Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)
Nr. 24 Dom St. Blasii vor 1250
Beschreibung
Künstlerinschriften; an einem Pfeiler, im Vierungsgewölbe und in der Ausmalung der Südapsis. Bei der Freilegung der Malereien an den Langhauspfeilern seit 1876 kam am ersten nordwestlichen Pfeiler in etwa zweieinhalb Meter Höhe eine zweiteilige, mit dunkler Farbe auf den Kalkputz gemalte Inschrift zutage. Der horizontale Teil der Inschrift (A) besteht aus sechseinhalb kurzen Zeilen; das rechts vertikal angesetzte Inschriftband (B) ist zweizeilig ausgeführt. Die Inschrift, die zunächst von Clemen1) und Meier/Steinacker2) nicht eindeutig mit der Gesamtausmalung in Chor und Vierung in Beziehung gesetzt worden war, erhielt mit den Restaurierungsarbeiten der Jahre 1937–41 eine scheinbare Bestätigung, als der Name des Künstlers in seiner verdeutschten Version auch im Vierungsgewölbe an einem gemalten Architekturteil unterhalb des Apostels Matthäus gefunden wurde (C)3). Eine weitere Namenritzung (D), die Heinrich Brandes 1845 in der Bemalung der Südapsis fand4), ist seither nicht wiedergesehen worden. Der wechselnde konservatorische Zustand der Inschriften A und B hat seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu mehreren Textversionen geführt. Der hier wiedergegebene Text dokumentiert den augenblicklichen Zustand und bietet einen Emendationsvorschlag für die ersten vier Zeilen der Inschrift A.
Inschrift D nach Schiller.
Maße: H.: 43 cm (A), 119 cm (B); Br.: 41 cm (A), 12,5 cm (B); Bu.: 3,3–3,5 cm (A, B).
Schriftart(en): Romanische Majuskel (A); Gotische Majuskel (B–C).
- A
NORINTa) · HOCb) · O(MN)ES · / Q(VO)D · GALLIC(VS)c) · ISTA / IOHAN(N)ES ·PI(N)XIT · EVM / CAIW[..]d) [..]Se) · VTf) · DET · VIVERE / CAIW[..]g) · IHCh) ·IOHAN · WALE / MALATi) · ENEv · VTENk) · PETER / [.]ARTl)
Vorschlag einer emendierten Fassungm)NORINT HOC OMNES QUOD GALLICUS ISTA IOHANNESPINXIT. EUM CUPIMUS DEUS UT DET VIVERE SALVUM
- B
QVE · SCI[.]On) · FORMARE · SI · SCIREM · VIFICAREo) /CORPORA · DE[.]ENTp) · MERITO · CV(M) · DIISq) · IVAC[.]TARr) ·
- C
IOH · WALE
- D
henricus
Übersetzung:
Es sollen alle wissen, daß dies Johannes Gallicus gemalt hat. Wir wünschen, Gott möge geben, daß er selig lebe5). (...). (A)
Wenn ich das, was ich zu formen weiß, auch zu beleben wüßte, dann müßten die Körper mit Recht bei den Göttern wohnen6). (B)
Versmaß: Zwei Hexameter, der erste leoninisch gereimt (A); zwei Hexameter, der erste zweisilbig leoninisch gereimt (B).
Textkritischer Apparat
- NIRINT nach einer Photographie von etwa 1938, die von P. J. Meier für Karl Brandi für das Deutsche Inschriften-Unternehmen hergestellt wurde und bei Berges/Rieckenberg, 1951, S. 1f., in diplomatischer Abschrift wiedergegeben ist (diese Version wird im folgenden als ‚dipl. Abschrift‘ zitiert); nochmals bei Johann-Christian Klamt, Die Künstlerinschrift des Johannes Gallicus im Braunschweiger Dom, in: Karl Clausberg u.a. (Hg.), Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter, Gießen 1981 (Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins, Bd. 11), S. 35–53, hier S. 48 (im folgenden Klamt, 1981); dort auch die Lesungen und Rekonstruktionsversuche von Berges/Rieckenberg, Meier und Clemen in übersichtlicher Darstellung.
- DOC dipl. Abschrift.
