(e)l(iste) · Bartholomei · De lapide que(m) erexit iacob / in titulu(m)4) · Dens s(an)c(t)i Andreę ap(osto)li et de uestimetoa) ei(us)de(m) · De / uestimento s(ancte) marię · De baculo s(an)c(t)i petri · De oblacione qua(m) / benedixit s(an)c(tu)s gregorius · De capillis s(an)c(t)e marie · Symeonis qui / accepit d(omi)n(u)m in ulnas5) · Crisanti et Darię · Venantii · Hermetis / Theodori · Mauricii · Iusti m(arty)r(is) · Landelini · Saturnini · Alexan/dri · Tiburcii Valeriani · De uestimentob) d(omi)ni · De s(an)c(t)is mar(tyribus) · XL · / quor(um) corpora fuer(unt) cremata in balneo et fuer(unt) sepulti in / Alexandria · et inde ablati habent(ur) ecia(m) hic ossa s(an)c(t)or(um) · Menas et / C[.]ṇonisc) · et Victoris m(a)r(tyris) · De p(rae)sepio d(omi)ni · Dentes s(an)c(t)or(um) Viti et Vincentii / De ligno d(omi)ni petri (et)d) pauli6) · Andree Sergii (et)d) bachi e) m(a)r(tyrum) · S(ancte) Regine / uirgi(nis) · Cesarii m(a)r(tyris)

  2. B

    ANNO AB INCARNAT(IONE) D(OMI)NI · MIL(LESIMO) · L · IIII · INDICT(IONE) ·VII

Übersetzung:

Vom Kreuz des Herrn. Reliquien des heiligen Johannes Baptista, des Dionysius, der Heiligen Cosmas und Damian. Von den Haaren der heiligen Maria Magdalena, (Reliquien) des Erzmärtyrers Stephanus, des Christophorus, des Evangelisten Markus, des Bartholomäus. Vom Stein, den Jakob als Gedenkstein errichtete. Zahn des heiligen Apostels Andreas und (Reliquie) von dessen Gewand. Vom Gewand der heiligen Maria. Vom Stab des heiligen Petrus. Von der Opfergabe, die der heilige Gregor gesegnet hat. Von den Haaren der heiligen Maria. (Reliquien) von Simeon, der den Herrn in seinen Armen trug, von Chrysanthus und Daria, Venantius, Hermes, Theodorus, Mauritius, vom Märtyrer Justus, von Landelinus, von Saturninus, von Alexander, von Tiburtius, von Valerian. Vom Gewand des Herrn. (Reliquien) von den 40 Märtyrern, deren Körper im Bad verbrannt, in Alexandria bestattet und von dort geraubt wurden. (Reliquien) der Heiligen Menas und (…) und des Märtyrers Victor. Von der Wiege des Herrn. Zähne der Heiligen Vitus und Vincentius. Vom Kreuz des Herrn, von Petrus und Paulus, von Andreas, von den Märtyrern Sergius und Bacchus, von der heiligen Jungfrau Regina, von dem Märtyrer Cäsarius. (A)

Im Jahre seit der Fleischwerdung des Herrn 1054, in der 7. Indiktion. (B)

Kommentar

Inschrift A ist in karolingischer Minuskel, einer Buch- und Urkundenschrift, ausgeführt. Zur Beschriftung von Bleitafeln wurden häufig solche Schriften anstelle von epigraphischen Schriften verwendet.7) Die Inschrift wurde in die Innenseite des flachen Deckels geritzt und ist trotz der geringen Größe gut lesbar. Sie ist in ein Vierlinienschema eingestellt, die Ober- und Unterlängen sind ausgewogen, f und Schaft-s stehen auf der Grundlinie. Wie an den Altarsepulchren Nr. 29 und 34 wurde als Genitivendung e caudata (z. B. in Cosmę) und e (z. B. in marie) verwendet. Bei g knickt der untere, eckig ausgeführte Bogen beim Anschluss an den Schaft nach rechts. y ist, wie bei anderen Essener Altarsepulchren auch, mit einem Punkt ausgestattet.8) et ist meist ligiert, erst in der vorletzten Zeile wird es zweimal als tironische Note wiedergegeben. Die -orum-Kürzung, bei welcher der Schaft des mit o ligierten r meist unterhalb der Grundlinie x-förmig vom Kürzungsstrich durchgestrichen wird, findet sich auch bei den Inschriften auf weiteren Essener Altarsepulchren aus dem 11. Jahrhundert.9) Die Inschrift ist an einigen Stellen sehr „flüssig“ ausgeführt, häufig wurden feine Luftlinien mitgeschrieben. Die Versalien entstammen den Alphabeten der römischen Kapitalis (D, H, M und V) und seltener der römischen Unziale (A in Alexandria und Andree, M in Marci). Als Worttrenner dienen Punkte auf der gedachten Mittellinie.

