Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)

Nr. 19 Dom St. Blasii 1188

Beschreibung

Reliquiengefäß; Blei. In die seit 1173 im Bau befindliche Stiftskirche St. Blasii stifteten Heinrich der Löwe und seine Gemahlin Mathilde 1188 einen Marienaltar. Die rechteckige Altarplatte aus grauschwarzem rheinischen Marmor ruht auf vier bronzenen Ecksäulen, eine fünfte Säule stützt die Mitte der Platte ab. Die Kapitelle der Ecksäulen werden von jeweils vier mit ausgebreiteten Schwingen die Altarplatte tragenden Adlern gebildet. Lilien schmücken das Kapitell der Mittelsäule. Der älteste Standort des Altars wird mit „in der Mitte des Hohen Chores“ angegeben1). Seit der ersten nachmittelalterlichen Innenrenovierung des Domes 1686 ist er mehrfach versetzt worden; so z. B. 1935–38 als Aufsatz einer monumentalen Treppenanlage zum Hohen Chor bei der Umschaffung des Domes zu einer nationalsozialistischen Weihestätte. 1966 wurde der Altar unterhalb der zwei zum Chor aufsteigenden Treppen vor einer schlichten, aus Steinplatten gefügten Wand in direkter Beziehung zu den westlich davor liegenden Stiftergräbern aufgestellt2). Seit den ersten Umsetzungen des Altars war bekannt, daß die Mittelsäule die Reliquien barg. Bei der letzten Setzung des Altars 1966 wurde das Kapitell der Mittelsäule geöffnet und das Reliquiengefäß herausgehoben. Die runde, sich nach unten verjüngende Bleipyxis trägt auf dem Deckel eine Umschrift in vier konzentrischen Kreisen. Die Buchstaben sind tief in das weiche Metall eingeritzt. Der gleichmäßige Abstand der Zeilen wird durch konzentrisch eingeritzte Hilfslinien erreicht. Als Worttrenner werden einfache Hochpunkte sowie Doppel- und Dreifachpunkte verwendet, vier genau untereinanderstehende griechische Kreuze markieren die Zeilenanfänge. Die Mitte des Deckels zeigt in flüchtiger Ritzzeichnung eine auf einem Faldistorium sitzende männliche Gestalt mit gespreizten Beinen, aufrechtem Oberkörper, in beiden seitlich ausgestreckten Armen ein Kirchengebäude in Doppelturmanlage haltend. Der Kopf ist durch senkrechte Kratzer unkenntlich. Auf der Unterseite der Pyxis schneidet ein geritztes ornamentales Band die Rundung in zwei ungleiche Teile. Auf dem größeren ist der Kopf eines geradeaus blickenden älteren Mannes mit langem Bart und Tonsur gezeichnet3), der andere Teil ist frei bis auf einen nach rechts ausschreitenden, in das teilende Ornamentband hineinragenden braunschweigischen Löwen.

Inschrift nach Photographie4).

Maße: Oberer Dm.: 21 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [1/1]

  1. + ANNO · D(OMI)NIa) · M° · C° · LXXX° · VIII° · DEDICATV(M) · EST · HOC · ALTARE IN · HONORE · BEATE · DEI · GENITRICIS · MARIEb) · / + AB · ADELOGO · VENERABILI · EP(ISCOP)O · HILDELSEM(EN)SIc) · FVNDANTE · AC · PROMOVE(N)TE · ILLVSTRI · DVCE · HENRICO / + FILIO · FILIE · LOTHARII · INPERATORIS · ET RELIGIOSISSIMA · EIVS · CONSORTEd) · MATHILDIe) / + FILIA · HENRICI · SECVNDI · REGIS ANGLOR(VM) · FILII · MATHILDISf) · I(M)P(ER)AT(R)ICISg) · ROMANOR(VM)h)

Übersetzung:

Im Jahr des Herrn 1188 ist dieser Altar zur Ehre der seligen Gottesmutter Maria von Adelog, dem ehrwürdigen Bischof von Hildesheim, geweiht worden, durch Stiftung und auf Veranlassung des erlauchten Herzogs Heinrich, des Sohnes der Tochter des Kaisers Lothar, und seiner sehr frommen Gemahlin Mathilde, der Tochter Heinrichs II., des englischen Königs, des Sohnes der römischen Kaiserin Mathilde.

