Inschriftenkatalog: Stadt Essen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 81: Stadt Essen (2011)
Nr. 4† Dom 2. H. 10. Jh. (vor 971 ?)
Beschreibung
Grabgedicht für Äbtissin Hadwig auf unbekanntem Träger. Das Gedicht mit Grabbezeugung, Totenlob und Bitte um Fürbitte von der Verstorbenen ist zusammen mit vier Grabgedichten aus Köln in einer um 1000 im Kloster St. Bertin in Saint-Omer (Département Pas-de-Calais, Frankreich) hergestellten Handschrift überliefert.1) Über die Art der Ausführung und den Ort der Bestattung ist nichts bekannt.
Nach Levison.2)
Perquam conspicuus generoso3) pectore τάφοςa)4)Quo debellato sita victrix principe mundi5)Candida lacteoli coetus antistes6) amicumSpiritui sancto templum7) sed integra vitae8)Hostia grata deo9) sed labis pura sed agnoDigna comes10) dux virginibus dignissima11) castis.Quos hic mundus habet requie decerpta laborum12)Iam meliore sui super aethera13) parte triumphat.14)Non est huic titulus atavos conferre supinosPraestitit his sola virtutis imagine notaAtque ita se gessit dum mundo seria vixit15)Ut nido hanc pennas facile extendisse loquare16)Magno maiores. Subiit nam masculab)17) mundum Foecundum culpae18) ἀρετῆς σπουδαίαc) satellesCertans anglicae fragili sub corpore vitaePropositique tenax19) sexum virtute redemit.Et quam post cineres20) tibi Christe restruxerat edem Augens qua numero commissas qua meritorumDitans dote suas callensque sagacius unaQuid deceat quid non quo virtus quo ferat error.21)Adde quod insignis studio pietatis22) in omnesCara suis iuxta metuendaque mater alumnisIngenium tetrico distinxit mite severo.Tota teres23) vitiisque recalcans tuta tetenditUnguibus a teneris24) mutare superna caducis25)quod sibi iam gratum gratatur compote voto.Qua concessisti naturae26) virgo beataEst subscripta dies quam versu dicere non est.27)Nos prece nos psalmis tibi iusta peregimus – at tuSis nostri memor atque periclad) precare vicissim.
Übersetzung:
Dies ist das wegen des Adels der hier bestatteten Person höchst ansehnliche Grab, in dem nach Überwindung des Fürsten dieser Welt (d. h. des Teufels) die Siegerin ruht, nun die strahlende Anführerin der weißgekleideten Schar (der Engel), dem Heiligen Geist ein geliebter Tempel, (doch) untadelig in ihrem Leben, ein Gott wohlgefälliges Opfer, rein von Sünde, eine des Lamms (d. h. Christi) würdige Gefährtin, eine ganz und gar würdige Führerin der keuschen Jungfrauen. Nachdem sie für sich die Ruhe von allen Leiden, die diese Welt kennt, erlangt hat, triumphiert sie mit ihrem besseren Teil (d. h. der Seele) über dem Äther (d. h. im Himmel). Für sie ist es kein Ehrentitel, erhabene Vorfahren anführen zu können: sie, die allein durch das Abbild ihrer Tugend berühmt ist, hat sich ihnen überlegen erwiesen. Und während sie in der Welt ehrbar lebte, verhielt sie sich so, dass man sagen muss, sie habe aus einem hohen Nest kommend ihre Schwingen mit Leichtigkeit zu noch höherem Flug gereckt. Denn sie nahm mannhaft die Welt, die so fruchtbar an Schuld ist, auf sich als eine eifrige Begleiterin der Tugend, und sie kämpfte in ihrem zerbrechlichen Körper um ein engelhaftes Leben und glich, da sie hartnäckig an ihrem Vorsatz festhielt, den Nachteil ihres Geschlechts (als Frau) durch Tugend aus. Und sie förderte die Kirche, die sie nach dem Brand für dich, Christus, wieder aufgebaut hatte, indem sie die ihr Anvertrauten sowohl an Zahl vermehrte als auch durch die Gabe ihrer Verdienste reich machte und allein, dank ihrer besonderen Klugheit, wusste, was sich ziemt und was nicht, wohin die Tugend und wohin sündige Verirrung führt. Hinzu kommt, dass sie durch ihren Eifer für besondere Frömmigkeit allen ihren Zöglingen gegenüber eine gleichermaßen liebe und zu fürchtende Mutter war und das Edelmütige vom Unfreundlichen wie das Milde vom Strengen wohl zu unterscheiden wusste. Ganz geglättet (von Fehlern) und den Lastern widerstehend strebte sie von frühester Jugend danach, das vergängliche Irdische mit dem sicheren Himmlischen zu tauschen. Dieser Wunsch hat sich nun zu ihrer eigenen Freude erfüllt. Der Tag, an dem du gestorben bist, selige Jungfrau, steht unten geschrieben, da er im Vers nicht ausgedrückt werden kann. Wir haben mit Gebet und Psalmen deine Totenfeier gehalten – du aber sei unser eingedenk, und bitte für uns (bei Gott), so wie wir unsererseits dich mit Bitten angegangen sind.28)
Versmaß: Hexameter, reimlos, metrisch fehlerhaft in Vers 17.
