Inschriftenkatalog: Stadt Essen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 81: Stadt Essen (2011)
Nr. 10(†) Dom um 973–1011
Beschreibung
Siebenarmiger Leuchter.1) Bronze mit Resten früherer Vergoldung. Der Leuchter ist aus 46 im Hohlgussverfahren hergestellten Einzelteilen zusammengesetzt. Aus dem quadratischen, vierbeinigen Sockel erhebt sich der senkrechte Stamm, der Übergang ist durch einen kastenförmigen Aufsatz mit einer Halbkugel und durch einen balusterartigen Nodus gegliedert. Um den Nodus herum verläuft ein erhabenes Band mit graviertem Stifter- und Weihevermerk (A). Von den ursprünglich vier sitzenden Figuren an den Ecken des Sockels, durch Spruchbänder mit ebenfalls gravierten Bildbeischriften (B–E) als Personifikationen der Himmelsrichtungen oder der Winde zu erkennen, sind eine vollständig und zwei teilweise erhalten. Die Bildbeischrift der verlorenen Figur ist durch einen Aufsatz von 1858 überliefert.2) Die drei elliptisch gebogenen Arme sind durch kelchförmige Verbindungsstücke am Stamm angebracht; den Abschluss der Arme und des Stamms bilden sieben Kerzenteller. Die Arme und der Stamm werden durch runde und polygonale, ornamental verzierte Knäufe gegliedert, am Stamm befinden sind zusätzlich hochrechteckige Felder mit Rankenmuster. Die ehemals vorhandenen Bergkristalle an den Knäufen wurden durch Glasfluss ersetzt.
Über den Aufstellungsort des Leuchters zur Zeit seiner Entstehung ist nichts bekannt, Vera Henkelmann schlägt den Ostteil der Münsterkirche vor.3) Laut dem Liber ordinarius vom Ende des 14. Jahrhunderts stand der Leuchter zu diesem Zeitpunkt im Mittelschiff im dritten Joch von Westen.4) Aus Anlass der Versetzung des Kreuzaltars wurde der Leuchter im Westwerk aufgestellt, wo er sich nach der Aufstellung im Hochchor, in der Vierung und nach der Auslagerung im Zweiten Weltkrieg heute wieder befindet.5)
Inschrift E nach Didron.6)
Maße: H. 233 cm; B. 200 cm; Bu. 1 cm (A), 0,5 cm (B–D).
Schriftart(en): Kapitalis.
- A
+ · MAHTHILD ABBATISSA ME FIERI IVSSIT · ET (CHRISTO)a) · CO(N)S(ECRAVIT)b) ·
- B
ORIENS ·
- C
AQVILO ·
- D
OCCIDENS
- E†
MERIDIES
Übersetzung:
Äbtissin Mathilde befahl, mich zu machen, und weihte mich Christus. (A) Der Osten. (B) Der Norden. (C) Der Westen. (D) Der Süden. (E)
Textkritischer Apparat
- Buchstabenbestand in griechischen Buchstaben: XO (verschränkt) XP. Die Dopplung beruht vielleicht auf einem Fehler in der Inschriftenvorlage.
- Als Kürzungszeichen für die Suspensionskürzung ist der obere Bogen des S durchgestrichen. Mechthildis me fieri iussit Seemann.
Anmerkungen
- Inv.-Nr. 1.
- Didron, Jours, S. 322.
- Henkelmann, Leuchter, S. 166.
- Arens, Liber ordinarius, S. 44; weitere Überlegungen zum Aufstellungsort bei Henkelmann, Leuchter, S. 158–161.
- Bloch, Leuchter, S. 106.
