Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)

Nr. 327 Herzog Anton Ulrich-Museum 1506

Beschreibung

Flügelaltar, sog. Hochaltar des Braunschweiger Domes; Holz. Nach Rehtmeyer stand er im südlichen Seitenschiff, über dem 1334 von Magister Reymboldus gestifteten Altar1). Seit 1789 war er neben der Sakristei an der südlichen Wand des Südquerhauses abgestellt2). 1842 übernahm ihn das damalige Herzogliche Museum. Zu diesem Zeitpunkt waren die unterhalb des mittleren großen Altarbilds angebrachte Schrifttafel (VII) und wahrscheinlich auch die Kamminschrift mit der Datierung (I) nicht mehr vorhanden.

I. Kamminschrift: Die auf das mittlere Altarbild zu beziehende Inschrift A1 verlief wahrscheinlich bei aufgeschlagenen Seitenflügeln über die gesamte Breite des Altars.

II. Linker Flügel, außen: In geschlossenem Zustand zeigt der Altar den Bildtyp der Verkündigung als Einhornjagd. Links treibt der Engel Gabriel als mystischer Jäger vier Jagdhunde vor sich her; ihre Namen, die die Tugenden Marias bezeichnen, stehen auf Schriftbändern, die aus ihren Schnauzen hervorkommen (A2–D2). Gabriel trägt in der linken Hand ein Hifthorn, von dem ein Schriftband (E2) mit dem Englischen Gruß ausgeht. Die verschlossene Tür, vor der Gabriel steht, ist unterhalb des Türschlosses mit einer Inschrift (F2) versehen3). Im Mittelgrund links oberhalb des Engels befindet sich ein rundes Brunnenbecken mit Schriftband G2; das Becken umstehen vier Bäume mit hohen, schlanken Stämmen, um die ein Schriftband geschlungen ist (H2). Über der abendlichen Landschaft der Stern Jacobs (I2).

III. Rechter Flügel, außen: Innerhalb eines geflochtenen Zaunes sitzt Maria im hortus conclusus (A3) mit dem Einhorn, das sich in ihren Schoß flüchtet. Am Zaun im Vordergrund wächst eine Lilie, die von einem dreifach gewundenen Schriftband (B3) umgeben ist. Beide Schriftbänder winden sich um Zaunpfähle. Zwei weitere Schriftbänder sind Maria (C3) bzw. dem Einhorn (D3) zugeordnet. Am linken Bildrand sind alttestamentliche Präfigurationen der Jungfräulichkeit Marias aufgereiht und durch Schriftbänder bezeichnet: der goldene Eimer (E3) mit dem Himmelsbrot (F3), die Bundeslade (G3), der blühende Stab Aarons (H3), der versiegelte Brunnen (I3) mit Inschrift um den Beckenrand (K3) und rechts hinter Maria Gideons Vlies (L3). Der nach rechts ansteigende Garten wird hinten von einer stadtmauerähnlichen Anlage abgeschlossen, die von vier Tortürmen verschiedener Größe durchbrochen ist. In den Pforten der Türme erscheinen jeweils Figuren mit Schriftbändern: in der Goldenen Pforte Marias Mutter Anna (M3), in einem wappenbesetzten Turm (N3) König David (O3), in der Pforte Ezechiels wohl die Figur des Propheten (P3). Rechts der Elfenbeinturm des Hohenliedes mit Salomo im Tor (Q3). Links über dem ersten Turm geht über dem Meer die Sonne auf (R3)4), rechts oben kniet Moses an einem steil aufragenden Berghang inmitten einer Schafherde vor dem brennenden Dornbusch (S3).

