Inschriftenkatalog: Enzkreis
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 22: Inschriften Enzkreis (1983)
Nr. 65 Tiefenbronn, kath. Pfarrkirche 1432
Beschreibung
Retabel des. sog. ‚Tiefenbronner Altars‘ (Maria-Magdalenen-Altar) im südlichen Seitenschiff. Flügelaltar mit spitzbogigem Abschluß. Darstellungen: im Schrein Schnitzfigur der hl. Maria Magdalena (Anfang 16. Jh.), umgeben von Engelsfiguren. Im linken Flügel innen gemalt Standfigur der hl. Martha, im rechten Flügel innen gemalt Standfigur des hl. Lazarus. Im Tympanon des Spitzbogens Gastmahl in Bethanien. In der Predella Christus in Halbfigur, rechts und links kluge bzw. törichte Jungfrauen in Halbfigur; rechts und links außen zwei Wappen. Bei geschlossenem Altar zeigt die Hauptzone des Altars, durch Inschriftenstreifen unterteilt, drei Szenen aus der Legende der bethanischen Geschwister: auf dem linken Flügel die drei Geschwister mit Maximinus und Cedonius im Schiff auf dem Meer; auf dem Mittelbild (Türen des Schreins) Landung der Schiffbrüchigen in Marseille, im Hintergrund kleinfigurig das Schlafgemach der Fürstin, in dem Maria Magdalena der Frau des Fürsten im Traum erscheint. Auf der Außenseite des rechten Flügels wird Maria Magdalena als Büßerin von Engeln in die Kathedrale zu Aix gebracht, um von Maximinus die hl. Kommunion zu empfangen1. Inschriften: bei geschlossenem Altar ist die Bildzone durch grüne Schriftstreifen mit Silberschrift in die einzelnen Bildfelder geteilt. Ein horizontaler Schriftstreifen grenzt das Tympanon vom Hauptfeld ab; seine Inschrift ist auf dem zweiten horizontalen Schriftstreifen zwischen Hauptbildfeld und Predella fortgeführt (A). Die vertikalen Schriftstreifen zu beiden Seiten des Mittelbildes tragen die berühmte Meisterinschrift des Lucas Moser aus Weil der Stadt; sie beginnt links unten und endigt links oben mit Jahreszahl (B), setzt dann rechts unten neu ein und läuft wiederum nach oben, in gleicher Richtung wie die linke zu lesen (C). Weitere Inschriften in den Nimben auf dem Bild von der Seefahrt (D), in den Nimben des Mittelbildes (E) und in den Nimben des Bildes von der letzten Kommunion der Heiligen (F); im Tympanon (Gastmahl) in den Nimben des Christus und des Petrus (G). In der Predella zwei Spruchbänder bei der Christusfigur zwischen den Jungfrauengruppen (H). Auf den Innenflügeln Nimbeninschriften der beiden Standfiguren (I). Mantelsauminschriften mit sinnloser (bzw. durch willkürliche Restauration entstellter) Buchstabenreihung in der Predella, im Schiffahrtsbild, im Mittelbild. Farbige Malerei auf Pergament über Holzuntergrund.
Maße: H. 297, B. 237, B. (Schriftstreifen A–C) 7 , Bu. 4,2–4,5 (A, B), 2 (C–G, I), 1,1 cm (H).
Schriftart(en): Gotische Minuskel, byzantisierende bzw. orientalisierende Renaissanceschriften.
Textkritischer Apparat
- Es fehlt das Endungs-o. Ursprünglich so? Für eine mißverständliche Restauration fehlt ein Sinnzusammenhang, während sie bei den anderen Ordnungszahlen (aus einem et?) möglich erscheint.
- Die Schriftfortführung bzw. der Schriftanfang durch andere Bildmotive verdeckt, daher ergänzt.
- Heute kaum noch sichtbar. Lesung nach älteren Abbildungen. Bei G die Inschrift im Christus-Nimbus teilweise in griechischen Buchstaben; früher noch Alpha und Omega sichtbar, heute erloschen.