Inschrift B ist in breiter Kapitalis graviert. N weist einen eingezogenen Schrägschaft auf, M ist breit als konischer Typ ausgeführt, wobei sich die Schäfte wie auch bei A leicht überschneiden und der Mittelteil bis zur Grundlinie der Zeile reicht. Vor und nach der Jahreszahl und zwischen deren Bestandteile sind wohl auch zur Auszeichnung Punkte gesetzt, ansonsten ist die Inschrift in Scriptura continua ausgeführt.

Die Befüllung des Behältnisses mit Reliquien steht vermutlich im Zusammenhang mit dem Abschluss der Bauarbeiten im Ostteil der Münsterkirche, die von Äbtissin Theophanu (1039–1058) in Auftrag gegeben wurden.10) Bereits 1051 wurde die Ostkrypta mit drei Altären ausgestattet und von Theophanus Bruder, dem Kölner Erzbischof Hermann II., geweiht.11) Möglicherweise war die Fertigstellung des Chors und die Errichtung des Hochaltars der Anlass für die Herstellung, Befüllung und Beschriftung des Altarsepulchrums; das Datum könnte den Tag der Weihe angeben. Neben dem großen Kästchen wurden im 11. Jahrhundert noch sieben weitere Altarsepulchren mit Reliquienbezeichnungen beschriftet. Die herausragende Bedeutung des großen Altarsepulchrums im Vergleich zu den übrigen sieben zeigt sich an seiner Größe und an der Anzahl der enthaltenen Reliquien, was für seine Zugehörigkeit zum Hochaltar spricht.

Die Liste der in dem Altarsepulchrum enthaltenen Reliquien folgt keiner bestimmten Reihenfolge. Die Reliquien lassen sich in verschiedene Gruppen einordnen, in der Rangfolge am höchsten stehen die Herrenreliquien: die zweimal erwähnten Partikel vom Kreuz, Reliquien vom Gewand und von der Wiege des Herrn. In engem Zusammenhang mit Jesus stehen zudem die aufgezählten Marienreliquien, Reliquien von Aposteln (Bartholomäus, Petrus, Paulus und Andreas), des Evangelisten Markus und von biblischen Personen aus Jesu Umfeld wie z. B. Johannes Baptista und Maria Magdalena. Auch der Prophet Simeon, der im kindlichen Jesus den Messias erkannte, steht in enger Verbindung zum Herrn. Die Inschrift beschreibt mit den gleichen Worten wie das Lukas-Evangelium, wie Simeon den Herrn auf seine Arme nimmt. Weitere Gestalten der Bibel sind der Erzmärtyrer Stephanus und der Patriarch Jakob, der dem Herrn aus einem Stein einen Altar baute.12) Außerdem werden Reliquien zahlreicher Märtyrer aufgezählt, darunter solche der Stiftsheiligen Cosmas und Damian, der Vierzig Märtyrer,13) der Mitglieder der Thebäischen Legion (Mauritius und Viktor) sowie weiterer römischer Märtyrer. Bei Gregor handelt es sich um den heiligen Bischof Gregor von Auxerre (515–530), dessen Festtag am 19. Dezember in einem Essener Kalendarium des 10. Jahrhunderts vermerkt ist.14)

Der Reliquienschatz, der in den im 11. Jahrhundert beschrifteten Bleibehältnissen geborgen war, befand sich teilweise bereits seit dem 10. Jahrhundert in Essen.15) Zu den bereits in dieser Zeit vorhandenen Reliquien zählen auch die der Heiligen Cosmas und Damian, die spätestens während des Abbatiats der Äbtissin Hadwig in Essen besonders verehrt wurden.16) Fast alle der auf dem Deckel des Altarsepulchrums genannten Heiligen sind in den ältesten Kalendarien des Essener Stifts aus dem 10. Jahrhundert aufgeführt.17) Weitere Reliquien einiger der genannten Heiligen sind in anderen Altarsepulchren aus Blei und in den Altären der Ostkrypta enthalten.18)

Textkritischer Apparat

  1. Sic! Für vestimento.
  2. n über der Zeile nachgetragen.
  3. Die bisherige Lesung G[ere]onis passt nicht zum Buchstabenbestand: Eine Cauda eines Majuskel-G (vgl. Nr. 33) ist nicht zu sehen, der deutliche Schaft vor –onis kann nicht zu einem e gehören. Denkbar ist die Lesung Cunonis oder Cononis als Bezeichnung des heiligen Kunibert. Reliquien dieses Kölner Bischofs waren auch im Altarsepulchrum Nr. 11 enthalten. Die Reliquienbezeichnung nennt dort die Reliquien des heiligen cuniberhti.
  4. Tironische Note.
  5. Sic!

