Inschriftenkatalog: Ehemaliger Landkreis Querfurt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 64: Querfurt (2006)
Nr. 4 Alberstedt, ev. Kirche (St. Peter u. Paul) 1. H. 13. Jh.
Beschreibung
Glocke, Bronze. Unterhalb der gewölbten Haube umlaufen die Schulter zwischen zwei Schnurstegen vier rückläufig angeordnete Buchstabenfolgen in Spiegelschrift, die in den Glockenmantel geritzt wurden. Die einzelnen Sequenzen werden durch geometrische Figuren und bildliche Szenen unterbrochen.1) Die völlig unverzierte Flanke verbreitert sich erst im unteren Bereich und schließt am Wolm mit zwei kräftigen Wulstringen ab.
Maße: H.: 60 cm; Dm.: 73 cm; Bu.: ca. 3 cm.
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
+a) A Eb) Γ Nc) //d) Be) Nc) +a) A B Γ Nc) //f) +a) A //g) Γ h) //i)
Textkritischer Apparat
- Die Enden des griechischen Kreuzes mit rechtwinklig anliegenden Sporen versehen. Dem rechten Ende des Querbalkens entsprießt eine Blume.
- E] Unzial und geschlossen; nicht retrograd. Möglicherweise auch ein B (?).
- N] Retrograd geritzt. Δ Grössler, Kdm., Schmeißer, Neuß, Poettgen. Ein Δ, dessen unterer Balken ausgestellt ist, läßt sich weder paläographisch noch epigraphisch belegen, vgl. v. a. Guillou 1996, S. 7–245. Vergleichbar wäre hingegen ein griechisches H, das zumindest als Minuskel in Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts in dieser Form begegnet (vgl. Gardthausen 1913, Taf. 9), oder ein Ѡ, das u. a. in der Verbindung AѠ auf einem Vortragekreuz aus Ebersteinburg (Stadt Baden-Baden) in ähnlicher, jedoch gerundeter Form belegt ist, vgl. Kdm. (Rastatt) 1963, S. 78f. (Abb. 39f.).
- Menschliche Figur im Mantel, vgl. Liebeskind 1905, S. 118 Anm. 7. Ihre rechte Seite verbindet ein dünner Steg (Arm (?)) mit einem nicht identifizierten Gegenstand. Dieser besteht aus einem Halbkreis, den rechts ein nahezu senkrechter, an beiden Enden zu Haken gebogener Steg abschließt. Der Kreisbogen ist außen mit zahlreichen Zierhäkchen besetzt, innen könnten die wenigen gekrümmten Linien ein Dämonen(?)-Gesicht andeuten. Denkbar wäre allerdings auch, die Zierhäkchen als Leuchtstrahlen oder Rauch zu interpretieren, die von einer Feuerquelle (Sonne oder Rauchfaß) ausgehen. Vgl. auch Liebeskind 1905, Nr. 15, S. 118 Anm. 7, der einen Hut oder eine Tasche in Betracht zieht. Dr. Harald Drös, Heidelberg, verweist auf die starke Ähnlichkeit mit manchem Chrismon der Königs- und Kaiserurkunden und führt zum Vergleich das Diplom Kaiser Heinrichs V. vom 27. April 1112 an, vgl. Aus 1200 Jahren. Das Bayerische Hauptstaatsarchiv zeigt seine Schätze. Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zur Eröffnung seines Neubaus, München 16. Oktober – 16. Dezember 1979 (Ausstellungskataloge der staatlichen Archive Bayerns 11), Neustadt a. d. Aisch 1980, S. 52f. Nr. 25 (Abb.).
- B] Die Bögen setzen unabhängig voneinander am Schaft an.
- Zwei geometrische Figuren: Die erste in Form einer senkrechten Linie, an der rechts ein und links drei Halbkreise übereinander ansetzen; vgl. Fig./Stz./M. 1. Daneben ein Quadrat, an dessen Ecken jeweils ein Kreis anliegt (= Vierpaßschlinge). In der Mitte der senkrechten Seitenlinien setzen im rechten Winkel zwei kürzere Stege an, die an den äußeren Enden kreisrund eingerollt sind; vgl. Fig./Stz./M. 2. Vgl. dazu Anm. 6.
