Inschriftenkatalog: Ehemaliger Landkreis Querfurt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 64: Querfurt (2006)
Nr. 10 Barnstädt, ev. Kirche (St. Wenzel) 2. H. 13. Jh.
Beschreibung
Glocke, Bronze. Unterhalb der gewölbten Haube befindet sich an der Schulter zwischen zwei doppelten Schnurstegen die rückläufige und spiegelverkehrt hervortretende Segens- und Beschwörungsformel. Den Wolm umlaufen zwei 2 cm breite Riemenstege.
Maße: H.: 88 cm; Dm.: 104 cm; Bu.: 4–6 cm.
Schriftart(en): Gotische Majuskel.
+a) CHR(ISTV)Sb) VIVIKATc) · AGIAd) · +e) CHR(ISTV)Sb) IIMPERATf) · +g) REGNAT Xh)
Übersetzung:
Christus erweckt zum Leben. AG(L)A. Christus gebietet und herrscht.
Textkritischer Apparat
- Brakteatenkreuz, zusammengesetzt aus einem ganzen Brakteatenabdruck in der Mitte, umgeben von vier halben. Vgl. dieselbe Verzierung auf den Glocken zu Cösitz (Lkr. Köthen; 1. V. 14. Jh.), Crüchern (Gem. Wohlsdorf, Lkr. Bernburg; 14. Jh.), Gnetsch (Lkr. Köthen; um 1300) in Schubart 1896, S. 172 (Abb. 34), 178, 246 sowie auf der Seeburger Glocke (Lkr. Mansfelder Land; 1. V. 14. Jh.) in Schuster 1967, Abb. 17.
- CHR(ISTV)S] Befund: XPC. Abk. mittels waagerechtem Balken über dem griechischen P.
- VIVIKAT] Lies vermutlich: VIVIFICAT.
- AGIA] AGLA LfD Halle, Glockenaktenslg.; EGB.
- Lateinisches Kreuz.
- IIMPERAT] Lies: IMPERAT.
- Griechisches Kreuz mit Sporen.
- X] Möglicherweise als Andreaskreuz zu interpretieren oder als CH(RISTVS) zu lesen.
Anmerkungen
- Vgl. Quint. Inst. 7, 4, 24. Dort heißt es in bezug auf die Redekunst: „(...) quale quidque videatur, eloquentiae est opus: hic regnat, hic imperat, hic sola vincit.“ (Übers.: „wie aber jedwede Sache erscheint, das ist das Werk der Redekunst: hier herrscht sie, hier gibt sie die Anweisungen, hier siegt allein sie.“)
- Vgl. Ord. Weihe u. Krönung 1960, S. XXXI f., 28, 46 (Lit.); DI 54 (Mergentheim) 2002, Nr. 5 (Lit.).
- Vgl. Otte 1884, S. 122 (Lit.); Chassant/Tausin 1, 1878, S. 47. Siehe für die spätere Zeit auch Dielitz 1888, S. 390.
- Vgl. Franz 2, 1909, S. 96, Übers.: „Christus siegt, Christus herrscht, Christus gebietet, Christus möge uns und unsere Früchte vor allem Übel verteidigen.“ Vgl. dazu die Inschrift einer Glocke von 1528 in Kerzerz (Kanton Bern) in Walter 1913, S. 308: „XPC vincit XPC regnat XPC imperat XPC ab omni malo nos defendat.“ Zu weiteren Glocken mit dieser Segensformel vgl. Walter 1913, S. 209 (Aschaffenburg; 14. Jh.), 212 (Hilberath, Gem. Rheinbach, Rhein-Sieg-Kr.; 1352), 217 (Root, Bezirk Luzern; 1380), 308 Anm. 5 (Hahn, Rhein-Hunsrück-Kreis), 308f. Anm. 5 (Blumau, pol. Bezirk Fürstenfeld, Steiermark; 14. Jh.), ebd. (Binn, Bezirk Goms, Kanton Wallis; 13. Jh.), 461 (Rom; 1823); Kdm. (Sangerhausen) 1882, S. 55f. (Riethnordhausen, Lkr. Sömmerda; 1. H. 14. Jh.); DI 54 (Mergentheim), Nr. 5 (Bad Mergentheim, Main-Tauber-Kreis; 2. H. 13. Jh.?); Dt. Glockenatlas 4 (Baden) 1985, Nr. 596 Endingen (Lkr. Emmendingen; 1256); Otte 1884, S. 123 Anm. 1 (Dettingen a. d. Erms, Lkr. Reutlingen).