- SALLIC(VS) dipl. Abschrift.
- P[ETIS H]IC Clemen; C(V)P(IS) H(I)C Meier/Steinacker; CALVVUM Berges/Rieckenberg, 1951. Die dipl. Abschrift wie auch die heutige Inschrift zeigen einen langen Kürzungsstrich bis zum S.
- DEVS Clemen, Meier/Steinacker, Berges/Rieckenberg, 1951.
- Enklave T in V.
- BRV(NS)WIHC Clemen, Meier/Steinacker; SALVVM Berges/Rieckenberg, 1951. In der heutigen Fassung wie dipl. Abschrift.
- So auch dipl. Abschrift; BRV(NS)WIHC Meier/Steinacker; Berges/Rieckenberg, 1951, erwägen IHC, aber auch eine Verlesung aus HIC, HOC, HAEC mit vorgestelltem Interpunktionszeichen.
- So dipl. Abschrift; PALAT. Meier/Steinacker; Berges/Rieckenberg, 1951, verzichteten bei Z. 6 und 7 auf eine weitergehende Deutung.
- EF·EV·VTEN. dipl. Abschrift; EN·SNTEV Meier/Steinacker.
- MART dipl. Abschrift, aber der zu erkennende Buchstabenrest hat eine kleine Cauda, die beim M sonst nicht auftritt; AR. Meier/Steinacker. Dobbertin las Z. 5–7 als mnd. Text. Eine Vermischung beider Sprachen um 1200 haben aber schon Berges/Rieckenberg, 1951, S. 2f., zu Recht ausgeschlossen.
- Emendation CUPIMUS auf Vorschlag von Fidel Rädle, Göttingen; damit wird sinngemäß den Lesungen von Clemen, Meier/Steinacker und Berges/Rieckenberg, 1951, gefolgt (vgl. Fn. d).
- Über dem S ein deutlicher Kürzungsstrich, der die Lesung S(AN)C(T)I nahelegt, zumal das folgende O einen deutlichen Wortabstand einhält (s. Kommentar). Die dipl. Abschrift, Meier/Steinacker und Berges/Rieckenberg, 1951, lesen SCI O.
- Nach der dipl. Abschrift war in den 1930er Jahren nicht mehr zu lesen als T.ARE.S..CIR......A.. Meier/Steinacker und Berges/Rieckenberg, 1951, verdoppelten die Silbe VI zu VIVIFICARE.
- OC.ENT dipl. Abschrift; DEBERE Meier/Steinacker; DEBERENT Berges/Rieckenberg, 1951. Das heute unleserliche R ist auf einer älteren Aufnahme aus Rieckenbergs Sammlung noch eindeutig erkennbar.
- Alle Versionen so übereinstimmend; lediglich Dobbertin und Legner (wie Anm. 13) lasen DNO, aber der letzte Buchstabe ist ein S und kein O; heute ist der Deckstrich des unzialen D links oben kaum mehr zu sehen; über dem ersten I ein schwacher Kürzungsstrich.
- H...TAR dipl. Abschrift; HABITARE Meier/Steinacker, Berges/Rieckenberg, 1951. Der letzte Buchstabe kann möglicherweise auch als P gelesen werden.
Anmerkungen
- Paul Clemen, Die romanische Monumentalmalerei in den Rheinlanden, Düsseldorf 1906 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 32), S. 904; Fig. 537, S. 806f.
- Meier/Steinacker, 1926, S. 11; vgl. auch Gerhardt, S. 51.
- Dazu bes. Klamt, 1981, S. 39ff.
- Mitgeteilt durch Schiller, 1852, S. 47; vgl. Klamt, 1968, S. 186; Dorn, S. 219.
- Die Übersetzung folgt dem Emendationsvorschlag.
- Die Übersetzung folgt dem von Berges/Rieckenberg, 1951, konstruierten Vers.
- Berges/Rieckenberg, 1951, S. 1–27.
- Universitätsbibliothek Leipzig, cod. 350; vgl. ebd., S. 8, 16ff.