Textkritischer Apparat
- In der Handschrift in Majuskeln: ТАΦОС.
- Levison gibt an, der letzte Buchstabe sei in der Handschrift unleserlich.
- Levison emendiert ΑΡΕΤΗС СΠОΥΔAΙΑ aus ΑΡNΤΗEC (mit hochgestelltem E über N) СΠОΥΔOΙΑ, in der Handschrift in Majuskeln wiedergegeben.
- Levison emendiert zu petita, dem folgt die Übersetzung; Dümmler emendiert zu perita.
Anmerkungen
- Boulogne-sur-Mer (Frankreich), Bibliothèque municipale, Nr. 102. Zur Handschrift vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 78–90 mit weiteren Literaturhinweisen.
- Dümmler, Gedichte, S. 346, benutzt eine Abschrift von Ludwig Bethmann von 1841, Levison lagen dagegen Fotografien der Handschrift vor, weshalb seiner Edition, die nur an wenigen Stellen von der Dümmlers abweicht, der Vorzug gegeben wird.
- Levison, Ursula-Legende, S. 86, Anm. 6, weist auf die Junktur „generosae necis“ in der Passio Ursulae, Kap. 14, hin.
- Das Wort τάφος wurde z. B. auch in der vermutlich um 1000 verfassten Grabschrift für Gregor, Gründer und erster Abt des Klosters Burtscheid, verwendet, vgl. DI 32 (Aachen Stadt), Nr. 2.
- Die Bezeichnung „princeps mundi“ für den Teufel nach Io 12,31; Weyman, Rezension, S. 90, verweist auf die Verwendung dieser Metapher in einem von Papst Damasus I. verfassten Epigramm, vgl. Damas., epigr. 7,2 (Ferrua, Epigrammata, S. 98). Levison, Ursula-Legende, S. 86, Anm. 6, erwähnt die (vielleicht zufällige) Übereinstimmung mit der ersten Passio Ursulae, Kap. 2: „quia immanis ursi rabiem, videlicet diaboli, erat debellatura“.
- Vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 87 und 149: In der ersten Passio Ursulae, Kap. 8, wird die Heilige als “lacteoli coetus candida antistes” bezeichnet. Levison vermutet, dass der Verfasser der Passio sich an dem Text des Epitaphs orientiert hat, und weist auf weitere, wenn auch weniger aussagekräftige Übereinstimmungen hin, vgl. Anm. 3, 5, 11, 15, 26.
- I Cor 3,16: „templum Dei estis et Spiritus Dei habitat in vobis“; ebd., 6,19: „membra vestra templum est Spiritus Sancti“.
- Hor., carm. 1, 22, 1: „Integer vitae“.
- Phil 4,18: „hostiam acceptam placentem Deo“. Die Junktur „hostia grata Deo“ findet sich z. B. bei Rabanus Maurus, In honorem sanctae crucis, D 28,25 (CCCM 100, S. 285); ders., Homiliae, 8 (Migne, PL 110, Sp. 20), und bei Walahfrid Strabo, Versus de Beati Blaithmaic vita et fine 135.
- Vgl. Apc 14,4.