IV. Mitteltafel: Dargestellt ist das ‚Ecce homo‘, die Schaustellung Christi durch Pilatus, vor einer städtischen Straßenszene. Vor einem am linken Bildrand aufragenden Gebäude mit Gerichtslaube, das durch eine Aufschrift unterhalb des Fensters in der linken oberen Ecke als Rathaus (A4) gekennzeichnet ist, stehen Christus und Pilatus nebeneinander hinter der Balustrade des Treppenaufgangs. Christus wird mit gebundenen Händen vom Henker, der ein mit Buchstaben verziertes Hemd trägt (B4), dem rechts unten zusammengedrängten Volk vorgeführt. Der Henker scheint die Worte Ecce homo zu sprechen, da sich unter seinem auf Christus weisenden linken Arm das entsprechende Schriftband C4 befindet. Denselben Text trägt auch der goldene, reich ornamentierte Nimbus Christi (D4). Links von Christus abgewandt steht Pilatus mit geschwungenem Schriftband E4 unter seinem linken Arm. Über seinem Kopf weist seine Frau aus einem geöffneten Fenster des Rathauses mit der rechten Hand auf ihn herab, in der linken Hand hält sie ein Schriftband (F4). Neben Pilatus steht am linken Rand der Balustrade ein Diener5) mit einer Kanne, aus der er Wasser über die Hände des Statthalters in ein Becken gießt, von dem ein Schriftband (G4) nach unten ausgeht. Unter der Christus-Pilatus-Gruppe sind an der Balustradenmauer die drei auf der unteren Treppenstufe namentlich bezeichneten Schächer angekettet (H4–K4). Rechts wird bereits Barrabas von einem Schergen losgebunden; der Schächer trägt ein buchstabenverziertes Bruststück (L4), der Scherge ein mit Buchstaben besticktes Hemd (M4). Von der bewaffneten, schreienden Menge geht ein Schriftband aus, das um eine aufragende Lanze gewickelt ist und aus dem Mund eines Mannes in Ritterrüstung zu kommen scheint (N4). Rechts am Bildrand sitzen zwei Hohepriester auf einem Pferd; die rechte Hand des vorderen ist im Zeigegestus vorgestreckt, von ihr geht ein Schriftband aus (O4). Ein weiteres verschlungenes Schriftband (P4) reicht vom Mund des älteren Hohepriesters dahinter bis an das erste Fachwerkobergeschoß eines Hauses in der rechten oberen Ecke. Die Inschriften sind in der Reihenfolge C4/D4, E4, N4, O4, F4, G4, P4 zu lesen, um die tumultuarische Verhandlung nachzuvollziehen, an der Pilatus, seine Frau, das Volk und die Hohenpriester beteiligt sind.

Die Straße zeigt an der gesamten, bis weit rechts in den Bildhintergrund reichenden und stark perspektivisch verkürzt wiedergegebenen Häuserzeile auf Steinunterbauten aufgesetztes Fachwerk, dessen zweites Geschoß jeweils leicht vorkragt. Die meisten Fenster sind geöffnet und mit Personen besetzt, die sich dem Geschehen im Vordergrund zuwenden, weitere Zuschauer treten aus den Seitenstraßen und Toröffnungen der Häuser hinzu oder versammeln sich um einen Brunnen im Mittelgrund. Aus einem Torturm links tritt ein Mann mit einem T-Kreuz, davor nähert sich die Gruppe der trauernden Frauen mit Johannes.

V. Linker Flügel, innen: Maria erscheint als Strahlenkranz-Madonna mit Kind auf der Mondsichel, die von zwei Engeln gehalten wird. Sie steht in einem Kirchenraum, durch dessen rückwärtige Öffnung ein Landschaftsausschnitt sichtbar wird. Ihre hohe Bügelkrone wird von zwei Engeln gehalten, weitere kleinere und größere Engel schweben im Raum unterhalb einer von Säulen getragenen, gerüstartigen Holzbalkenkonstruktion. Maria trägt ein rotes Kleid mit goldenem Gürtel. Auf den breiten Saum ihres weitfallenden, über die linke Schulter geschlungenen Obergewandes sind Goldstickerei imitierende, stilisierte hebräische Schriftzeichen gemalt. Unter der Mondsichel knien drei anbetende, männliche Stifterfiguren. Sie tragen weiße Chorröcke über schwarzen Untergewändern, der linke, ältere, von dessen Händen ein Schriftband (A5) ausgeht, hat ein Barett unter die rechte Achsel geklemmt. Der hintere der beiden Stifter auf der rechten Seite hält ebenfalls ein Schriftband (B5). Die Stifter haben Rosenkränze aus Koralle und einzelnen schwarzen Perlen in den betend zusammengelegten Händen, in der Bildmitte rechts reicht ein Engel dem Christuskind ebenfalls einen solchen Rosenkranz. In der Mitte des Vordergrundes hält ein rotgekleideter Engel einen Wappenschild mit verschlungenen Buchstaben (C5).

