Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)

Nr. 116 St. Martini um 1438

Beschreibung

Annenkapelle, Skulpturen; Sandstein. Die auf der Südseite der Martinikirche in Form eines 5/8-Chores an das zweite Joch von Westen angebaute Annenkapelle wurde 1434 gestiftet und war 1438 bereits geweiht1). Der reiche Figurenschmuck an den Strebepfeilern und an den Giebeln der Außenseiten sowie im Innenraum ist wahrscheinlich am Ende des vierten Jahrzehnts des 15. Jahrhunderts fertiggestellt worden2). Die Skulpturen folgen außen wie innen den Stationen des Marienlebens; Anna selbdritt und Joachim im Innern der Kapelle stellen den Bezug zum möglicherweise nachträglich auf Anna geänderten Patrozinium her. An den Altar unter dem Ostfenster, der im 19. Jahrhundert mit einer schmalen Mensa und einem Altarbild neu ausgestattet wurde, schließen sich unter den vier mittleren Fenstern vier Sitznischen mit dreiteiliger, baldachinartiger Kielbogendekoration an. In ihr befinden sich 24 Statuetten der Apostel und anderer Heiliger. Der dreiteilige Kielbogen ist in verkleinerter Form unter den Bänken wiederholt. In der mittleren Sitznische ist in den Zwickeln des linken Kielbogens die Verkündigung an Maria dargestellt. Der Engel Gabriel schwebt mit einem Spruchband (A) aus dem linken Zwickel auf die im rechten Zwickel an einem Pult lesende Maria zu. Unter dem östlichen und dem westlichen Scheidbogen stehen sich auf mit Blattwerk geschmückten Konsolen unter fünfeckigen Maßwerkbaldachinen die hl. Anna selbdritt und Maria mit dem Kind gegenüber. Die hohe, mit dreiteiligen Blüten geschmückte Krone Marias trägt auf dem Reif die Inschrift B. Eine Blüte dient als Worttrenner. In den Polygonecken, zwischen den Fenstern, schließen sich rechts die Figuren der Hll. Drei Könige an: der älteste König anbetend, die Krone mit Inschrift C auf dem Stirnreif auf das linke, gebeugte Knie gelegt; der jugendliche König trägt die Krone mit Inschrift D am Stirnreif auf dem Kopf. Balthasar ist nicht inschriftlich bezeichnet. Als fünfte der insgesamt sechs Skulpturen steht Joachim neben seiner Frau Anna. Er trägt in der linken Hand eine Pergamentrolle, auf der sein Name steht (E). Unter die vier äußeren Konsolen sind die Evangelistensymbole mit Schriftbändern gesetzt, die die Namen der Evangelisten tragen: unter der Marienfigur der Löwe (F), unter König Kaspar der Engel (G), unter der Figur des Joachim, nach links gewandt, der Adler mit Schriftband (H) und beschriftetem Heiligenschein (I), unter der Konsole mit der Annenfigur der geflügelte Stier (K). Die Schriften auf den Schriftbändern (F, G, H, K) sind infolge verschiedener Restaurierungen nicht mehr im Originalzustand.

Maße: Bu.: ca. 3–4 cm (A–E), ca. 2 cm (F–K).

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

  1. A

    ave gracia3)

  2. B

    ave · maria

  3. C

    jasper

  4. D

    melcher

  5. E

    her Ioachim

  6. F

    Sa) Marcus

  7. G

    S Mattevs

  8. H

    S Iohan

  9. I

    S Iohannes

  10. K

    S Lvcas

Kommentar

Wasmod von Kemme, Bürger der Braunschweiger Altstadt, und seine Frau stifteten die Kapelle am Vorabend des Dreikönigstages 1434. Im Jahr 1438 erteilte ihm Bischof Magnus in einer Urkunde die Erlaubnis, die Wände der schon geweihten Kapelle zu durchbrechen, um die Kapelle weiter auszubauen4). Meier und Steinacker folgten der Ansicht Schillers, daß bei dieser Gelegenheit der Schildbogen zum Kirchenschiff hin geöffnet und durchbrochen worden sei5). Scheffler nahm dagegen eher an, daß die vier Sitznischen nachträglich unter den Fenstern eingebaut worden seien6). Im Jahr 1460 regelte und erweiterte eine Urkunde der Witwe Gherborg von Broitzem nochmals die Dotation der Altarstiftung. Dabei wurde, anders als in der ersten Stiftungsurkunde, nach der Hl. Dreifaltigkeit, Maria und den Hll. Drei Königen an vierter Stelle die hl. Anna genannt, deren Namen die Kapelle seither trägt. Scheffler schloß nicht aus, daß die Skulpturen der Anna selbdritt und Joachims nachträglich, aber von derselben Werkstatt gefertigt worden seien und daß im Innenraum wie an der Außenseite der Kapelle in der Erstausstattung nur Maria und die Könige vorhanden gewesen seien7). – Aufnahmen vom Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen den Innenraum der Kapelle durch den hölzernen Priechenaufgang beeinträchtigt, der nach der Zerstörung der Kirche im Zweiten Weltkrieg jedoch nicht mehr vorhanden ist. Heute steht in der Kapelle der Taufkessel des Bertold Sprangke von 1441 (Nr. 119).

Textkritischer Apparat

  1. Auf die Auflösung des Sanctus-Kürzels wird verzichtet, da eine niederdeutsche Form nicht ausgeschlossen erscheint (vgl. jasper, her Ioachim, Iohan).

Anmerkungen

  1. Vgl. die Zusammenstellung der Urkunden, die den Bau der Annenkapelle betreffen, nach dem Kopialbuch der Martinikirche im Stadtarchiv Braunschweig; Scheffler, S. 184–188.
  2. Vgl. ebd., S. 189.
  3. Lc. 1,28.
  4. Vgl. Scheffler, S. 184. Der Stifter Wasmod (von) Kemme war Ratsherr der Altstadt von 1420–1425, vgl. Spieß, 1970, S. 144.
  5. Meier/Steinacker, 1926, S. 32; Schiller, 1852, S. 73.
  6. Scheffler, S. 187.
  7. Vgl. ebd., S. 157.

Nachweise

  1. Abb.: Döring, Abb. 79, 80; Dorn, Abb. 65–71.
  2. Lit.: wie Anm. 1, 5.

Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 116 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0011608.