- Vgl. den Hinweis bei Levison, Ursula-Legende, S. 86, Anm. 6, auf die Bezeichnung „virgo vero Deo dignissima“ in der Passio Ursulae, Kap. 2.
- Weyman, Rezension, S. 90, schlägt für decerpta „de certa“ vor und verweist auf Verg., Aen. 3, 393, und Prud., apoth. 394. Strecker hält decerpta für möglich, problematisiert aber die dann kurz zu messende Ablativendung.
- Vgl. Verg., Aen. 1, 379: „fama super aethera notus“.
- Die Bezeichnung „pars melior“ für die Seele z. B. bei Ovid, met. 15, 875f.; Sen., epist. 82, 1.
- Vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 86, Anm. 6 mit dem Hinweis auf die Passio Ursulae, Kap. 3: „virginitatis serio splendore“ und Kap. 16: „pro cuius amore serio“.
- Vgl. Horaz, epist. 1, 1, 21: „maiores pinnas nido extendisse loqueris“.
- Die topische Beschreibung der ‚Mannhaftigkeit’ einer Äbtissin findet sich z. B. auch in der Grabinschrift für die Neuenheerser Äbtissin Walburg (gest. wohl vor 900): „mente virili“, vgl. Scholz, Neuenheerse, S. 143f.
- Vgl. Horaz, carm. 3, 6, 17: „fecunda culpae“.
- Horaz, carm. 3, 3, 1: „tenacem propositi virum“; Grabinschrift von Ebf. Anspert von Mailand (MGH Poetae 4, hg. v. K. Strecker, S. 1009,4): „propositique tenax“.
- Vgl. Ven. Fort., carm. 3, 1 (hg. v. F. Leo, MGH AA 4,1, S. 278,1): „post patriae cineres“.
- Der ganze Vers stammt von Horaz, ars 308.
- Verg., Aen. 6, 403: „pietate insignis et armis“.
- Hor., sat. 2, 7, 87: „totus teres“.
- Vgl. Hor., carm. 3, 6, 24: „de tenero meditator ungui“. Das in der gleichen Handschrift wie das Epitaph für Hadwig überlieferte Grabgedicht für einen Unbekannten (MGH Poetae 5, hg. v. K. Strecker, S. 304,1) hat „ab ungue tenello“; ein Epitaph des 10. Jh. aus SS. Cosmas und Damian, Rom (MGH Poetae 5, hg. v. K. Strecker, S. 342, Nr. 117,9) „ungue sed a tenero“; weitere Belegstellen in TPMA 8, S. 331.
- Der ganze Vers mit Infinitiv statt Partizip Präsens findet sich im Gedicht eines unbekannten Autors auf die hl. Scholastica, vgl. MGH Poetae 5, hg. v. K. Strecker, S. 599,17. Vgl. auch Nr. 9 C und Nr. 145.
- Zu ‚concedere naturae’ für ‚sterben’ vgl. Sall., Iug. 14, 15. Vgl. Levison, Ursula-Legende, S. 86, Anm. 6: „naturae cederet“ in der Passio Ursulae, Kap. 5.
- Hor., sat. 1, 5, 87: „Mansuri oppidulo, quod versu dicere non est“. Vgl. dazu Kassel, Versu, S. 212.
- Übersetzung Fidel Rädle, Göttingen.
- Vgl. die Grabinschrift der Äbtissin Walburg im Stift Neuenheerse. Hier befindet sich der Sterbevermerk mit dem Todesdatum als siebte Zeile unter den drei Distichen der Grabinschrift: Scholz, Neuenheerse, S. 143f. mit Abb. 1, S. 142.
- Levison, Ursula-Legende, S. 83.
- Manitius, Analekten, S. 7f.; Quint, Untersuchungen, S. 7f., 10ff. Zur Horazrezeption im 9. und 10. Jh. im Reich vgl. Manitius, Analekten, S. 25–33, mit Hinweis auf das Grabgedicht für Hadwig auf S. 31.
- Vgl. Drögereit, Griechisch-Byzantinisches, passim; Berschin, Mittelalter, S. 235f.; Bodarwé, Sanctimoniales, S. 192ff.
- Gerß, Heiligtum, S. 109.