VI. Rechter Flügel, innen: Dargestellt ist die Gregorsmesse. Papst Gregor der Große mit Tituli im Nimbus (A6) und auf dem Saum seiner Kasel (B6) kniet in Dreiviertelansicht in einem Kirchenschiff vor einem schräg im linken Vordergrund stehenden Altar. Hinter Gregor stehen ein Kardinal mit der Tiara in der Hand und zwei Bischöfe, rechts neben dem Altar weitere Kleriker, von denen einer ein Meßbuch mit einem dreizeiligen Text auf beiden Seiten (C6, D6) in die Höhe hält. Auch auf dem Altar liegt ein aufgeschlagenes Buch, dessen Text jedoch nicht lesbar ist. Gregor schaut auf den auf dem Altar erscheinenden Christus, aus dessen Seitenwunde das Blut in einen Meßkelch strömt. Oberhalb des von einem ornamentierten Kreuznimbus umgebenen Hauptes Christi sind die Leidenswerkzeuge angeordnet: ein T-Kreuz mit Titulus E6 und zwei Nägeln, an einem davon hängt die Dornenkrone; Leiter, Schwammstock und Lanze sind ans Kreuz gelehnt; unter dem linken Kreuzarm steht die Martersäule mit gekreuzten Geißeln und obenauf dem krähenden Hahn6). Im Schildbogen gestaffelt zwei Reihen mit figürlichen Darstellungen als Brustbilder: Pilatus und seine Frau, Petrus und die Magd, der Judas-Kuß und die beiden Hohenpriester aus der Mitteltafel. Oberhalb hängt das Schweißtuch der Veronica mit der Vera Icon. Der Sarg Christi mit darübergeworfenem Rock steht auf dem Altar. Wie bei dem Innenraum des linken Flügels ist die wohl dreischiffige, kreuzrippengewölbte Säulenhalle nach hinten geöffnet, in diesem Fall auf eine Straßenszene, die der der Mitteltafel ähnelt. Den oberen Bildabschluß stellt ein Rundbogen dar, in dessen Zwickeln zwei leere Wappenschilde hängen. – Alle Schriftbänder beginnen mit einer rot abgesetzten Versalie.

VII. Rehtmeyer berichtete von einer unterhalb der Mitte des Altars angebrachten Schrifttafel und druckte ihren niederdeutschen Text ab7). Diese Tafel war 1789 bereits nicht mehr vorhanden, die späteren Beschreibungen übernahmen den von Rehtmeyer in zwei elfzeiligen Textblöcken überlieferten Wortlaut8).

Inschrift I nach Uffenbach, Inschrift VII nach Rehtmeyer.

Maße: H.: 174 cm; Br.: 174 cm (Mitteltafel), 85 cm (Flügel); Bu.: ca. 6 cm (A4), sonst 1,4–1,6 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel (K3, B4, L4, C5, A6, B6, E6), sonst gotische Minuskel mit Versalien.

    I. Kamminschrift.
  1. Egrediemini filiae Sion eta) videte regem dilectum meum candidum eta) rubicundum in diademate qua coronavit eum mater sua in die desponsitionis illius anno Domini Millesimo Vc sexto die Urbani episcopi9)

  2. II. Linker Flügel, außen.
  3. A2

    Ueritas

  4. B2

    Pax

  5. C2

    Misericordia

  6. D2

    Iusticia10)

  7. E2

    Aue gracia plena dominus tecum11)

  8. F2

    Po(r)ta clausa12)

  9. G2

    fons ortoru(m) puteus aq(u)e13)

  10. H2

    Quasi oliua speciosa exaltata su(m) i(n) campis14)

  11. I2

    Stella iacob15)

  12. III. Rechter Flügel, außen.
  13. A3

    Ortus co(n)clusus16)

  14. B3

    Sicut liliu(m) i(n)ter spin(as) sic amica mea i(n)te(r)17)

  15. C3

    Ecce ancilla d(omi)ni fiat michi secu(n)[dum]18)

  16. D3

    Quia que(m) celi capere no(n) potera(n)t tuo gremio [con]tulis(ti)19)

  17. E3

    Urna aurea

  18. F3

    Manna20)

  19. G3

    archa d(omi)ni · 21)

  20. H3

    Uirga aaron22)