- Didron gibt die Inschriften A–D nicht fehlerfrei (MATHILD), aber doch derart wieder, dass nicht davon ausgegangen werden muss, dass er die Inschrift E selbständig ergänzt hat. Demnach wurde die Figur des Südens zwischen Didrons Besuch (um 1857) und dem von aus’m Weerth (um 1860) beschädigt, da letzterer bereits nur noch drei Figuren gesehen hat, vgl. aus’m Weerth, Kunstdenkmäler, S. 37. Er schlägt AVSTER als Bezeichnung für Süden vor.
- DI 2 (Stadt Mainz), Nr. 5; Bauer, Epigraphik, S. 26; Conrad, Epigraphik, S. 24; Koch, Weg, S. 232; zum Lothar-Kreuz DI 31 (Aachen Dom), Nr. 11; zum Ambo ebd., Nr. 19; zur Grabplatte Ruothildis von Pfalzel DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 71. Die Form ist auch in der Zierkapitalis einer um 1000 entstandenen Gandersheimer Handschrift (BSBM, Clm 14485) verwendet worden, vgl. Kat. Bonn/Essen 2005, S. 243, Nr. 115 (E. C[escutti]).
- Ob es sich bei dem halbkugelig vertieften Punkt nach XP um einen Bestandteil der Inschrift oder einen Gussfehler handelt, ist nicht zu erkennen. Nach OCCIDENS ist kein Platz mehr für einen Punkt.
- Zu stilistischen Verbindungen zwischen Essen und Aachen vgl. auch Nr. 5 und 6.
- Ex 31–40; Bloch, Stil, S. 534; ders., Leuchter, S. 113.
- Bloch, Stil, S. 539, ders., Leuchter, S. 106–110.
- Bloch, Stil, S. 542–548.
- Westermann-Angerhausen, Entstehungszeit, S. 109ff.
- Bloch, Leuchter, S. 110.
- Westermann-Angerhausen, Entstehungszeit, S. 115.
- Bloch, Leuchter, S. 110.
- Vgl. ebd., S. 69.
- B[audri], Geschenkgeberin, S. 270, nach einer Auskunft von Th. Lacomblet.
- Bloch, Leuchter, S. 121f.
- Vgl. die Beispiele bei Bloch, Leuchter, S. 116. Zu weiteren Bedeutungen der vier Winde ebd., S. 115–118.
- Steenbock, Prachteinband, S. 199f., Nr. 100.
- Vgl. Henkelmann, Leuchter, S. 162f.
- Arens, Liber ordinarius, S. 91; Bärsch, Feier, S. 315f., 363.
- Westermann-Angerhausen, Entstehungszeit, S. 114.
- Beuckers, Otto-Mathilden-Kreuz, S. 54f.; ders., Marsusschrein, S. 48f.; Henkelmann, Leuchter, S. 152. In Kat. Essen 2009, S. 66, Nr. 7 (I. Germes-Dohmen) wird als Datierung „um 990“ angegeben.
Nachweise
- Seemann, Aebtissinnen, S. 4 (A).
- Müller, Geschichtsschreibung, S. 40 (= Nünning) (A).
- StAM, Msc. II (Kindlinger’sche Sammlung) 107, S. 4.
- A[…], Münsterkirche, S. 18.
- von Quast, Münsterkirche, S. 14 (A).
- Didron, Jours, S. 322 (A–E).
- aus’m Weerth, Kunstdenkmäler 1,2, S. 36f., Tafelbd. Tf. 28 (A–D).
- B[audri], Geschenkgeberin, S. 270 (A–D).
- KDM Essen, S. 40, mit Fig. 22 (A).
- Kraus, Inschriften 2, S. 294, Nr. 639 (A–D).
- Goebel, Münsterkirche, S. 26f. (A–E).
- Humann, Kunstwerke, S. 172, 174 (A), 192 (B–D), mit Tf. 21, 23.
- Arens, Münsterkirche, S. 45 (A).
- ders., Liber ordinarius, S. 211 (A).
- Kat. Amsterdam 1949, S. 39, Nr. 91 (A).
- Köhn, Münsterschatz, S. 5 (A).