- Die Titelbilder der Handschrift, die vermutlich die Viten der Stiftspatrone Cosmas und Damian enthielt, sind als Nachzeichnung überliefert, vgl. Rensing, Kunstwerke, S. 44–54; Schnitzler, Kunstwerk, S. 116f.; Hoffmann, Buchkunst, S. 145ff. Auf dem Dedikationsbild ist Hadwig dargestellt, die, zusammen mit einer zweiten Stiftsdame, der Gottesmutter das Buch darbringt, während sie durch die hl. Pinnosa Maria empfohlen wird. Die Darstellung der Heiligen, deren Reliquien während Hadwigs Abbatiat nach Essen gelangt sind, ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass in der Handschrift auch ein früher hagiographischer Text für Ursula und möglicherweise auch für Pinnosa enthalten war, vgl. Bodarwé, Sanctimoniales, S. 371. Die Titelbilder sind mit den Miniaturen der ebenfalls in Fulda hergestellten Handschrift mit hagiographischen Texten für die hl. Margarete und den hl. Kilian vergleichbar, weshalb auch für diese Handschrift von einer Auftraggeberschaft Hadwigs ausgegangen wird, vgl. Hoffmann, Buchkunst, S. 145f., 151f.; Hahn, Kommentarband, S. 135ff.; Immel, Einleitung, S. 246; Bodarwé, Sanctimoniales, S. 432; Siebert-Gasper, Margaretentradition, S. 30–36.
- Nr. 8.
- Vgl. Nr. 9.
- Bodarwé, Sanctimoniales, S. 193ff.
- Althoff, Adels- und Königsfamilien, S. 213, 351; Siebert-Gasper, Margaretentradition, S. 48. Zu weiteren Einträgen ihres Todestages vgl. Harleß, Necrologien, S. 77 (das Kalendarium gehört zu der Sakramentarhandschrift Ms. D2 in der ULB Düsseldorf; vgl. zur Handschrift Bodarwé, Sanctimoniales, S. 392ff.); Ribbeck, Necrologium, S. 98, Anm. 3; zum Eintrag im Borghorster Nekrolog vgl. Althoff, Necrolog, S. 68, 160. Im Liber ordinarius sind zu ihrem Todestag drei Messen eingetragen, vgl. Arens, Liber ordinarius, S. 121.
- MGH D O I. 85; Rhein. UB 2, Nr. 164; Essener UB 1, Nr. 15 (947 Januar 13).
- Vgl. die Nachricht in den Annales Colonienses (hg. v. G. H. Pertz, MGH SS 1, S. 98) zu 946.
- Zimmermann, Papsturkunden, Nr. 124; Rhein. UB 2, Nr. 165 (951?).
- MGH D O II. 49; Rhein. UB 2, Nr. 167; Essener UB 1, Nr. 20 (973 Juli 23).
- Angenendt, Religiosität, S. 150; Frank, Angelikos bios, S. 18–62.
- Frank, Angelikos bios, S. 30.
- Weyman, Rezension, S. 90; vgl. Regula Benedicti, Kap. 2,23f.; 64,15.
Nachweise
- Boulogne-sur-Mer, Bibliothèque municipale, Nr. 102, fol. 135v, 136r.
- Levison, Ursula-Legende, S. 80f. –Dümmler, Gedichte, S. 346.
- Kraus, Inschriften 2, S. 283, Nr. 616, I.
- MGH Poetae 5, hg. v. K. Strecker, S. 303f.
Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 4† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0000408.