- Vgl. Grössler 1878, S. 39. Als seltenes Beispiel sei die Glocke in Hirschfeld (Lkr. Zell) angeführt, vgl. Walter 1913, S. 263. S. a. die Inschrift am Paderborner Tragaltar, Bergner 1905, S. 390.
- Vgl. dazu die Gebete während der Glockenweihe, in denen die göttliche Macht des Herrn für die Glocke erbeten wird, in Steffens 1898, S. 169–172, 179f.; Reindell 1961, S. 868 mit Anm. 29a.
- Zur Bedeutung von AGLA vgl. Nr. 3.
- Vgl. die dem Schriftbild sehr nahestehende Glocke zu Beesenlaublingen (Lkr. Bernburg; 13. Jh.) in Schilling 1988, S. 139 (Abb. 246). Die wohl früheste datierte Glockeninschrift, deren geritzte Buchstaben schon Abschlußstriche aufweisen, findet sich auf einer Tornower Glocke (Gem. Göritz, Lkr. Uckermark; 1276), vgl. Schilling 1988, S. 135 (Abb. 229). Hingegen sind die Lettern auf der Helftaer Glocke (Lutherstadt Eisleben; 1234) noch völlig offen, vgl. Kdm. (Mansf. Seekr.) 1895, S. 263. Zu den Brakteatenkreuzen vgl. Anm. a.
- Vgl. Schuster 1967, S. 334.
- Als Inschriften tragen drei der unter Anm. a angeführten Glocken das Formular SIT TEMPESTATUM PER ME GENUS OMNE FUGATUM, die vierte in Gnetsch VAS DEUS HOC SIGNA PLEBS SALVA SIT AURA BENIGNA. Auf sämtlichen Glocken wurden die Buchstaben ausgeschabt und bis auf die Gnetscher Inschrift mit einer feinen Zierlinie umrandet, vgl. Schubart (wie in Anm. a) Abb. 33, 38, 76 und Schuster (wie in Anm. a) Abb. 13, 14, 15. Siehe hierzu auch Nr. 21.
- Schillings Datierung „um 1200“ ist wohl der unzutreffenden Angabe geschuldet, es handele sich hierbei um eine Bienenkorbglocke, vgl. Schilling 1988, S. 140. Dies dürfte auf einer Verwechslung mit einer der beiden kleineren, allerdings unbeschrifteten Barnstädter Glocken beruhen, vgl. Kdm. (Querfurt) 1909, S. 42 (Fig. 6).
Nachweise
- LHASA Merseburg, Landraths Acta 1828, fol. 40v.
- Grössler 1878, S. 39, Taf. 2, Nr. 22.
- Sommer 1889, S. 408.
- Bergner 1905, S. 398 (Fig. 357).
- Kdm. (Querfurt) 1909, S. 42.
- EGB 1917, Nr. 17.
- LfD Halle, Glockenaktenslg. (ungeord.), Querfurt, Kreis No. 9, I. Abgabe (handschriftl. Zusammenstellung, ca. 1917).
- Schiedt 1930, S. 70.
- Schilling 1988, S. 140, 141 (Abb. 260).
- PfA Nemsdorf, Kirchenchronik 2000, S. 30.
Zitierhinweis:
DI 64, Querfurt, Nr. 10 (Ilas Bartusch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di064l002k0001006.