  21. I3

    Fons signat(us)23)

  22. K3

    REX (CHRISTUS)24) / SALUS M[....]b)

  23. L3

    Uellus jideon[is]25)

  24. M3

    Porta aurea

  25. N3

    Turris dauid

  26. O3

    cu(m) mille clippei p(ro)gnclc) cand)e)26)

  27. P3

    Porta ezechielis27)

  28. Q3

    Turris eburnea c 4f)28)

  29. R3

    Aurora

  30. S3

    Rubus moisi29)

  31. IV. Mitteltafel.
  32. A4

    Pretorium30)

  33. B4

    NIAH31)

  34. C4

    Ecce homo32)

  35. D4

    Ecce homo

  36. E4

    Regem vestru(m) crucifigam33)

  37. F4

    Nichil tibi et iustig) illi multa eni(m) passa s(um)34)

  38. G4

    Innocens ego su(m) a sa(ng)wine iusti huius35)

  39. H4

    gismas

  40. I4

    iesmas

  41. K4

    barrabas

  42. L4

    INHE

  43. M4

    LH

  44. N4

    tolle tolle crucifige eu(m)36)

  45. O4

    Non habemus rege(m) nisi cesarem37)

  46. P4

    Sanguis eius sup(er) nos et sup(er) filios nostros38)

  47. V. Linker Flügel, innen.
  48. A5

    O mater dei miserere mei

  49. B5

    Natu(m) tuu(m) ora pro nobis virgo decora

  50. C5

    LbR Sh)

  51. VI. Rechter Flügel, innen.
  52. A6

    SANCTVS GREGORIVS

  53. B6

    S(ANCTVS) GREGORIVS

  54. C6

    recordare / v(ir)go / (ma)ria

  55. D6

    Sanctus / sanctus / Sanctus

  56. E6

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDAEORVM)39)

  57. VII. Schriftafel.
  58. Ik bin schön Men friget my nichtIk bin edele Men dinet my nichtIk bin rike Men biddet my nichtIk bin ein lerer Men fraget my nichtIk bin ewich Men sucht my nichtIk bin warhafftig Men glovet my nichtIk bin de Weg Men wandert my nichtIk bin dat Levent Men begehrt my nichtIk bin barmhertig Men truet my nichtIk bin rechtferdig Neme(n)t en lobt my nichtWerde gy denne vordamet So toverwiset my nicht

Übersetzung:

I. Kamminschrift.

Kommt heraus, Töchter Zions, und seht meinen geliebten König, weiß und rot in der Krone, mit der ihn seine Mutter gekrönt hat am Tage seiner Hochzeit. Im Jahr des Herrn 1506 am Tag des Bischofs Urban. (25. 5.)

II. Linker Flügel, außen.

Wahrheit (A2). Frieden (B2). Mitleid (C2). Gerechtigkeit (D2).

Gegrüßt seist du, Gnadenvolle, der Herr ist mit dir. (E2).

Die geschlossene Pforte. (F2)

Ein Gartenbrunnen. Ein Wasserbecken. (G2)

Ich bin wie ein köstlicher, hochgewachsener Olivenbaum auf dem Felde. (H2)

Der Stern Jacobs. (I2)

III. Rechter Flügel, außen.

Der verschlossene Garten. (A3)

Wie die Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den (Töchtern). (B3)

Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach (deinem Wort). (C3)

Weil du denjenigen, den (sogar) die Himmel nicht fassen konnten, in deinem Schoß getragen hast. (D3)

Das goldene Gefäß. (E3)

Himmelsbrot. (F3)

Die Arche des Herrn. (G3)

Der Stock Aarons. (H3)

Der versiegelte Brunnen. (I3)

Der König Christus, das Heil (...). (K3)

Das Vlies Gideons. (L3)

Die goldene Pforte. (M3)

Der Turm Davids. (N3)

Mit tausend Schilden als Brustwehr. (O3)

Die Pforte Ezechiels. (P3)

Der Elfenbeinturm. (Q3)

Die Morgenröte. (R3)

Der Busch Mosis. (S3)

IV. Mitteltafel.

Rathaus. (A4)

Siehe den Menschen! (C4, D4)

Soll ich euren König kreuzigen? (E4)

Habe du nichts zu tun mit diesem Gerechten, viel nämlich habe ich seinetwegen erlitten. (F4)

Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten. (G4)

Weg, weg, kreuzige ihn! (N4)

Wir haben keinen König außer dem Kaiser. (O4)

Sein Blut komme über uns und unsere Kinder. (P4)

V. Linker Flügel, innen.

O Mutter Gottes, erbarme dich meiner. (A5)

Bitte deinen Sohn für uns, schöne Jungfrau. (B5)

VI. Rechter Flügel, innen.

Der hl. Gregorius. (A6, B6)

Gedenke, Jungfrau Maria. (C6)

Heilig, heilig, heilig. (D6)

VII. Schrifttafel.

Ich bin schön – man freit mich nicht. / Ich bin edel – man dient mir nicht. / Ich bin reich – man erbittet nichts von mir. / Ich bin ein Lehrer – man fragt mich nicht. / Ich bin ewig – man verlangt nicht nach mir. / Ich bin wahrhaftig – man glaubt nicht an mich. / Ich bin der Weg – man begeht mich nicht. / Ich bin das Leben – man begehrt mich nicht. / Ich bin barmherzig – man traut mir nicht. / Ich bin gerecht – niemand lobt mich. / Wenn ihr verdammt werdet – so verurteilt mich nicht.

Versmaß: Zweisilbig gereimter leoninischer Hexameter (B5).

Kommentar

Der Altar ist in der Braunschweiger Tradition bis ins 19. Jahrhundert als Werk Lucas Cranachs angesehen worden40). Auch eine Zuweisung an den Göttinger Meister Hans Raphon oder einen Schüler aus seiner Werkstatt ist verschiedentlich versucht worden41). Andererseits wurden stilistische Zusammenhänge mit dem Meister der Goslarer Sibyllen vermutet. Insgesamt kann mit einiger Wahrscheinlichkeit lediglich ein niedersächsischer Künstler angenommen werden, ohne daß seine Identität zu klären ist42). Er trägt nach diesem Werk den Notnamen ‚Meister des Braunschweiger Domaltars‘. Das von zwei Autoren überlieferte Entstehungsjahr 1506 wird heute nicht mehr angezweifelt43).

Die Motive des verschlossenen Gartens (hortus conclusus) als Sinnbild der Jungfräulichkeit Marias und der Verkündigung als mystische Einhornjagd sind bereits seit dem 13. Jahrhundert miteinander verknüpft, in voller Ausbildung der Bild- und Symbolsprache aber erst seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts verbreitet44). Die vier Jagdhunde des Erzengels Gabriel, die die Tugenden Marias verkörpern, hetzen das Einhorn, das nach der Aussage des ‚Physiologus‘ nur im Schoß einer Jungfrau gebändigt und gefangen werden kann, zu Maria in den Garten. Die porta clausa bleibt auch dem Engel verschlossen. Die aus dem Alten Testament entnommenen Motive sind typologisch auf Maria bezogen: der Stern Jacobs (I2), die goldene Urne mit dem Himmelsbrot (E3, F3), die Bundeslade (als Wohnung Gottes; G3), der blühende Stab Aarons (H3), Gideons Vlies (L3), die verschlossene Pforte Ezechiels (P3) und der brennende Dornbusch (S3). Die Bilder des versiegelten Brunnens, des Gartenbrunnens, der Lilie unter Dornen, des Elfenbeinturms und des Turms Davids mit 1000 Wappenschilden als Brustwehr (A3, B3, N3, O3, Q3) stammen aus dem Hohenlied, das Motiv des köstlichen Ölbaums (H2) aus Jesus Sirach. Die Goldene Pforte (M3) verweist auf die unbefleckte Empfängnis Marias, gemeint ist die legendarisch-apokryph überlieferte Begegnung ihrer Eltern Joachim und Anna.

Die auf der Innenseite des rechten Flügels dargestellte Gregorsmesse, die Erscheinung Christi mit den Wundmalen auf dem Altar vor Papst Gregor dem Großen im Augenblick der Transsubstantiation, ist im 15. Jahrhundert ein bevorzugtes Frömmigkeitsmotiv, das auch hier mit der Darstellung der arma Christi in allen ikonographischen Einzelheiten verbunden ist45).

