Inschriftenkatalog: Stadt Düsseldorf

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 89: Stadt Düsseldorf (2016)

Nr. 70 Gerresheim, St. Margareta 1583

Beschreibung

Trinkglas; geschliffen, graviert. Das farblos geschliffene Glas mit Scheibenfuß und Balusterschaft besitzt eine quaderförmige, an den Schmalseiten mehrfach geschweifte Kuppa, auf deren breiten Seiten vom Lippenrand aus nach unten die beiden Verse eines Trinkspruches (A), jeweils auf zwei Zeilen verteilt, graviert sind; das Datum (B) befindet sich auf dem Fuß. Das Glas ist seit 2013 ausgelagert nach St. Cäcilia, Düsseldorf-Hubbelrath.1)

Maße: H. 15,8 cm; Dm. 8,8 cm (Fuß); Bu. 0,4 cm (A u. B).

Schriftart(en): Fraktur.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften (Kristine Weber) [1/4]

  1. A

    Scyphum hunc comitemque / scyphi Gertrudis amorem.propinoa) ut vivas ore / manuque tibi.2)

  1. B

    Gerrisheim anno D(omi)ni 1583.

Übersetzung:

(Nimm) diesen Becher und als Begleiter des Bechers die Liebe der Gertrud. Ich trinke dir mit Mund und Hand zu, dass du leben mögest. (A)

Gerresheim im Jahr des Herrn 1583. (B)

Versmaß: Elegisches Distichon (A, V. 1 einsilbig leoninisch gereimt).

Kommentar

Auffällig ist die Gestaltung der Buchstaben. Es wechseln sich breite und lediglich als dünne Striche ausgeführte Bestandteile in der Weise ab, dass die Schäfte und die senkrecht verlaufenden Teile der Bögen gebrochen sind und durch dünne Striche eine Verbindung zwischen den einzelnen Teilen hergestellt wurde. So ist z. B. bei n der linke Abschnitt des gebrochenen Verbindungsbogens als schmaler Strich vom oberen rechten Schaftende bis zur Mitte des linken Schaftes ausgeführt, bei d werden die beiden gebrochenen Bogenabschnitte durch dünne Striche verbunden, bei e ist der Balken zu einem solchen Strich reduziert. Bei s wechseln sich breit ausgeführte und schmale Segmente ab. An den Schaft- und Bogenenden finden sich – allerdings nicht durchgängig – Sporen, die entweder durch einen dünnen Deckstrich gebildet werden, der häufig dornartig nach links übersteht. Ebenso finden sich diese dünnen kurzen Striche an Bruchstellen der Schäfte. Das a ist einstöckig.

Die Schrift ist durchaus zeittypisch für das angegebene Jahr 1583. Allerdings hat Kampmann 2006 aufgrund der Form des Glases eine Entstehung um 1720/40 in Nordböhmen oder Schlesien angenommen,3) ohne jedoch eine Erklärung für die auf dem Fuß angebrachte Jahreszahl zu geben.

Dieses Glas ist innerhalb des Gerresheimer Kirchenschatzes das einzige Objekt, das auf die profane Geschichte des Gerresheimer Stiftes verweist. Der Trinkspruch wurde anlässlich des Minnetrinkens verwendet, d. h. bei dem Brauch, zum Abschied oder bei Antritt einer Reise, auch bei einer Versöhnung, zu Ehren der hl. Gertrud von Nivelles zu trinken. Belege für diesen nichtkirchlichen, volkstümlichen Brauch der Gertrudenminne, der in Beziehung zur Verehrung der Heiligen als Reisebegleiterin steht, lassen sich seit dem 11. Jahrhundert bis in die frühe Neuzeit hinein nachweisen.4) Zu dem Befund, dass die Gertrudenminne „besonders am Niederrhein und in Holland beliebt“5) gewesen ist, passt dieser Gerresheimer Nachweis. Der hier angegebene Text ist als Formel in zeitgenössischen Quellen belegt.6)

