Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)
Nr. 83 Altstadtmarkt 1408
Beschreibung
Brunnen; Bleiguß, Sandsteinfassung. Der Brunnen wurde 1408 vor dem sog. Klipphaus, dem Gildehaus der Gewandschneider auf dem Altstadtmarkt, aufgestellt. Er stand von 1408 bis 1847 in der Südostecke des Platzes, wurde 1847 in die Mitte des Platzes gerückt, beim Bombenangriff am 14. Oktober 1944 zerstört, seit 1945 restauriert und am 4. Dezember 1951 wieder auf den alten Standort gebracht, wobei die vormalige alte Position der Becken zueinander wiederhergestellt wurde1). Der Brunnen wurde zuletzt 1988 restauriert2). Ein Originalstück des mittleren Beckens befindet sich im alten Rathaus (Abteilung des Städtischen Museums), ebenso die erhaltenen vervollständigten Teile des großen Beckens.
Ein hoher, runder Steinsockel in einem niedrigen oktogonalen Steinbecken trägt drei aus Blei gegossene, sich in der Höhe im Durchmesser verringernde Brunnenschalen. Ein durchbrochenes Maßwerktürmchen mit einer Fahne mit dem Stadtwappen auf der oberen Spitze, unter welcher die Mutter Gottes mit Kind sitzt, bekrönt die drei Becken. Das Wasser wird in die oberste Schale geleitet, fließt durch Überläufe, die als vier Drachen und dreimal vier Löwenmasken an den Beckenwänden geometrisch angeordnet sind, in die tieferliegenden Schalen und von dort in den Bodenabfluß. Die auf den Steinsockel aufgesetzte untere Brunnenschale ist zwischen den diametral gesetzten vier wasserspeienden Löwenköpfen in je fünf rechteckige Felder aufgeteilt, in die je eine reliefierte, sitzende Prophetenfigur mit umschlungenen Schriftbändern (A–O) gegossen ist. Von den ursprünglich 19 Inschriften sind 14 teilweise erhalten. Insgesamt sieben Gußformen, die hl. Katharina einbezogen, wiederholen sich in den zwanzig Feldern, jedoch so, daß in der jeweiligen Fünfergruppe keine Wiederholung vorkommt. Die Prophetenreihe beginnt, rechts von Katharina ausgehend, mit David, Abacuc, Moses, Naum, Salomo, Hosea. Die fünf folgenden Propheten sind Nachbildungen der sich wiederholenden Figurentypen ohne Inschriften3). Danach folgen die Propheten Jeremias, Johel, Elisa, König Ahas, Ezechiel, Samuel, Abdias, Isaias. Eine jeweils in die Mitte gesetzte Königsfigur bezieht sich auf die Könige David, Salomo und möglicherweise Ahas. Zwischen Abacuc und Moses, Jeremias und Johel, Samuel und Abdias befinden sich jeweils Löwenmasken. An hervorgehobener Stelle, zum Gewandhaus hin, ist die Figur der hl. Katharina mit Schwert und Rad eingefügt. Die Darstellung dieser nicht in das übrige Programm passenden Heiligen ist mit der Datierung in der Inschrift P in Zusammenhang zu sehen; der Brunnen wurde am Tag vor St. Katharinen gegossen. Die Buchstaben sind gegossen und aufgelötet. Die durch Rosetten gegeneinander abgesetzten mnd. Prophetensprüche auf dem Beckenrand (P) stehen nicht über der sie aussprechenden Figur, sondern zeigen nur die Reihenfolge der Propheten an. Ein aus der Mitte des ersten Beckens aufsteigender gekehlter Sockel mit vier diametral angesetzten Blattranken trägt das zweite, kleinere Becken. Hier fügen sich je fünf schrägrechts geneigte Wappen zwischen vier wasserspeiende Löwenköpfe: Stadt Braunschweig, Hektor, Alexander, Julius Caesar, David, Juda, Josua, Karl d. Gr., Artus, Gottfried von Bouillon, Römisches Reich, Mainz, Böhmen, Köln, Sachsen, Rheinpfalz, Trier, Brandenburg, Land Braunschweig, Lüneburg. Die um den Beckenrand laufende Umschrift (Q) bezeichnet das jeweils darunter befindliche Wappen. Kreuzblumen dienen als Worttrenner. Das dritte, obere Becken auf einem dem zweiten entsprechenden Sockel mit nodusartigem Zwischenteil ist zwischen vier kleineren Löwenköpfen mit einem Rankenfries umzogen. Auf dem oberen Beckenrand sind Rosetten zwischen Blattranken gesetzt. Unter dem darüber aufgebauten Maßwerktürmchen die sitzende Gottesmutter mit dem Kinde. Zu ihren Seiten unterhalb der Fialenpfeiler stehen die vier Evangelisten. Dazwischen, zu ihren Füßen, vier wasserspeiende Tiere. Von der urprünglichen farblichen Fassung haben sich keine Reste erhalten.