Die auf dem linken inneren Seitenflügel anbetend zu Füßen der von Engeln gekrönten Maria knienden drei Stifter hat man für die Stiftsherren Ludwig und Bruno und den Weltgeistlichen Remmert aus der Familie von Saldern gehalten46). Die Buchstabenfolge auf dem Wappenschild (C5) und ein von der Familie gestifteter Corpus Christi-Altar im nördlichen Seitenschiff des Doms wurden als Indizien für diese Identifikation herangezogen. Tatsächlich ist als ursprünglicher Standort des Altars aber das südliche Seitenschiff angegeben worden, und Stiftsherren mit diesen Namen sind im 16. Jahrhundert nicht bezeugt47), so daß die Frage nach der Identität der mit eindringlicher Portraitähnlichkeit gemalten Stifterfiguren nach wie vor offen ist.

Die Verurteilung Christi mit der Handwaschung des Pilatus war ein im Spätmittelalter bevorzugtes ikonographisches Thema48). Die Darstellung des ‚Ecce homo‘ als Hauptbild eines Flügelaltars hielt Gmelin indes für „singulär“49). Bemerkenswert sind weiterhin die detaillierte Schilderung des Stadtbildes und der Figurenreichtum der Szene, der sich in den Inschriften wiederfindet: C4–G4 und N4–O4 spiegeln in der Aufnahme der direkten Rede den tumultus aus Mt. 27,24 wider50). – Die verlorene, der Mitteltafel unten angehängte niederdeutsche Schrifttafel (VII) ist einerseits als Bilderläuterung zu der Ecce homo-Szene, andererseits als Andachtstext für den Betrachter anzusehen. Der Text, dessen Herkunft ungeklärt ist, nimmt in Zeile 6–8 Bezug auf Io. 14,6. Der Altar insgesamt ist nicht nur stilistisch isoliert51) und bemerkenswert hinsichtlich seines ikonographischen Ensembles, sondern nimmt auch aufgrund seines reichen Inschriftenprogramms eine bedeutende Stellung in der niedersächsischen Kunst des Spätmittelalters ein.

Textkritischer Apparat

  1. Tironisch.
  2. Wohl MUNDI. Die Buchstaben sind als hebräische Schrift stilisiert.
  3. Sic statt propugnaculis.
  4. Wohl can(ticum).
  5. Es ist wohl, ähnlich wie bei Q3, eine Stellenangabe gemeint: Canticum 8; vielleicht ist die 8 als unten geschlossene gotische 4 zu lesen; vgl. Anm. 26.
  6. Die beiden Zeichen sind möglicherweise ebenfalls als Canticum mit Stellenangabe zu deuten, vgl. O3 und Anm. 28.
  7. Nach Mt. 27,19 iusto.
  8. S ist nach rechts gekippt und mit den drei voraufgehenden Buchstaben verschlungen.