Kommentar

Die Buchstaben A, E, T, H, und D werden sowohl in der unzialen als auch in der kapitalen Form verwendet; das unziale A in der Form mit senkrechtem rechten Stützschaft. M erscheint halbgeschlossen, die dritte Haste mit betonter Rundung, die unzialen E und C in geschlossener Form. An allen Unzialen, aber auch an den kapitalen C, H, I und N kräftige bis betonte Sporen. Wiederholt ist die überraschend „moderne“, ausgebildete Form der gotischen Majuskel hervorgehoben worden5).

Das Reliquiengefäß enthielt bei seiner Öffnung 1966 eine Bleikapsel von 9 cm Durchmesser, in der sich das Siegel Bischof Adelogs, in ein Stück rote Seide gewickelt, mit in Resten erhaltener Siegelschnur befand6). Ferner enthielt es Berichte aus dem Jahr 1710 über die vorangegangenen Öffnungen des Altars von 1686 und 1709 und aus dem Jahr 1881 sowie Verzeichnisse der jeweils vorgefundenen, der herausgenommenen und der zugefügten Reliquien. Aus dem 19. Jahrhundert stammten eine versilberte Kapsel mit Erde von Gethsemane und ein Stein vom Ölberg7). Die Inschrift auf dem Deckel des Reliquiengefäßes wird als die eigentliche Weiheurkunde des Altars angesehen8). Sie steht im Zusammenhang mit der neben den Reliquien (für den Altar) zweiten großen Stiftung: dem Evangeliar Heinrichs des Löwen. Der Nennung der königlichen und kaiserlichen Vorfahren des Stifterpaares in der Weiheurkunde entspricht nicht nur das Widmungsgedicht des Evangeliars, sondern auch das Krönungsbild (fol. 171v), auf dem die in der Weiheinschrift genannten Vorfahren figürlich dem knienden und von göttlichen Händen gekrönten Stifterpaar zur Seite stehen. In ähnlicher Weise könnte das Widmungsbild (fol. 19r) des Evangeliars in Beziehung zum 1188 geweihten Marienaltar stehen: Zwei Hauptheilige des welfischen Hauses, St. Blasius und St. Ägidius, ergreifen die jeweils rechte Hand der Stifter und weisen mit der freien rechten bzw. linken Hand nach oben, wo in der oberen Hälfte des Bildes die Maria Theotokos, die Gottesgebärerin, mit dem ein Buch haltenden Jesusknaben in der Mandorla thront. Heinrich der Löwe hält das Evangeliar darbietend in der linken Hand. Die Verbindung der Altarweihe mit der Stiftung des Evangeliars ließ so auch eine Datierung der Fertigstellung des Evangeliars um das Jahr 1188 möglich erscheinen9). Dieser Zusammenhang und damit auch die späte Datierung nach dem Sturz und der Verbannung Heinrichs des Löwen sind nicht unbezweifelt geblieben, dazu wurden neue Überlegungen auch zur Stiftung des Marienaltars angestellt10). Die wissenschaftliche Kontroverse um die Datierung des Evangeliars ist damit in keiner Weise abgeschlossen11).

Textkritischer Apparat

  1. Kürzungsstrich oberhalb der geritzten Hilfslinie.
  2. Betonte Buchstabenzwischenräume.
  3. Sic.
  4. Gegen die bisher stets vertretene Lesung CONSORGE (zuletzt Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1016, S. 1155) muß angeführt werden, daß sich die unzialen G und T in der Schreibung stark annähern und daß eine nach links überstehende Trabs über dem G-förmigen T sichtbar angestrebt ist. Ein Sprach- oder Schreibfehler ist in der sorgfältig ausgeführten Urkundeninschrift kaum denkbar.
  5. Folgen fünf kreuzweise angelegte Punkte.
  6. Hochgestelltes kleines Schluß-s.
  7. Hochgestelltes kleines Schluß-s.
  8. Folgen fünf kreuzweise angeordnete Punkte wie in der Zeile darüber.