Maße: H.: 830 cm; Bu.: 1 cm (A–O); 4,5 cm (P, Q).
Schriftart(en): Gotische Minuskel.
- A
rex dauid eta) prophetab)4) dic(i)t flumi(n)is i[mpetus]c)5)
- B
abacuc d(i)c(it) in l[uto]d) (a)qu[arum]6)
- C
[moses dicit venerunt] ad duodeci(m) font[es]7) //
- D
naum d(i)c(it) flumi(n)ae) ad desensu(m)f)8)
- E
rex salomon d(i)c(it) o(mn)ia [flumina intrant in mare]9)
- F
olesg) dicit desolabit fontem10)
- G
[ieremias dicit quis] dabit capitih) me[o]11)
- H
[iohel dicit exsi]ccati su(n)t fon[tes]12) //
- I
elrzeusi) d(i)c(it) sana [q]ui aquas [h]as (e)t13)
- K
[ah]as d(icit) obubrauit supe(r)14)
- L
ezechiel d(i)c(it) vidi aqua(m) egre[dientem]15)
- M
[samuel dicit hucus]que auxiliat(us) (est) nob[is]16) //
- N
obdias d(i)c(it) de domo egrediet(ur)17)
- O
[iesaias dicit scissae sunt in deserto] aque et torre(ntes)18)
- P
david · des waters i(n)vlotde stat godes vrolich dot ·19)elrzevs · sv(n)t hebbe yk se maket garvn(de) w(er)de(n) nicht mer vnvrochtbar ·20)salomon · alle wat(er) i(n) dat mer ga(n) ·21)ysaias · we(m) dorste de kome hir an ·22)elias · he sloch de watere vn(de) entwe sint se ghedelet ·23)samvel · here we(n)te i(n) dosse(n) dach a(men)24)anno d(omi)ni c°c°c°c° viii vigilia katerine fusa est ·
- Q
brunswik · ector · allexa(n)d(er) · yulius · r(ex) david · yodas · yosue · karolus · r(ex) artus · godevrid · ro(misch) rike · meye(n)se · bemen · kollen · sassen · beieren · trere · bra(n)de(n)b(u)rk · br(unswik) lant · luneb(u)rk
Übersetzung:
Der König und Prophet David spricht: Das Aufspringen des Wassers (erfreut die Stadt Gottes). (A)
Abacuc spricht: (Deine Rosse gingen im Meer,) im Schlamm großer Wasser. (B)
Moses sagt: Und sie kamen (gen Elim, da waren) zwölf Brunnen. (C)
Naum sagt: (Der das Meer schilt und trocken macht und) alle Wasser zu Wüste. (D)
König Salomo sagt: Alle Flüsse laufen ins Meer. (E)
Hosea sagt: Er wird die Quelle verwüsten. (F)
Jeremias sagt: Wer gibt meinem Haupte (Wasser). (G)
Johel sagt: Ausgetrocknet sind die Wasserquellen. (H)
Elisa sagt: Ich habe diese Wasser gesund gemacht und (es wird hinfort weder Tod noch Unfruchtbarkeit darin sein). (I)
Ahas sagt: (...). (K)
Ezechiel sagt: Ich sehe das Wasser herausfließen (aus dem Tempel). (L)
Samuel sagt: Bis hierher ist uns geholfen worden. (M)
Abdias sagt: (Und eine Quelle wird) aus dem Hause (des Herrn) herausgehen. (N)
Isaias sagt: Denn es werden Wasser in der Wüste fließen und Ströme (in der Einöde). (O)
Im Jahr des Herrn 1408 am Tag vor Katharinen (24. 11.) ist er gegossen worden. (P)
Textkritischer Apparat
- Tironisch.