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. 224 (E/r1).
  2. Der Inhalt des Altarsepulchrums wird heute gesondert aufbewahrt. Aus der Urkunde geht die Konsekration eines Altars zu Ehren Johannes Baptistas und der hl. Ursula und ihres Gefolges durch den Fuldaer Bischof Georg Kopp hervor, vgl. Röckelein, Reliquienbehältnisse, S. 119ff.
  3. Pothmann, Heiligen- und Reliquienverehrung, S. 25.
  4. Vgl. Gen 28,18.
  5. Vgl. Lc 2,28 (Simeon) „accepit eum in ulnas suas“.
  6. Es ist unklar, ob hier vom „Kreuzesholz der Apostelfürsten Petrus und Paulus“ (Röckelein, in: Kat. Paderborn 2009, S. 451, Nr. 175), oder vom Kreuz des Herrn und Reliquien der Apostel Petrus und Paulus (Bodarwé, Martyrs, S. 361) die Rede ist. Die Bezeichnung der Apostel als domini ist wenig gebräuchlich, auch müsste die Form domini dann im Genitiv Plural stehen; außerdem soll nach apokryphen Berichten Petrus den Märtyrertod am Kreuz erlitten haben (vgl. Thümmel, Memorien, S. 7f.) und Paulus geköpft worden sein (vgl. Horn, Jerusalemreise, S. 19f.). Allerdings gibt es auch Überlieferungen, in denen die Martyrien von Petrus und Paulus aneinander angeglichen wurden, vgl. ebd., S. 20.
  7. Vgl. CIFM 1,1 (Ville de Poitiers), Nr. 26, DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 81, 82.
  8. Vgl. Nr. 32, 34.
  9. Vgl. Nr. 30, 32, 33, 34.
  10. Kat. Paderborn 2009, S. 451f., Nr. 175 (H. R[öckelein]).
  11. Vgl. Nr. 13, 14, 15, 16.
  12. Gen 28,18.
  13. Es handelt sich um die Vierzig Märtyrer von Sebaste, vgl. K. G. Kaster, Art. Vierzig Martyrer von Sebaste, in: LCI 8 (1976), Sp. 550ff.
  14. Kat. Paderborn 2009, S. 451f., Nr. 175 (H. R[öckelein]); vgl. Bodarwé, Martyrs, S. 360. Zu dem ansonsten wenig bekannten Heiligen vgl. G. Michels, Art. 45. Grégoire, in: DHGE 21 (1986), Sp. 1481f.
  15. Vgl. Nr. 11.
  16. Vgl. Röckelein, Leben, S. 91ff.
  17. Zu den Festtagen der Heiligen in den Kalendarien der in der ULB Düsseldorf aufbewahrten Essener Handschriften Ms. D1, Ms. D2 und Ms. D3 vgl. Bodarwé, Martyrs, S. 359ff.; zu den Handschriften ebd. S. 389–397; Röckelein, Reliquienbehältnisse, S. 139ff. Nicht aufgeführt sind die Festtage des Venantius, des Patriarchen Jakobus (Bodarwé ordnet die Reliquie dem Apostel Jacobus dem Älteren zu), des Simeon, des Caesarius und der Vierzig Märtyrer von Sebaste.
  18. In Altarsepulchren befanden sich Reliquien von Dionysius (vgl. Nr. 32), Stephanus und Vincentius (vgl. Nr. 34); in Altären der Ostkrypta Reliquien von Johannes Baptista und Dionysius (vgl. Nr. 15), von Christophorus (vgl. Nr. 14) und von Mauritius (vgl. Nr. 16).

Nachweise

  1. Bodarwé, Martyrs, S. 359ff.
  2. dies., Sanctimoniales, S. 230, Anm. 239 (B).
  3. Röckelein, Reliquienbehältnisse, S. 139ff., mit Abb. 23–25, S. 136.

Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 17 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0001705.