- Ebd., S. 11f.; vgl. dazu Drögereit (wie Anm. 6) und Hans Martin Schaller, Das geistige Leben am Hofe Kaiser Ottos IV. von Braunschweig, in: DA 45, 1989, S. 54–82, hier S. 74. Eine neue klärende Übersicht der mit Johannes Gallicus in Verbindung zu setzenden Daten bei Hucker, S. 411–414.
- Berges/Rieckenberg, 1951, S. 23f.
- Drögereit, 1952 und 1953.
- Rudolf Meier, Die Domkapitel zu Goslar und Halberstadt in ihrer persönlichen Zusammensetzung im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 5/Studien zur Germania Sacra, Bd. 1), Göttingen 1967, darin: III. Eilbertus und Johannes Gallicus (Ergänzungen zu einer Kontroverse), S. 413–428.
- In auffallender Weise schweigt die neuere Forschung, die sich mit dem Thema Künstlerinschriften befaßt, zu der Braunschweiger Inschrift; vgl. Reiner Haussherr, Arte nulli secundus. Eine Notiz zum Künstlerlob im Mittelalter, in: Ars auro prior. Studia Joanni Bialostocki sexagenario dedicata, Warszawa 1981, S. 43–47; Claussen (wie Anm. 5); aber auch: Norbert Koch, Der Innenraum des Braunschweiger Domes (ehemalige Stiftskirche St. Blasii), in: Kat. Stadt im Wandel 4, S. 485–513, hier S. 494ff. Dagegen spricht Anton Legner, Illustres manus, in: Kat. Ornamenta Ecclesiae 1, S. 187–230, hier S. 216, von einer „erstaunlichen Malerinschrift“: „Johannes Gallicus, dessen seltsame Pfeilerinschrift im Braunschweiger Dom immer noch rätselhaft bleibt“.
- Klamt, 1981, S. 39ff. Leider ist aber gerade das letzte Wort der Inschrift B, HABITARE, auf das sich Klamt nach Berges/Rieckenberg, 1951, im Zusammenhang mit dem darunterstehenden Zaccharias-Zitat bezieht, heute nicht zu lesen.
- Wie Berges/Rieckenberg, 1951, S. 1, annahmen. Das voraufgehende Zitat ebd.
- Jordan, S. 238, spricht von einer „später vielleicht falsch ergänzten Inschrift“. Dies bezieht sich besonders auf den letzten Teil der Inschrift A, in der von Dobbertin, S. 143f., auch ein niederdeutscher Text vermutet wurde.
- Vgl. Nr. 23; Datierung auf um 1250 und epigraphische Einordnung bei Drögereit, 1952, S. 146ff.
- Ebd., S. 160. Die Schreibung des Namens IOH GALE, die Schaller, S. 66, vorschlägt, indem das W als liegendes G gelesen wird, macht die Echtheit der Signatur nicht wahrscheinlicher.
- Drögereit, 1952, S. 145; vgl. Karl Brandi, Grundlegung einer deutschen Inschriftenkunde, in: DA 1, 1937, S. 11–43, hier S. 14–20.
Nachweise
- Abb. und Lit.: wie Fn. a, Anm. 1–4, 7, 9, 11–13, 16; Meier/Steinacker, 1926, S. 12.
Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 24 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0002405.