Möglicherweise steht die Entstehung dieses profanen Objektes im Jahr 1583 in einem Zusammenhang zur Heirat der Gerresheimer Kanonisse Agnes von Mansfeld mit dem protestantisch gewordenen Kölner Erzbischof Gebhard Truchseß von Waldburg im selben Jahr,7) denn im Zusammenhang mit der Gertrudenminne entwickelte sich eine Legende, die als Motiv häufiger verwendet wurde und in der Sammlung niederländischer Sagen des Johann Wilhelm Wolf in folgender Form wiedergegeben wird:8) Ein unglücklich in die Nonne und spätere Äbtissin Gertrud verliebter Ritter, dessen Werben Gertrud standhaft zurückgewiesen hatte, schloss einen Pakt mit dem Teufel, der dem Ritter zu seinem Ziel verhelfen und dafür nach sieben Jahren dessen Seele erhalten sollte. Obwohl das Werben des Ritters nach diesen Jahren noch immer keinen Erfolg gehabt hatte, verlangte der Teufel nach Ablauf der Frist die Seele. Der Äbtissin erschien unterdessen im Traum der hl. Johannes, der ihr die Notlage des Ritters offenbarte. Daraufhin zog Gertrud mit ihren Nonnen vor das Kloster und reichte, als der Teufel mit dem Ritter vorbeizog, Letzterem einen Becher Wein, den er auf den Schutz des hl. Johannes trinken sollte. Nachdem der Ritter dies getan hatte, fiel die Verschreibung der Seele zerrissen zu seinen Füßen nieder.

Textkritischer Apparat

  1. ro schmaler ausgeführt; korrigiert (?).

Anmerkungen

  1. Ich danke ganz herzlich Frau Dr. Beate Johlen-Budnik, Düsseldorf-Gerresheim, für diesen und zahlreiche weitere Hinweise zu Objekten des Gerresheimer Kirchenschatzes.
  2. Vgl. dazu Niederländische Sagen, S. 699, wo ohne Angabe des Werkes angegeben ist, dass Janus Dousa folgende „Memoriae Sanctae Gertrudis propinandi formula“ überliefere: „Esse scyphum hunc comitemque scyphi Gertrudis amorem, Propino, (et prosit) voce manuque tibi.“ Zu dem niederländischen Gelehrten und Dichter Dousa (1545–1604) vgl. Petrus J. Blok, Art. Does, jonker Johan van der (2), in: Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek 6 (1924), Sp. 425–429; Ianus Dousa. Neulateinischer Dichter und klassischer Philologe, hg. von Eckard Lefèvre und Eckart Schäfer (NeoLatina 17), Tübingen 2009.
  3. Kampmann, Verzeichnis, S. 43.
  4. Vgl. dazu Matthias Zender, Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kultgeschichte und Kultverbreitung, 2. erweit. Aufl., Köln/Bonn 1973, S. 99f.; Mackensen, Gertrudenminne.
  5. Ebd., Sp. 711.
  6. Vgl. Anm. 2 sowie dazu Ignaz Vinzenz Zingerle, Johannissegen und Gertrudenminne. Ein Beitrag zur deutschen Mythologie, Wien 1862, S. 45.
  7. Vgl. zu Gebhard Truchseß von Waldburg Molitor, Erzbistum, S. 208–226, zu seiner Verbindung mit Agnes von Mansfeld ebd., S. 217–226.
  8. Niederländische Sagen, S. 434, Nr. 359. Zu weiteren Formen und Überlieferungen vgl. Mackensen, Gertrudenminne, Sp. 710f.

Nachweise

  1. Kampmann, Verzeichnis, S. 43.

Zitierhinweis:
DI 89, Stadt Düsseldorf, Nr. 70 (Ulrike Spengler-Reffgen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di089d008k0007004.