Anmerkungen

  1. Rehtmeyer, Kirchen-Historie, Supplement, S. 37.
  2. Möller, S. 110f.
  3. Gosebruch, 1980, S. 15, hält die sitzende Figur wie das Kopfbild für Abbildungen des Stifters Heinrichs des Löwen, letzteres für eine Art Porträt des alternden Herzogs; Frank N. Steigerwald, Das Evangeliar Heinrichs des Löwen, Sein Bilderzyklus und seine Bestimmung für den Marienaltar des Braunschweiger Domes im Jahre 1188, Braunschweig 1985, S. 41f. und 71, folgt Gosebruch in dieser Annahme. Renate Kroos, Die Bilder, in: Evangeliar, Kommentar 1989, S. 164–243, hier S. 185 Anm. 165, spricht hingegen von einer „unfertigen Figur auf dem Deckel“, die dem Idealbild des Herzogs in keiner Weise nahegekommen sei. Das Kopfbild entspricht eher dem Petrus-Typ. In der Linienzeichnung steht es den Physiognomien des Hildesheimer Oswald-Reliquiars nahe; vgl. Kat. Kirchenkunst des Mittelalters, hg. von Michael Brandt, Hildesheim 1989, S. 137.
  4. Photographie des Instituts für Denkmalpflege, Hannover.
  5. Kloos, S. 131; Peter Rück, Die Schriften, in: Evangeliar, Kommentar 1989, S. 122–154, hier S. 153 Anm. 166.
  6. Möller, S. 113; die Umschrift auf dem Siegel lautet: ADELOGUS · DEI · GRATIA · HILDE(NES)HEIMEN(S)I(S) [EPIS]COPUS.
  7. Möller, S. 112.
  8. Fried, S. 56 Anm. 81.
  9. Reiner Haussherr, Zur Datierung des Helmarshausener Evangeliars, in: Zs. des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 34, 1980, S. 3–15; Otto G. Oexle, Das Evangeliar Heinrichs des Löwen als geschichtliches Denkmal, in: Evangeliar, Kommentar 1989, S. 9–27, hier S. 17.
  10. Nach einer undatierten Stifternotiz in einer Urkunde des Pfalzgrafen Heinrich, des ältesten Sohnes Heinrichs des Löwen, wird Mathilde, die Mutter des Pfalzgrafen und Gemahlin Heinrichs des Löwen, als alleinige Stifterin des Marienaltars bezeichnet. Die Altarstiftung könnte somit in Abwesenheit des Herzogs, möglicherweise schon zur Zeit seiner Jerusalemfahrt geschehen und die Altarweihe dann zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden sein. Die Stiftung des Evangeliars wäre dann mit der Dotierung oder der Weihe, ja überhaupt mit dem Marienaltar nicht mehr zu verknüpfen. Vgl. Fried, S. 56f.
  11. Vgl. dazu jetzt Martin Möhle, Die Krypta als Herrscherkapelle. Die Krypta des Braunschweiger Domes, ihr Patrozinium und das Evangeliar Heinrichs des Löwen, in: Archiv für Kulturgeschichte 73, 1991, S. 1–24, hier S. 17–20. Auf die Weiheinschrift des Marienaltars und ihren programmatisch-dynastischen Bezug zum Krönungsbild des Evangeliars geht auch ein: Bernd Schneidmüller, Landesherrschaft, sächsische Identität und sächsische Geschichte, in: Peter Moraw (Hg.), Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter, Berlin 1992 (Zeitschrift für historische Forschung, Beihefte, Bd. 14), S. 65–101, hier S. 78.

Nachweise

  1. Abb.: Möller, S. 111–113; Gosebruch, 1980, Titelblatt; de Winter, S. 89.
  2. Lit.: wie Anm. 1–3, 5–8; Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1016, S. 1155f.

Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 19 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0001901.