Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)

Nr. 261 St. Ulrici-Brüdern (14)96

Beschreibung

Kelch; Silber, vergoldet. Der an Umfang, Höhe und überreicher Verzierung ungewöhnliche Kelch steht auf sechspassigem Fuß mit hoher, von einer durchbrochenen Ranke ausgefüllten Zarge. In jedem der Pässe ist in einem tropfenförmigen, zum Schaft hin spitz zulaufenden Medaillon eine Szene aus dem Leben Christi und Marias dargestellt: die Verkündigung mit dem Englischen Gruß auf einem geschwungenen Schriftband (A), Geburt Christi, Anbetung der Könige, Darbringung im Tempel, Flucht nach Ägypten, Marienkrönung. Versetzt darüber stehen sechs Heiligenfiguren auf Konsolen: Johannes d. T., Stephanus, ein als Bischof dargestellter Heiliger mit herzförmigem Weihgefäß, Georg, Laurentius und Johannes Ev. In der Mitte des Schaftes, der als leicht in sich gedrehter Baumstamm stilisiert ist, der übergroße, von durchbrochenem Laubwerk überzogene Nodus, besetzt mit sechs Steinen als Rotuli, die in vorgewölbtes Rankenwerk eingefügt sind. Die untere Hälfte der Kuppa nehmen fünf typologische Szenen des Alten Testaments ein: Der Einzug Davids mit dem Haupte Goliaths, David mit Harfe vor Saul, Isaak das Holz tragend, Opferung Isaaks, Jonas im Maul des Wals. Sie entsprechen den im oberen Teil der Kuppa dargestellten Szenen: Einzug Christi in Jerusalem, Christus vor Pilatus, Kreuztragung, Kreuzigung mit Titulus (B) und Auferstehung. Die Vorderseite der Kelchkuppa unterhalb des Labialausschnitts wird von der Darstellung Christi als Weltrichter mit Lilie und Schwert beherrscht. Vor ihm knien Maria und Johannes, unterhalb steigen zwei Erweckte anbetend aus Gräbern. Rechts und links oben im alles umgebenden Rankenwerk zwei Engel mit den Posaunen des Gerichts. Die Inschrift C mit Datum befindet sich eingeritzt unter fünf Pässen des Fußes. Sie ist offensichtlich mit einer Nadel oder einem sehr feinen Stift ausgeführt, so daß die senkrechten Schäfte tiefer, die verbindenden waagerechten Striche feiner, z. T. kaum sichtbar ausgeführt sind. Dadurch ist die Inschrift nur in Teilen lesbar, jedoch bestätigen die erkennbaren eingeritzten Zahlen die kunsthistorische Datierung auf die Zeit um 15001).

Maße: H.: 25 cm; Dm.: 13,5 cm; Bu.: 0,2 cm (A, B), 0,5 cm (C). – Gotische Minuskel.

  1. A

    ave gratia2)

  2. B

    i(esus) n(azarenus) r(ex) i(udaeorum)3)

  3. C

    [.....]a) 4 lot / hecb) pathena / Anno [... ]c) . xcui / sub b(er)nardo vic(ario)d) ete) p(ri)oref)

Kommentar

Die Zahlen xcui, die bereits im 19. Jahrhundert gelesen worden waren, sind noch erkennbar und auch von Mack eindeutig verifiziert worden. Da die kunsthistorisches Datierung auf das Ende des 15. Jahrhunderts abzielt, kann deshalb das Jahr 1496 erschlossen werden.

Der Kelch, der nicht sicher als niedersächsische Arbeit anzusehen ist4), hat weder vom ikonographischen Programm noch von der Inschrift her einen Bezug zum Braunschweiger Franziskanerkloster. Es ist nicht bekannt, auf welche Weise er an die Gemeinde St. Ulrici-Brüdern gelangte und ob er überhaupt aus Braunschweiger Besitz stammt. Sollte das letzte Wort der Inschrift C als priore zu lesen sein, so wäre als ursprünglicher Besitzer eher das Braunschweiger Paulinerkloster oder der Johanniterorden anzusehen. Nach Besitz, Vermögen und Mitgliederzahl beider Konvente im Spätmittelalter ist jedoch die Anschaffung eines so großen Kelchs auf so hohem handwerklichen Niveau nicht wahrscheinlich. Möglich wäre eher, daß der Kelch aus dem Besitz der St. Ulrici-Kirche an die Brüdernkirche gelangte. Dem würde der Lesungsvorschlag vicerectore entsprechen. Da das in der Inschrift C deutlich geschriebene Wort pathena nicht als irrtümliche Bezeichnung des Kelchs angesehen werden kann, muß das in der Inschrift genannte Silbergewicht auf den vorhandenen Kelch und eine dafür angefertigte, heute verlorene Patene bezogen werden (vgl. Fn. b).

Textkritischer Apparat

  1. Etwa fünf unzusammenhängende Zeichen. Mack schlägt V m(a)r(k) vor, bezeichnet jedoch ebenfalls den Anfang der Inschrift als nicht lesbar.
  2. Lesung ist nicht gesichert, möglicherweise nec. Das würde jedoch auch keinen Sinn ergeben. Da die drei Buchstaben nicht sicher ein Wort bilden, zumal über dem e ein Kürzungsstrich vermutet werden kann, könnte der letzte Buchstabe auch für c(um) stehen, was auf das nachstehende pathena bezogen werden könnte.
  3. Befund: z und ein möglicherweise aus einem c und einer 4 zusammengeschriebenes Zeichen. Schröder/Assmann und nach ihnen Schiller lasen M tc im Sinne von millesimo trecentesimo und somit 1396. Diese Deutung ist weder vom Schriftbild noch von der kunsthistorischen Einordnung her möglich.
  4. Es folgt ein unter die Zeile gezogenes Kürzungszeichen. Oberhalb von c ein Punkt, möglicherweise ein hochgestelltes o.
  5. Möglicherweise tironisches et. Mack liest v.
  6. Der letzte Teil der Inschrift könnte auch als vic(erec)/tore, ‚Vizerektor‘, gelesen werden.

Anmerkungen

  1. Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1129, S. 1308. Ebd., 4, S. 386.
  2. Lc. 1,28: ave gratia plena.
  3. Io. 19,19.
  4. Hingewiesen wird eher auf ost- und mitteldeutsche Goldschmiedearbeiten vom Anfang des 16. Jahrhunderts, vgl. Kat. Stadt im Wandel 2, S. 1308.

Nachweise

  1. Abb.: Dorn, Abb. 175; Johann Michael Fritz, Goldschmiedekunst der Gotik in Mitteleuropa, München 1982, Abb. 875, 876; Diestelmann/Kettel, S. 45; wie Anm. 1.
  2. Lit.: Schröder/Assmann 2, S. 160f.; Schiller, 1849, S. 161; Meier/Steinacker, 1926, S. 19; Meier/Scherer, Nr. 34; Dorn, S. 214; wie Anm. 1.

Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 261 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0026108.