- Zwischen t und a die das Schriftband haltende Hand.
- Die in Übereinstimmung mit der in der ersten Nachkriegsrestaurierung von 1951 gelesenen und spätestens bei der Restaurierung von 1988 wiederaufgenommenen Inschriften auf den Schriftbändern der Propheten werden hier übernommen, vgl. Gerd Spies, Der Braunschweiger Brunnen auf dem Altstadtmarkt, in: Erhard Metz/Gerd Spies (Hgg.), Der Braunschweiger Brunnen auf dem Altstadtmarkt, Braunschweig 1988 (Braunschweiger Werkstücke, Reihe B, Bd. 9/Gesamtreihe Bd. 70), S. 9–142, hier Abb. 65a. Auf die Lesungen von Beck/Sack, die Spies auf S. 22ff. und Abb. 12, 46, 47 behandelt, wird hier verzichtet.
- Dazwischen der Kopf des Propheten.
- Dazwischen der Kopf des Propheten.
- Fehlerhaft statt desertum; vgl. Spies (wie Fn. c), Abb. 65a.
- So von A. A. Beck 1753 abgelesen. Das Relief ist zerstört und konnte nicht mit einer der Gußformen identifiziert werden.
- Buchstaben teilweise verstümmelt; vgl. Spies (wie Fn. c), Abb. 65a.
- Fehlerhaft für eliseus.
Anmerkungen
- Vgl. zur Anlage und wechselnden Stellung des Brunnens Spies (wie Fn. c), S. 38.
- Ebd., S. 18f., 23. Der Erhaltungszustand alter Teile S. 20, 27, 29f.
- Ebd., Abb. 66–69 und 70–83.
- Nur auf diesem Schriftband, mit dem König David die Prophetenreihe anführt, kommt stellvertretend für alle anderen Figuren das Wort propheta vor.
- Aus Ps. 45,5: fluminis divisiones laetificant civitatem dei. – Die im folgenden in eckige Klammern gesetzten Teile der Inschriften sind bei der Restaurierung von 1988 nach alten Vorlagen ergänzt worden. – In der Übersetzung wurden aus Gründen der Lesbarkeit die Bibelzitate nach dem in den Anmerkungen genannten Zusammenhang wiedergegeben; die nicht in der Inschrift stehenden Satzteile sind in der Übersetzung in runden Klammern ergänzt.
- Hab. 3,15: viam fecisti in mari equis tuis in luto aquarum multarum.
- Ex. 15,27: venerunt autem in Helim ubi erant duodecim fontes aquarum.
- Na. 1,4: flumina ad desertum deducens.
- Prv. 1,7: omnia flumina intrant in mare.
- Os. 13,15: et desolabit fontem eius.
- Ier. 9,1: quis dabit capiti meo aquam.
- Jl. 1,20: quoniam exsiccati sunt fontes aquarum.
- IV. Rg. 2,21: sanavi aquas has et non erit ultra in eis mors neque sterilitas.
- Nicht identifiziert, eine sinnvolle Übersetzung kann nicht gegeben werden.
- Ez. 47,1: et ecce aquae egrediebantur subter limen domus.
- I. Rg. 7,12: hucusque auxiliatus est nobis dominus.
- Io. 3,18: et fons de domo egredietur.
- Is. 35,6: quia scissae sunt in deserto aquae et torrentes in solitudine.
- Wie Anm. 5.
- un vrocht bar. – Wie Anm. 13.
- Der deutsche Reimvers paraphrasiert Prv. 1,7: omnia flumina intrant in mare.
- Nach Is. 55,1: omnes sitientes venite ad aquas.
- Nach IV. Rg. 2,8: et percussit aquas quae divisae sunt in utramque partem.
- Nach I. Rg. 12,2: usque ad hanc diem.
- Vgl. Molsdorf, Nr. 982, S. 161; LCI 3, Sp. 382.
- Vgl. Bernd Schneidmüller, Goslar, Braunschweig und das Reich im späten Mittelalter, in: Niedersächsisches Jb. für Landesgeschichte 64, 1992, S. 1–52, bes. S. 29–41 zu den Reichsstadtplänen und S. 48–50 zum Brunnen.