- Messerer, Goldschmiedewerke, S. 27 (A).
- Kat. Essen 1956, S. 270, Nr. 508 (A).
- Bloch, Leuchter, S. 103f., mit Abb. 60, 61 (A–D).
- Bloch, Stil, S. 536 (A–D).
- Küppers, Kunst, S. 51 (A).
- Favreau, Commanditaires, S. 486 (A).
- Pothmann, Kirchenschatz, S. 140 (A), mit Abb.
- Bodarwé, Sanctimoniales, S. 229, Anm. 232 (A).
- Lange, Mahthildis, S. 97, 103.
- Henkelmann, Leuchter, S. 151, 155, mit Abb. 8 (A–D).
- Kat. Essen 2009, S. 66, Nr. 7, mit Abb. und Übersetzung (I. Germes-Dohmen) (A).
Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 10(†) (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0001006.
Kommentar
Inschrift A ist in Scriptura continua ausgeführt und sorgfältig gearbeitet. Die ausgewogenen, breiten Proportionen einiger Buchstaben (A, B, D, M, kreisrundes O, T) weisen zusammen mit den Linksschrägen- (bei A und M) und Bogenverstärkungen (bei B und D, leichte Bogenverstärkung bei P) und R mit Stachelcauda auf die klassische bzw. karolingische Kapitalis zurück. In den Details weicht die Gestaltung der Inschrift jedoch von diesem Ideal ab: bei M reicht der Mittelteil nicht bis auf die Grundlinie; E und F haben keilförmig verbreiterte Balken; die Schrägschäfte des A treffen stumpf aufeinander, darüber liegt ein dünner Deckbalken, der Mittelbalken ist links überstehend. Die Gestaltung des A mit links überstehendem Mittelbalken ist nicht sehr verbreitet, man findet diese Form allerdings auch in der Inschrift der Mainzer Willigis-Tür (um 1009), am Aachener Lothar-Kreuz (um 980), am Ambo des Aachener Doms (1002–1014) und auf der Grabplatte der Äbtissin Ruothildis von der Pfalzel.7) Die Sporen entsprechen meist nicht den klassischen ausgerundeten Serifen, sondern bestehen häufig nur aus dünnen Strichen, bei S dagegen sind sie schon flächig gestaltet. Die Inschriften B–D wurden überwiegend in einheitlicher Strichstärke ausgeführt, nur in Inschrift C sind die Cauda des Q mit einer Schwellung, L mit Sporn am Balkenende und O mit leichter Bogenverstärkung ausgestattet. Die Inschriften auf den Schriftbändern weisen weitgehend das gleiche Formenrepertoire auf wie Inschrift A, die unregelmäßigere Ausführung ist der unebenen Schriftfläche geschuldet. Halbkugelig vertiefte Punkte auf der gedachten Mittellinie markieren Sinnabschnitte (nach IVSSIT), den Anfang und das Ende von Inschrift A und sind an den Schluss der Inschriften B und C gesetzt.8)
Rudolf Conrad und Konrad F. Bauer schlagen aufgrund der übereinstimmend gestalteten A einen Werkstattzusammenhang für die Mainzer Willigis-Tür und den Essener Leuchter vor. Die Inschriften beider Objekte haben über das A hinausgehende Gemeinsamkeiten, besonders die breiten Proportionen. Stärker ins Gewicht fallen allerdings die Unterschiede: Die Inschrift der Willigis-Tür weist zahlreiche Nexus litterarum und Enklaven auf, unziales H und Q wurden verwendet, die Bögen von B, P und R schließen im Gegensatz zu der Leuchterinschrift nicht direkt am Schaft an, S ist dagegen beim Leuchter schon viel flächiger. Wenn also nicht von einem Werkstattzusammenhang gesprochen werden kann, so ist doch eine nicht näher zu bestimmende Verbindung zwischen den Inschriften aus Mainz und Aachen und den Essener Inschriften festzustellen.9)