Kommentar
1951 begann eine noch nicht abgeschlossene Diskussion über Form und Inhalt, besonders aber den Verfasser der Inschrift7). Wilhelm Berges und Hans Jürgen Rieckenberg meinten, in dem Hildesheimer Domherrn und Pfarrer von St. Andreas, Johannes Gallicus, mit großer Sicherheit auch den Schöpfer der Dom-Ausmalung sehen zu können. Sie ermittelten zunächst 1215 als Todesdatum des Johannes Gallicus, korrigierten das Jahr später in 1211. Aus der Familie der aus Köln nach Hildesheim zugewanderten Tuchhändler Gallici, eingedeutscht Wale, stammend, sei der Kanoniker nicht nur Urheber der Briefsammlung des sog. ‚Altceller Codex‘8), sondern auch seit dem Ende der 1170er Jahre Notar am Hofe Heinrichs des Löwen in Braunschweig und später cancellarius Kaiser Ottos IV. gewesen9). Anhand der Zeugenliste einer Urkunde Heinrichs des Löwen sollte nachgewiesen werden, daß der Hildesheimer Domherr und vermutete Maler der Braunschweiger Wandmalereien auch ein Bruder des Eilbertus, Propst von Oelsburg war, welcher den Eilbertus-Tragaltar (Nr. 11) hergestellt habe10). Richard Drögereit hat in zwei Entgegnungen die Behauptungen von Berges und Rieckenberg widerlegt und die in der Urkunde genannten Brüder einer welfischen Ministerialenfamilie zugeordnet11). Eine korrigierende und wohl endgültige personengeschichtliche Bestimmung der Brüder Eilbertus und Johannes als Grafen von Wölpe und Hildesheimer Prälaten hat Rudolf Meier 1967 vorgenommen12). Danach ist die Frage nach dem Maler oder Urheber der Malereien weiterhin ungeklärt. Die am Beginn des 13. Jahrhunderts ganz ungewöhnliche Künstlersignatur eines Malers13) hat Klamt anhand einiger Beispiele aus der Buchmalerei zu erläutern versucht und zugleich auch den Wortlaut der beiden Hexameter (B) mit den im Vierungsgewölbe unter dem Namen IOH. WALE befindlichen Matthäus- und Zaccharias-Inschriften in Verbindung gebracht14). Es fragt sich, wie weit die unbefriedigende Lesbarkeit und Deutung der Inschriften A und B wirklich, wie Berges und Rieckenberg meinten, auf „unberufene Hände“ „bei sogenannten Restaurationen“ zurückgehen. Als die Darstellungen an den Langhauspfeilern zutage kamen, hat man, gut vorbereitet durch die vorangegangene Entdeckung und Freilegung der Wand- und Deckengemälde im Chor, sicher keine leichtfertige ‚Verschlimmbesserung‘15) vorgenommen. Jedoch ist aus späteren Restaurationen des 20. Jahrhunderts eine entstellende Übermalung oder Veränderung von Schriftbild und Wortlaut anzunehmen16). Die Inschrift entspricht in ihrem heutigen restaurierten Zustand weniger dem von Paul Clemen 1906 gelesenen Befund, als vielmehr einem Photo Paul Jonas Meiers von etwa 1938, das von Berges und Rieckenberg als diplomatische Abschrift zitiert wird. Die Zurückhaltung, mit der die Inschrift A von den beiden Letztgenannten gedeutet wurde, ist bei Inschrift B nicht angewendet worden, so daß zugunsten eines sinnvollen Verses Ergänzungen von Buchstaben vorgenommen wurden, die sich im sichtbaren Bild nicht finden lassen. So ist schon das zweite Wort der Inschrift B nicht zweifelsfrei als SCIO zu lesen, da über den drei ersten Buchstaben ein schwacher Kürzungsstrich zu sehen ist und folglich auch S(AN)C(T)I gelesen werden könnte. Zwischen I und O ist ein deutlicher Wortabstand angestrebt. Da also SCIO nicht eindeutig zu lesen ist, ist damit auch die Selbstaussage des Künstlers ungesichert. Im Schriftbild weichen die Inschriften A und B um einiges voneinander ab: Eckige, gedrängte Kapitalisformen bei E und N, die Enklave VT und die keineswegs so ausladenden, schwellenden Unzialformen wie in Inschrift B lassen Inschrift A als die möglicherweise ältere erscheinen. Dazu würde auch die Verwendung des aus zwei verschränkten V zusammengesetzten W passen. Eine Datierung zwischen 1194 und 1250 ist damit jedoch vom Schriftbild her nicht eindeutig gegeben. Inschrift B entspricht etwa den Inschriften in den Wandgemälden des Domes17). Inschrift C mit der im Mittelalter kaum gebräuchlichen Abkürzung des Namens IOH(ANNES) und der „unmöglichen“ Form des W kann man mit Drögereit für nachträglich angebracht halten18). Sein vorsichtiger Hinweis auf die von Karl Brandi geäußerte Erfahrung, daß Inschriften zweckgerichteten Interessen und zeitgebundenen Tendenzen gedient hätten, daß auch Schriftimitationen in keiner Epoche auszuschließen seien19), sollte nicht ganz vergessen werden.