- Zwei miteinander kämpfende Ritter. Jeder von beiden trägt einen Topfhelm, streckt dem anderen ein Schwert entgegen, dessen Griff in einem Scheibenknauf endet, und schützt sich mittels eines kurzen Dreieckschildes.
- Γ] Von Grössler/Brinkmann in Kdm. ungenau als breiter Haken abgebildet. Das Zeichen ist jedoch bis auf einen links unten angesetzten Schrägbalken mit den übrigen Γ-Formen identisch.
- Figur in Form eines stilisierten Baumes, der seine Äste schirmartig ausbreitet und kugelförmige Früchte trägt. Daneben zwei einander gegenüberstehende, entenähnliche Tiere, die durch ihre grätenartigen Kämme auf dem Rücken und die angedeuteten Schuppen wohl als Drachen zu identifizieren sind. Grössler/Brinkmann interpretieren den Baum als Armbrust, vgl. Kdm. Neuß hingegen erwägt die Deutungsmöglichkeit als menschliches Antlitz, Irminsul oder Weltenbaum.
Anmerkungen
- Vgl. Abb. 6–9 und die nicht ganz exakte Nachzeichnung in Kdm. (Mansf. Seekr.) 1895, S. 4 bzw. Grössler 1878, Taf. 2, Nr. 21.
- Vgl. Nr. 11; Kdm. (Mansf. Seekr.) 1895, 226.
- Vgl. dazu die unten angegebene Literatur.
- Vgl. Walter 1913, S. 190–199; Köster 1979, S. 371–421; Friedensburg 1913, S. 85–115; Schubart 1898, S. 16–22; Poettgen 1997/98, S. 81–98b; ders. 2003/2004, S. 53–64.
- Vgl. Poettgen 1999/2000, S. 74f.; Schubart 1896, S. 549f.; TRE 7, 1981, S. 311; HdA 1, 1927, S. 16f.
- Vgl. List 1985, S. 5–45, insbes. zur Vierpaßschlinge S. 12–17; Schuler 1996, S. 675.
- Hier sei auf die ähnlich gedeutete Funktion von Hausmarken, vgl. LMA 4, 1989, Sp. 1973f. (Lit.); RMA 1999, S. 100 (Lit.), von Steinmetzzeichen, vgl. Nr. 2 mit Anm. 5, LMA 8, 1997, Sp. 105 (Lit.), oder auch von graphischen Symbolen in mittelalterlichen Urkunden (z. B. Notariatssignete) verwiesen, vgl. Schmidt-Wiegand 1996, S. 67–79. Vor allem innerhalb der letzteren Gruppe finden sich Figuren, die denen auf der Glocke äußerst ähneln, vgl. Mateu Ibars/Mateu Ibars 1996, S. 480 (fig. 7, dat. 1076) und S. 481 (fig. 12, dat. 1149). Ein weiteres ebd., S. 485 (fig. 50), abgebildetes Signet ist mit dem verschlungenen Zeichen auf einer Glocke in Untergreißlau (Lkr. Weißenfels) nahezu identisch, vgl. DI 62 (Weißenfels) 2005, Nr. 73 (Abb. 39f.); Schilling 1988, S. 151 (Abb. 296) oder Liebeskind 1905, Nr. 15, S. 119. S. a. Nr. 9.
- Vgl. Nr. 6; Wilsdruffer Glocke in Schilling 1988, S. 159 (Abb. 326–328); Zurower Glocke in ebd., S. 317 (Abb. 591); Seehausener Glocke in Hübner 1968, Taf. VIII (Abb. 16). Allg. zu Tierdarstellungen auf Glocken siehe Schulze 1958, S. 15, 17–22.
- Vgl. Otte 1884, S. 27f. Über den Charakter der Glocke als Sakramentale vgl. Hense 1998, S. 63–66.
- Lediglich für das wenig aussagekräftige A finden sich Parallelen in ähnlicher Form auf der Helftaer Glocke von 1234, vgl. Kdm. (Mansf. Seekr.) 1895, S. 263.