Die Gestaltung des Essener Leuchters lehnt sich an die alttestamentliche Beschreibung der jüdischen Menora an.10) Er ist der älteste noch erhaltene christliche siebenarmige Leuchter. Sein Stil ist von antiken und byzantinischen Vorbildern beeinflusst, wie sich z. B. an der Gestaltung der Knäufe, der Rankenornamente und der kelchförmigen Schaftstücke erkennen lässt.11) Abendländische Motive finden sich besonders in den in geometrische Formen eingeschlossenen Rosetten der Knäufe und den Ranken in den hochrechteckigen Kassetten am Leuchterstamm.12) Diese Ornamentik begegnet auch am getriebenen Goldblech der Schwertscheide des Essener Zeremonialschwerts und wird mit der Trierer Egbert-Werkstatt in Zusammenhang gebracht.13) Dagegen lassen der Nietenschmuck und die kleinen Figuren auf dem Sockel Nähe zu Hildesheimer Kunstwerken erkennen.14) Die Herstellung des Leuchters wird in Essen selbst15) oder in Niedersachsen (Hildesheim?) vermutet.16)
Siebenarmige Leuchter haben großen Symbolcharakter. Die Vorstellung, dass der Leuchter Christus als Licht der Welt symbolisiert, wird möglicherweise bereits durch die Inschrift angesprochen, aus der hervorgeht, dass der Leuchter Christus geweiht wurde.17) Die Kürzungen XO und XP werden seit Johann A. F. Baudri als doppeltes Christogramm aufgefasst.18) Die Siebenzahl und besonders siebenarmige Leuchter wurden theologisch u. a. mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes in Verbindung gebracht; dieser Deutung steht auch beim Essener Leuchter nichts entgegen.19) Die ursprünglich vier Figuren an den Ecken des Sockels halten auf Spruchbändern die Bezeichnungen der vier Himmelsrichtungen. Sie symbolisieren die vier in der Apokalypse genanten Winde, die in Darstellungen der Apokalypse häufig als Personifikationen gezeigt werden.20) Die vier Himmelsrichtungen mit ihren Namen, wie sie in den Inschriften B–E genannt sind, wurden z. B. auch auf einem um 1180 hergestellten und heute im Museum Schnütgen, Köln, befindlichen Prachteinband eines Evangeliars inschriftlich bezeichnet.21) In diesem eschatologischen Zusammenhang ist auch die Auferstehung von Bedeutung, womit die Memorialfunktion des Leuchters, die ja bereits aus der Namensnennung in dem Stiftervermerk hervorgeht, noch unterstrichen wird.22)
Die wenigen Hinweise zur liturgischen Funktion des Leuchters entstammen dem Liber ordinarius, sie geben also erst die spätmittelalterliche Situation wieder. Als Bestandteil der Pfingststatio knieten die Scholaren vor dem Leuchter und sangen die Antiphon „Veni sancte spiritus“ mit dem Gebetswunsch „et tui amoris in eis ignem accende“.23) Der Leuchter als Symbol der sieben Gaben des Heiligen Geistes visualisierte das Kommen des Heiligen Geistes, das in den Essener Pfingstfeiern ansonsten nicht weiter dramatisiert in Szene gesetzt wurde.
Die Inschrift nennt Äbtissin Mathilde als Stifterin, weshalb die Herstellung des Leuchters in ihre Regierungszeit (um 973–1011) eingeordnet wird. Zur genaueren Datierung wird teilweise auf die stilistische Ähnlichkeit mit der um 980–990 entstandenen Essener Schwertscheide verwiesen.24) Als Terminus ante quem wird darüber hinaus die Königskrönung Heinrichs II. aus der bayerischen Linie der Ottonen 1002 angeführt, nach der Mathilde nur noch eingeschränkt Zugriff auf das Vermögen der schwäbischen Linie der Ottonen gehabt haben könnte.25)