Anmerkungen
- Allgemein zur Verehrung der Maria Magdalena H. Hansel, Die Maria-Magdalena-Legende I. Greifswald 1937. – M. Janssen, Maria Magdalena in der abendländischen Kunst. Ikonographie der Heiligen von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert. Diss. (masch.) Freiburg 1962. – LThK.2 VII 39ff.
- Zutat einer Restaurierung? Oder zeitgleich mit der größeren Inschrift, also 1432, sozusagen als Transkription?
- G. Piccard, Der Magdalenenalter in Tiefenbronn. Wiesbaden 1969. Hier auch Verzeichnis der älteren Literatur. – Zur Resonanz der Thesen von Piccard vor allem R. Hausherr, ‚Der Magdalenenalter in Tiefenbronn‘. Bericht über die wissenschaftliche Tagung am 8. und 9. März 1971 im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, in: Kunstchronik Jg. 24 (1971) 177–212. Die von Hausherr zitierten Diskussionsbeiträge von Rudolf M. Kloos und Hansmartin Decker-Hauff nicht im Druck erschienen. Audrücklich und dankbar sei an dieser Stelle erwähnt, daß 1971 die epigraphischen Probleme des Tiefenbronner Altars in mündlichem Gespräch mit Rudolf M. Kloos († 1982) im Zusammenhang mit seinem Beitrag zum Münchener Colloquium erörtert werden konnten. – Von den zahlreichen Rezensionen des Piccard’schen Buches vor allem hervorzuheben W. Köhler, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 35 (1972) 228–249.
- R. E. Straub, Einige technologische Untersuchungen am Tiefenbronner Magdalenenaltar des Lucas Moser, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 7 (1970) 31–56.
- KdmBaden IX 7, 226.
- Kloos, Epigraphik 155 mit Abb. Taf. VIII. – Vgl. auch das Musteralphabet des Johannes Heylin de Lapide (Stein/Enzkreis) in einer Baseler Handschrift (um 1468). Dazu M. Steinmann, Die humanistische Schrift u. die Anfänge des Humanismus in Basel, in: Archiv für Diplomatik 22 (1976) 376–437, Abb. Taf. XXIV.
- Kunstchronik a. a. O. 189 (Kloos).
- M. Tripps, Hans Multscher. Weißenhorn 1969. Über Beschriftungen 212 (m. Abb.), 259. Kargretabel: Tafel IV u. VI.
- Decker-Hauff (nach Kunstchronik a. a. O. 192f.).
- Urkunde HStAStuttgart A 191 U 815. Faksimile bei Piccard a. a. O. Taf. 28.
- Freilegung 1947; vgl. E. Lacroix, Aufgedeckte Malereien in der Kirche zu Tiefenbronn, in: Maltechnik Heft 2 (1955). – Janssen a. a. O. 359.
- Zusammenstellung bei Piccard a. a. O. 64ff.
- Dazu vor allem die Ausführungen von Köhler a. a. O. 234ff. – N. Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter Bd. I, II. Paderborn 1922, 23.
- Über die Beweiskraft von Inschriften vgl. W. Müller, Urkundeninschriften des deutschen Mittelalters (Münchener Hist. Studien, Abt. Geschichtl. Hilfswissenschaften Bd. XIII), Kallmünz 1975, 26ff.
- KdmBaden IX 7, 237.
Nachweise
- KdmBaden IX 7, 226ff.
- Piccard, Magdalenenalter passim (m. Lit.).
Zitierhinweis:
DI 22, Inschriften Enzkreis, Nr. 65 (Renate Neumüllers-Klauser), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di022h008k0006504.
HIC · IN · ALTARI HONORANDI · SV/NT · Ia) B(EA)TA · MARIA · MAGDALENA / 2° B(EA)T(V)S · ANTHONIVS · 3° · B(EA)T(V)S / VENERABILIS · EKHARDVS [. . . . .] DICAT [. . . . .] / MARIA · MAGDALENA · (ET) · IN · DIE ·/ BE(A)T(I) · ANTHONY · (ET) · EKHARDI · TOTIDE/M · INDVLGENCIA [. . . . . . .]