Kommentar
Die konturierten Buchstaben werden von unsicher geritzten Linien nicht immer vollständig umrissen. Größe, Neigung und Ebenmäßigkeit der Lettern unterliegen großen Schwankungen. Die auffälligen, an den Schaftenden jeweils links und rechts ansetzenden Sporen hatte der Meister offensichtlich wie mit einer Bandzugfeder gestalten wollen, wodurch lose flatternde Zickzackmuster entstanden. E und M sind unzial gestaltet und bis auf die rechte M-Seite geschlossen. Besondere Aufmerksamkeit verdient das flachgedeckte A mit parallelen Schäften, dessen Binnenfeld zwei Diagonalen x-förmig durchkreuzen. Der Deckbalken des kapitalen T ist ganz auf die linke Seite verschoben, der Bogen des G eingerollt und ebenfalls geschlossen. Mitunter fungieren Brakteaten als Worttrenner.
Der Wortlaut der Inschrift stellt eine Variante zu dem im Mittelalter häufiger nachweisbaren Leitspruch Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat dar. Als rhetorische Klimax schon bei Quintilian bezeugt,1) fand das durch Christus erweiterte Trikolon später Eingang in die verschiedensten Textsorten: Vor allem erscheint es als Bestandteil der Herrscherlaudes, die ab dem 12. Jahrhundert in die Krönungsordines aufgenommen wurden.2) Daneben kam diese Formel ebenso als Feldgeschrei während der Kreuzzüge oder auch als Münzlegende in Gebrauch.3) Für die Verwendung als Glockeninschrift dürfte ein Wettersegen das Motiv gewesen sein, in dem es heißt: Christus uincit, Christus regnat, Christus imperat, Christus nos et fructus nostros ab omni malo defendat.4) Damit wird die apotropäische Funktion des Spruches offenbar, die gleichzeitig für die Interpretation von AGIA von Bedeutung ist. Hier sind zunächst drei Verständnismöglichkeiten zu erwägen: Einerseits könnte es sich um die unter Psilose vollzogene Transliteration von griech. ἡἁγά (d. i. die Heilige) handeln, einem Synonym für Maria, das auf Glocken jedoch kaum begegnet.5) Denkbar wäre auch die Bildung einer syntaktischen Einheit mit VIVI(FI)KAT, indem man AGIA im Sinne von τὰἅγια (d. i. die heiligen Dinge) als Neutrum Plural im Akkusativ versteht und übersetzt: „Christus flößt den geweihten Dingen Leben ein“, d. h. er macht die vasa sacra wirkmächtig.6) Gegen diese Überlegung spricht allerdings die Verteilung der Brakteaten, die sonst nur zwischen und niemals innerhalb von Sinnabschnitten zu finden sind. So bleibt schließlich die Emendation von AGIA zu AGLA, die um so überzeugender scheint, als dem Schriftritzer schon zuvor zwei Schreibfehler in IIMPERAT und VIVIKAT unterliefen. Das hauptsächlich gegen Feuer eingesetzte Notarikon bildet zu der Wettersegensformel ein sinnvolles Pendant.7)
Die zeitliche Einordnung der Glocke kann sich neben der Schrift vor allem auf das Brakteatenkreuz stützen, das auf einigen mansfeldischen und anhaltinischen Glocken wiederkehrt.8) Auf einer Seeburger Glocke ist der Abdruck so gut erhalten, daß sich die Prägung identifizieren ließ. Danach war das Geld in den Jahren zwischen 1235 und 1266 im Umlauf.9) Ob auf der Barnstädter Glocke nun die gleichen Stücke vorliegen, läßt sich der Undeutlichkeit halber nur vermuten. Allerdings verweisen die Brakteatenkreuze allein durch ihre Seltenheit auf einen Werkstattzusammenhang, zumal sie bisher nur im Gebiet zwischen Halle und Magdeburg anzutreffen sind und fast immer in Verbindung mit bestimmten Schriftformen und Inschriftenformularen begegnen.10) Innerhalb dieser Glockengruppe, deren Vertreter sich allesamt in die ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts einordnen lassen, nimmt der Barnstädter Guß eine Sonderstellung ein, da hier die merklich unbeholfener gezeichneten Buchstaben noch nicht ausgeschabt wurden. Insofern dürfte eine Datierung in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts näherliegen.11)