Anmerkungen

  1. Rehtmeyer, Kirchen-Historie 1, S. 93. Döll, S. 172, lokalisierte den Altar im „nördlichen Teil der Kirche“ und bezog sich dennoch auf Rehtmeyer, der jedoch ausdrücklich vom südlichen Seitenschiff und dem dort befindlichen (Matthäus-)Altar sprach.
  2. Ribbentrop 1, Vorrede, o. S. und S. 176; Görges, 1815, S. 36. – Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die einzelnen Teile des Altars im folgenden mit römischen Ziffern (I–VII) bezeichnet.
  3. Ribbentrop 1, Vorrede. Die von ihm in der Beschreibung des Altars z.T. wiedergegebenen Inschriftentexte sind mehr sinngemäß als buchstabengetreu oder wörtlich zitiert und werden deshalb hier nicht herangezogen.
  4. Statt des zu erwartenden Meersterns als Mariensymbol; vgl. Heinrich und Margarethe Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, München 1981, S. 243, 245.
  5. Gmelin, S. 428, hielt die nach der Tracht – Haarnetz und breiter Überfallkragen, der auch bei anderen Figuren im Bild erscheint – männliche Figur für die am Fenster und in der Gerichtsszene unterschiedlich gekleidet auftretende Frau des Pilatus. An anderer Stelle (Kat. Stadt im Wandel 1, Nr. 118, S. 181) sah er die Frau am Fenster als „Bürgerin“ an, obwohl das Spruchband die Worte aus Mt. 27,19 trägt, die die Frau des Pilatus spricht. – Nach der Bildtradition der häufig dargestellten Szene mit der Handwaschung gießt ein Diener, nicht eine Dienerin dem Pilatus das Wasser über die Hände. Auch nach dem biblischen Text gehört die Frau des Pilatus nicht zum Figurenkreis der Gerichtsszene.
  6. Die Darstellung erinnert an die Braunschweiger Passionssäule; zur Ikonographie der Passionssäule mit Hahn vgl. Kat. Die Messe Gregors des Großen. Vision, Kunst, Realität, bearb. von Uwe Westfehling, Köln 1982, S. 86f. und Abb. 40.
  7. Rehtmeyer, Kirchen-Historie 1, S. 94.
  8. Ribbentrop 1, Vorrede; Görges, 1815, S. 34–42, hier S. 42; Schröder/Assmann 2, S. 142.
  9. Kombination aus Ct. 3,11 egredimini et videte filiae Sion regem Salomonem in diademate quo coronavit eum mater sua in die disponsitionis illius und Ct. 5,10 dilectus meus candidus et rubicundus. Die Inschrift ist in dieser Form nur bei Uffenbach 1, S. 283, überliefert, Rehtmeyer führt lediglich das Datum an.
  10. Die Namen der Hunde nach Ps. 84,11.
  11. Lc. 1,28.
  12. Vgl. Ez. 44,1–3.
  13. Ct. 4,15.
  14. Vgl. Sir. 24,19 quasi oliva speciosa in campis et quasi platanus exaltata sum.
  15. Vgl. Nm. 24,17 orietur stella ex Iacob et consurget virga de Israhel.
  16. Ct. 4,12.
  17. Vgl. Ct. 2,2 sicut lilium inter spinas sic amica mea inter filias.
  18. Lc. 1,38.
  19. Das Zitat ist bisher nicht nachweisbar, es liegt keine Bibelstelle zugrunde. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf einen Schnitzaltar mit gemalten Flügelaußenseiten im Zisterzienserinnenkloster Isenhagen (bei Celle), der um 1515 datiert und einem unbekannten Braunschweiger Meister zugeschrieben wird; vgl. Gmelin, S. 450–457. Auf der rechten unteren Bildtafel der Außenseite ist die mystische Einhornjagd dargestellt; diese Bildtafel trägt als einziger Teil auch Inschriften. Obwohl von der Qualität der Darstellung und der Bildauffassung her der Einfluß des Domaltar-Meisters sicher fernliegt (Gabriel nähert sich von rechts, das Einhorn wendet den Kopf zurück zu ihm), ist bemerkenswert, daß das reduzierte Inschriftenprogramm des Isenhagener Altars wörtlich auf den Domaltar zurückgeführt werden kann, wozu auch die Aufnahme des Spruchs [quia quem] celi [c]apere non pot[erant ...] gehört; vgl. Gmelin, S. 454f. – Einige Inschriften auf den Flügeln weichen heute in Details von den Abb. bei Gmelin (S. 430f.) ab, da sie offenbar bei einer späteren Restaurierung verändert wurden (z. B. D3, L3).
  20. Zu E3 und F3 vgl. Hbr. 9,4 urna aurea habens manna.