Übersetzung:
Hier auf diesem Altar werden verehrt zum einen die heilige Maria Magdalena, zum zweiten der heilige Antonius, zum dritten der heilige verehrungswürdige Erhard. (Es wird gegeben am Tag) der heiligen Maria Magdalena und am Tag der heiligen Antonius und Erhard ebensoviele (Tage?) Ablaß.
+ schri · kvnst · schri · vnd · klag · dich · ser · din · begert · iecz · niemen · mer · so · o · we · 1432 ·
+ LVCAS · MOSER · MALER · VON · WIL · MAISTER · DEZ · WERX · BIT · GOT · VIR · IN ·
Auf den vertikalen Schriftstreifen Wiederholung der Inschrift unter den größeren (und schwer lesbaren) Schriftzeichen in kleinerer Schrift (gotische Minuskel); die zeitliche Ansetzung dieser Umschrift ist ungeklärt2.
· maria · m[agdalena]b) · [sa]nctus · maxi[minus]b) s · lazarus · martha · sanctus · cedon[ius] epi(scopus)c)
· sanctus · cedonius · epi(scopus) · s · maximinus · sancta · martha [sanct]us · lazarusb) · sancta · maria ·
· sanctus · maximinus · epi(scopus) · sancta · maria · ma[gdalena]b)
XPIST · sanctus · petrusc) ·
venite · benedicti · nescio · vos
Übersetzung:
Kommt her, ihr Gesegneten. – Ich kenne euch nicht.
sancta · marthasanctus · lazarus
Kommentar
Die im letzten Jahrzehnt nach Erscheinen einer umfangreichen Veröffentlichung über den Tiefenbronner Altar neu in Gang gekommene Diskussion über das Kunstwerk, seine historischen Bezüge und stilistischen Voraussetzungen kann in diesem Rahmen nicht referiert werden3. Im Zusammenhang mit materialtechnischen Untersuchungen des Retabels wurde die bestrittene Echtheit der Inschriften (mit Ausnahme der Nimbeninschriften auf der Innenseite der Flügel) eindeutig geklärt4. Überarbeitet sind zweifellos auch die Nimbeninschriften der anderen Darstellungen, deren ursprünglicher Charakter jedoch gewahrt blieb. Restaurationen des Altars sind für die Jahre 1859/61, 1899 und 1938 belegt5. Für die schriftgeschichtlich bedeutsamsten Inschriften A (Altartitulus und Ablaßformeln) und B bzw. C (Klageruf mit Datierung, Künstlerinschrift) lassen sich zwar Überarbeitungen, aber keine bestandverändernden Eingriffe nachweisen. Inschrift A ist in einer Mischung aus Kapitalis, Uncialis und Minuskel geschrieben; charakteristisch ist das byzantinischen Einflüssen entstammende sog. frühhumanistische M in Form eines H mit Mittelstrich, das rundbauchige E (neben einem Minuskel-e), A mit breitem Deckbalken und geknicktem Querbalken, aber auch mit einem Deckbalken, der deutliche Dreieckssporen an den Enden trägt. Diese Buchstaben kennzeichnen eine Übergangsschrift, die Elemente der gotischen Majuskel und früher Renaissance-Schriften in sich vereinigt. Ähnliche Buchstabenformen finden sich in Musteralphabeten deutscher Frühhumanisten, von denen das des Sigmund Gotzkircher zeitlich unmittelbar benachbart ist6. In der Formulierung der Dedikationsinschrift fallen die Aufzählungen 1°, 2°, 3° (primo, secundo, tercio) als sprachlich ungewöhnlich auf; zweimal ist statt Erhardus die Form Ekhardus gewählt; möglicherweise Ergebnis von Überarbeitungen? Die Inschrift B (Klageruf mit Jahreszahl, deren bisherige Lesung durch Piccard von 1431 auf 1432 verbessert wurde) ist als eine sehr stark ornamentierte gotische Minuskel