- Vgl. Bildwb. Kleidg./Rüstg. 1992, S. 226. S. a. Hübner 1968, S. 29 Nr. 9.
- Vgl. die Tympana zu Wechselburg (Lkr. um 1180), Rochsburg (1180/90) und Flemmingen (Mitte 12. Jh.) in CRKSTG B/1, 1972, S. 236f. (Abb. 187), S. 210f. (Abb. 158), S. 74f. (Abb. 30).
Nachweise
- Grössler 1878, S. 38 mit Taf. 2.
- Kdm. (Mansf. Seekr.) 1895, S. 4.
- LfD Halle, Glockenbestandserfassung 1. Wk., Aufnahmebogen zu Alberstedt vom 13. 3. 1917.
- Schmeißer 1922, Nr. 41, S. 164.
- Neuß 1999, S. 326.
- Poettgen 2003/ 2004, S. 55–57 (Abb. 4f.).
Zitierhinweis:
DI 64, Querfurt, Nr. 4 (Ilas Bartusch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di064l002k0000408.
Kommentar
Schriftzeichen und Bilder setzen sich aus dünnen, gratig hervortretenden Ritzlinien zusammen. Die Schäfte der Buchstaben werden teils durch rechtwinklig angesetzte Sporen begrenzt, teils enden sie in Zierhäkchen. Das trapezförmige A verfügt über einen gebrochenen Mittel- und einen beiderseits überstehenden Deckbalken. Das unziale geschlossene E wurde retrograd geritzt und erscheint deshalb nicht spiegelverkehrt auf der Glocke. Es könnte sich jedoch auch um ein B handeln, dessen mittlere Bogenabschnitte zu einem Balken verschmelzen. Die Schäfte des weit gespreizten, hier als N wiedergegebenen Zeichens treffen im stumpfen Winkel aufeinander. Dieser runenähnliche Buchstabe begegnet auch auf einer Göhritzer (Gem. Barnstädt) und einer Friedeburger (Lkr. Mansfelder Land) Glocke.2)
Die Zeichenfolge als Ganzes läßt sich bisher nicht überzeugend interpretieren.3) Die Beschriftung von Glocken mit vollständigen oder fragmentarischen Alphabetreihen ist häufig nachweisbar und geschah zweifellos in apotropäischer Absicht.4) Seine Wurzeln findet diese Sitte wohl im Ritus der Kirchweihe, während der der Bischof das lateinische und griechische Alphabet in ein Aschenkreuz auf dem Fußboden einzeichnete.5) Eine magische Wirkung erhoffte man sich ebenso von geometrischen Figuren, die als Abwehr- oder Binderunen gefürchtetes Unheil abwenden bzw. der Hoffnung auf Segen Ausdruck verleihen sollten.6) Häufig dienten sie daneben auch zur Bezeichnung des Handlungsurhebers bzw. Besitzers.7) Die Darstellungen von Pflanzen und Tieren finden sich auf zahlreichen Glocken, ohne daß sie bisher immer motivgeschichtlich oder ikonographisch erklärbar wären.8) Auf der Alberstedter Glocke scheitert allerdings die Interpretation bereits an der unzureichenden Identifizierung des Einzelzeichens. Insofern muß gegenwärtig jeder umfassende Deutungsvorschlag unter den Verdacht der Beliebigkeit geraten. Deshalb sei lediglich eine allgemeine Überlegung geäußert: Glocken sollen durch ihren Klang eine heilbringende Wirkung entfalten.9) Für welche Lebensbereiche dieser Segen vor allem erhofft wurde, könnte hier bildlich dargestellt worden sein.
Die zeitliche Einordnung orientiert sich mangels vergleichbarer Glockeninschriften10) hauptsächlich an den kleinen Dreieckschilden der Ritterfiguren. In dieser Form findet man sie vor allem im 13. Jahrhundert.11) Als weiteres Indiz dient die unter Anm. f beschriebene Binderune, die in ähnlicher Gestalt auf einigen sächsischen Tympana aus der Mitte bzw. zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erscheint.12) Unter Berücksichtigung dieser Aspekte dürfte eine Datierung der Glocke in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zutreffen.