  21. Zahlreiche Erwähnungen der Bundeslade als arca domini (bzw. dei) in Ex. 25,10–22 sowie 37,1–9 u. ö. Die Motive E3–H3 stammen aus der Tradition von Hbr. 9,4 (dort arca testamenti), wonach die Lade sowohl das erwähnte Mannagefäß wie auch den Stab Aarons enthielt (vgl. LCI 1, Sp. 341).
  22. Vgl. Nm. 17,6 (u. ö.) und Hbr. 9,4.
  23. Ct. 4,12.
  24. XCS. Das C ist als seitenverkehrtes S mit Unterlänge als hebräischer Buchstabe stilisiert.
  25. Bezieht sich auf Idc. 6,37–40.
  26. Zu N3 und O3 vgl. Ct. 4,4 sicut turris David collum tuum quae aedificata est cum propugnaculis mille clypei.
  27. Bezieht sich auf Ez. 44,1f.
  28. Ct. 7,5.
  29. Bezieht sich auf Ex. 3,2–4.
  30. Die Bezeichnung praetorium meint im Spätmittelalter auch das städtische Rathaus; vgl. z.B. UB Braunschweig 4, Register, S. 605; UB Göttingen 1401–1500, hg. von Gustav Schmidt, Hannover 1867, Register, S. 486, Stichwort ‚Rathhaus‘; Urkunden der Stadt Göttingen aus dem 16. Jahrhundert, hg. von A. Hasselblatt/G. Kaestner, Göttingen 1881, Register, S. 434, Stichwort ‚Rathhaus‘.
  31. Die Buchstaben an der gestickten Ausschnittblende des Hemdes dienten wahrscheinlich nur dekorativem Zweck und sind deshalb weder als Devise noch als Initialen zu deuten. Dies gilt auch für L4 und M4.
  32. Io. 19,5.
  33. Io. 19,15.
  34. Mt. 27,19.
  35. Mt. 27,24.
  36. Io. 19,15.
  37. Ebd.
  38. Mt. 27,25.
  39. Io. 19,19.
  40. Vgl. Ribbentrop 1, Vorrede, und Görges, 1815, S. 36. Rehtmeyer, Kirchen-Historie 1, S. 93, hatte jedoch die Zuschreibung an Cranach bezweifelt.
  41. Vgl. Schröder/Assmann 2, S. 142; Übersicht über die Stil- und Werkstatt-Diskussion bei Gmelin, S. 432f.
  42. Vgl. Gmelin, S. 433; in Kat. Stadt im Wandel 1, Nr. 118, S. 181, stellt er auch thematische Anklänge an mitteldeutsche Altäre der Zeit fest.
  43. Vgl. ebd., S. 182. Einhorn, S. 346, weist auf eine eng verwandte Darstellung des Themas auf zwei Altarflügelaußenseiten im Schloßmuseum Weimar hin, das der Schule Lucas Cranachs zugerechnet und um 1530 datiert wird.
  44. Zur Verkündigung durch Gabriel als allegorische Jagd vgl. Einhorn, S. 203–215. Viele frühe Beispiele der Gabrielsjagd auf Altartafeln stammen aus Thüringen, vgl. ebd. S. 203–205 und S. 361. Auch sonst erscheinen die meisten Darstellungen des Themas in der Tafelmalerei im nord- und mitteldeutschen Raum, vgl. ebd. S. 361–364. Weiter weist Einhorn darauf hin, daß die Verbindung von Verkündigung und Einhorn-Jagd in einer Handschriften-Illustration erstmals um 1480 im niedersächsischen Raum auftritt.
  45. Vgl. Die Messe Gregors des Großen (wie Anm. 6), S. 14 und S. 38–46, spez. S. 43.
  46. Vgl. Augst Fink, Ein Flügelaltar aus dem Braunschweiger Dom, in: Ruf und Rüstung. Braunschweiger Blätter zum kirchlichen Aufbau im Geist Luthers 10, 1936, S. 37–41, hier S. 38.
  47. Keiner der drei Namen kommt in den Stiftsherrenverzeichnissen bei Döll vor.
  48. Vgl. LCI 1, Sp. 557–561, bes. Sp. 559f.
  49. Gmelin, in: Kat. Stadt im Wandel 1, Nr. 118, S. 181.
  50. Wie Sabine Wehking an einem vergleichbaren Fall aus Osnabrück festgestellt hat, wandelt das dialogische Konzept der Inschriften „die einem Bild sonst eigene Simultaneität in einen szenischen Ablauf“ um (DI 26 [Osnabrück], Nr. 65, S. 67f., Zitat S. 68). Auch auf der Mitteltafel des Braunschweiger Domaltars ist eine biblische Episode inszeniert und nicht eines der zentralen Andachtsthemen (wie z. B. die Kreuzigung oder der Schmerzensmann) dargestellt.
  51. Gmelin, in: Kat. Stadt im Wandel 1, S. 181.

Nachweise

  1. Abb.: Gmelin, S. 429–431, 433; Kat. Stadt im Wandel 1, S. 182f.
  2. Lit.: Rehtmeyer, Kirchen-Historie 1, S. 93f.; Zacharias Conrad von Uffenbach, Merckwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland, Frankfurt/Leipzig 1753, S. 282ff.; Gmelin, S. 428–434 (Lit.); Kat. Stadt im Wandel 1, Nr. 118, S. 181–183.

Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 327 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0032701.