anzusprechen, deren Grundform wiederum durch Elemente verändert ist, die humanistischen Schriftarten entstammen (Knoten in Schaftmitte bei m, n, o). Die Brechungen und Knickungen der Buchstaben sind malerisch verändert. Die vierte Schriftform (Inschrift C) ist eine Sonderform die sich durch eine Nachahmung hebräischer Quadratschriften erklären läßt7. Die Vielfalt der Schriftarten – drei in den Inschriften der Rahmenleiste, dazu die gotische Minuskel der Nimbeninschrift und der Spruchbänder der Predella – hat in Altarwerken der Zeit gelegentliche Parallelen aufzuweisen. Bekannt ist die Beschriftung des Genter Altars der Brüder van Eyck (1432), stärker beachtet wurden erst in jüngster Zeit die Schriften des Hans Multscher (Kargretabel 1433), die eine ähnliche Mischung noch gotischer Schriftformen mit dem Bemühen um Übernahme und Aneigung früher Renaissanceschriften dokumentieren8. Die frühzeitige Anwendung dieser Schriften in der Tafelmalerei mag durch Anregungen italienreisender Künstler zu erklären sein, ebenso sind aber auch Einflüsse der niederländischen Kunstzentren, vielleicht auch Nordfrankreichs und Burgunds zu berücksichtigen. Die Wappen auf der Predella sind auf die Eheleute Bernhard von Stein zu Steinegg und Agnes Maiser von Berg zu beziehen (beide etwa um 1385/95 geboren); sie heirateten etwa um 1410 und werden 1427 und 1431 noch genannt. Um 1435 heiratete Bernhard zum zweiten Mal9. Ungedeutet bleibt ein kleines Wappen auf dem rechten Flügel außen (Kathedrale von Aix). Die Beziehung auf die Familie Gemmingen kann nicht zutreffen, da es statt der blauen Querbalken rote Querbalken zeigt.
Für die noch immer offene Frage nach dem Patrozinienwechsel der Tiefenbronner Pfarrkirche ist aus den Inschriften keine unmittelbare Aufhellung zu gewinnen. 1455 wurde die Pfarrei Tiefenbronn von der Mutterkirche Friolzheim gelöst und zur selbständigen Pfarrkirche erhoben10. Damals muß der Altar bereits an seinem jetzigen Standort gewesen sein, wo er einen spitzbogig gerahmten gemalten Wandretabel (drei Heilige) ersetzte, der durch den Einbau des Altars zerstört wurde11. Patronin der Kirche war die Gottesmutter, sie blieb es nach urkundlichen Belegen bis ins Ende des 16. Jahrhunderts12. Da die Ablaßinschrift als originaler Bestand des Altars von 1432 nachgewiesen ist, muß der Ablaß bei Aufrichtung des Altars entweder schon bestanden haben oder unmittelbar mit der Altarstiftung zusammenhängen. Schriftliche Bezeugungen für den Ablaß fehlen, aber die Vielfalt spätmittelalterlicher Ablaßverleihungen war keinswegs immer an Privilegien gebunden13. Die (in)schriftliche Bezeugung des Ablasses auf einem geweihten Altar entsprach nach spätmittelalterlicher Praxis durchaus einer kirchlichen Bestätigung und war einem Privileg gleichzusetzen14. Wenn durch diesen Ablaß am Marien-Magdalenen-Altar eine hervorragende Stellung der Heiligen präjudiziert wurde (die sich auch durch die Darstellung von Maria Magdalena am Chorgestühl als einziger Heiligengestalt neben Maria schon für die Zeit um 1500 belegen läßt)15, so ist der allmähliche Patrozinienwechsel, wie er nach den Quellen zu verfolgen ist, eine indirekte Folge der Ablaßverleihung und Altarerrichtung.