- Vgl. Anneliese Rautenberg, Mittelalterliche Brunnen in Deutschland, Diss. Freiburg/Br. 1965; zur Deutung der Thematik bes. S. 245.
- Vgl. Rainer Kahsnitz, Der Schöne Brunnen in Nürnberg, in: Kat. Nürnberg 1300–1550. Kunst der Gotik und Renaissance, hg. von Gerhard Bott u.a., München 1986, S. 132–135. Spies (wie Fn. c), S. 36, weist auf ähnliche Bildprogramme an den Brunnen von Rottenburg, Ulm, Freiburg und Urach hin.
- Als solche gedeutet ebd., S. 41; Rautenberg (wie Anm. 27), S. 134, spricht indessen von der gebräuchlichen Verwendung von Drachen, See- und Mischwesen, die als Figurenschmuck der Ränder und äußeren Brunnenschalen dienten.
- Vgl. Anm. 27 und auch die Überlegung Spies‘ (wie Fn. c), S. 41 zum Löwenthron Marias; dazu Molsdorf, Nr. 854, S. 138 und Nr. 986, S. 163.
Nachweise
- Abb. und Lit.: wie Fn. c; Anm. 27.
Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 83 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0008304.
Kommentar
Die ursprünglich 19 Spruchbänder, die die Propheten und biblischen Könige auf dem unteren Becken in Händen und umschlungen hielten (A–O), nahmen allesamt Bezug auf das Wasser als Wohltat Gottes und zugleich als Quelle und Strom des Glaubens in der christologischen Prophezeiung25). Die ersten drei der sechs um den Beckenrand laufenden Prophetensprüche (P) sind mnd. Reimpaarübersetzungen der Sprüche in den Schriftbändern von David, Elisa und Salomo (A, I, M). Die um das zweite Becken umlaufende Beschriftung der darunter gesetzten Wappen (Q) gibt dem Anspruch der Stadt auf eine reichsstädtische Geltung Ausdruck26). Den Wappen der sieben Kurfürsten sind diejenigen des Römischen Reiches und zuletzt der Landesherren an die Seite gestellt. An erster Stelle, rechts oberhalb von der hl. Katharina auf dem unteren Becken, dem König David entsprechend, steht das braunschweigische Stadtwappen. Ihm folgen die Wappen der guten Helden des Heidentums, des Judentums und der Christenheit. Mit den Symbolfiguren der Propheten als Mahnern zu Gerechtigkeit und Gottesfurcht, der Neun Helden als Verkörperungen des ritterlichen Tugendideals und der Kurfürsten als Vertretern und Ratgebern des Reiches folgt das Bildprogramm des Braunschweiger Altstadtbrunnens dem Vorbild anderer städtischer Brunnen27). Der 1396 fertiggestellte Schöne Brunnen in Nürnberg zeigt in seinen Skulpturen eine vollständigere Ausführung der Bildthematik, als sie die Becken des Braunschweiger Brunnens in Bleiguß wiedergeben können28). Angestrebt war jedoch auch in Braunschweig zumindest die Darstellung reichsstädtischer Symbole, auch wenn das eigentliche Thema des Brunnens auf der Wandung des großen Beckens und den darauf befindlichen Inschriften abzulesen ist: die Wasserströme als Symbol des Heilsgeschehens. Über der dritten Brunnenschale erhebt sich im tabernakelartigen Maßwerktürmchen die sitzende Mutter Gottes mit dem Kinde auf dem Schoß, umgeben von einem Zinnenkranz, der die geschlossene Stadt bezeichnet. Die vier Evangelisten, ihr zur Seite gegeben an den vier Fialenpfeilern, symbolisieren die vier Paradiesströme, von denen die Lehre Christi in die Welt geht wie Wasserströme. Diese entspringen vier drachenartigen Tieren, die heute als Evangelistensymbole nicht mehr zu erkennen sind29). Die zwölf Löwenköpfe, die aus den drei Becken das Wasser speien, können als Sinnbilder der zwölf Apostel gedeutet werden30). Der Löwe als Wappen- und Herrschaftszeichen mag jedoch in Braunschweig auch außerhalb der religiösen Symbolik eine populäre Rolle gespielt haben und durfte auf dem zentralen städtischen Brunnen nicht fehlen.