Kommentar
Das aus 30 Hexametern bestehende Grabgedicht ist unikal in der Handschrift aus St. Bertin überliefert; in Essener Quellen findet das Grab der Äbtissin keine Erwähnung. Die Grabbezeugung im ersten Vers kann allerdings als Hinweis auf die inschriftliche Ausführung verstanden werden, auch wenn diese nicht mit Sicherheit zu belegen ist. Für das Vorhandensein einer Inschrift spricht weiterhin das Horazzitat im 28. Vers, aus dem auf eine Anbringung des Sterbedatums, das der Autor nicht metrisch ausdrücken konnte, an anderer Stelle auf dem Grabmal geschlossen werden kann.29) In der Handschrift wird die Überlieferung des Grabgedichts durch Aussagen zu Hadwigs 48jährigem Abbatiat und ihrem Todestag am 18. Juli ergänzt.30) Die komplizierte Syntax, die Verwendung griechischer Begriffe und die zahlreichen Zitate bzw. formelhafte Wortverbindungen aus Werken antiker und frühchristlicher Autoren (v. a. Horaz, Vergil und Venantius Fortunatus) lassen auf die Gelehrtheit des Verfassers oder der Verfasserin schließen. Besonders die Junkturen, die den Oden des Horaz entnommen sind, fallen auf, da die Carmina bis ins 13. Jahrhundert zu den weniger rezipierten Werken des Autors gehörten.31) In Essen ist die Verwendung des Griechischen in Handschriften im 10. und 11. Jahrhundert mehrfach belegt,32) außerdem waren einige Reliquienpäckchen mit griechischen Authentiken versehen33). Griechisch wurde z. B. für die Bildbeischriften auf den Titelbildern in zwei Vitenhandschriften verwendet, die von Hadwig (oder, im Fall der Handschrift mit den Martyriumsberichten der heiligen Margarete und des heiligen Kilian, von einer ihrer Nachfolgerinnen) in Fulda erworben wurden.34) Fehlerhafte griechische Inschriften finden sich auf dem Stifteremail des Mathilden-Kreuzes,35) und am Marsusschrein war ein byzantinisches Siegel mit griechischer Beischrift angebracht.36) Allerdings kann aus den wenigen liturgischen Texten und Beischriften in Griechisch nicht auf vertiefte Sprachkenntnisse geschlossen werden.37) Die Sprache wurde vielmehr gewählt, um Bedeutung und besondere Würde zu betonen. Auch die griechischen Wörter in dem Grabgedicht sind als besonderer Schmuck zu verstehen.
Außer den Informationen aus den Urkunden und dem Grabgedicht ist nur wenig über Äbtissin Hadwig bekannt. Verschiedene Indizien wie ihr Name, der Eintrag ihres Todestages im Merseburger Nekrolog und die Bedeutung des Stifts Essen als ottonisches Familienstift legen den Schluss nahe, dass auch Hadwig der ottonischen Familie angehörte.38) Sie wird erstmals in einer Urkunde Kaiser Ottos I. genannt, in der er dem Stift Essen das Wahlrecht und die Immunität verleiht und mehrere Schenkungen bestätigt.39) Die Bestätigung war nötig geworden, weil Teile des Stifts und fast alle Urkunden bei dem in dem Grabgedicht erwähnten verheerenden Brand 946 vernichtet wurden.40) Außer einer weiteren Urkunde, die Papst Agapit II. wohl 951 für Hadwig ausgestellt hat,41) haben sich keine Urkunden aus ihrer Amtszeit erhalten. Die genaue Dauer ihres Abbatiats ist nicht überliefert. Hadwigs Nachfolgerin Ida starb vermutlich 971; durch eine Urkunde ist erst deren Nachfolgerin Mathilde 973 sicher belegt.42) Aus dem Hinweis auf Hadwigs lange Amtszeit und die Wiederaufbauarbeiten nach dem Brand von 946 geht hervor, dass sie dem Stift bereits in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts vorstand.
In dem Grabgedicht wird Hadwigs vornehme Abstammung in mehreren Versen thematisiert. Mit dem darauf Bezug nehmenden Horazzitat wird dagegen die Bedeutung ihres Eintritts in die geistliche Gemeinschaft betont. Auf diesen Aspekt beziehen sich weitere Verse des Gedichts, in denen ihre Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit gerühmt wird. Der Begriff der ‚Vita angelica’ steht in enger Verbindung mit dem frühen Mönchtum und bezeichnet in diesem Zusammenhang ein Leben in Abgeschiedenheit von der Welt, Askese, Hingabe an den Willen Gottes und Keuschheit.43) Dieser letzte Aspekt wird häufig besonders betont.44) Carl Weyman wies auf die Anklänge in den Versen 22 und 23 des Grabgedichts an die Kapitel 2 und 64 der Regula Benedicti hin, in denen die Anforderung an den Abt, ein Gleichgewicht zwischen Güte und Strenge zu schaffen und von den Mönchen mehr geliebt als gefürchtet zu sein, beschrieben werden.45)