Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)
Nr. 2 The Cleveland Museum of Art vor 1077
Beschreibung
Reliquienkreuz; Goldblech auf Eichenholzkern. Von gleicher Größe wie Nr. 1, trägt auch dieses zweite Kreuz der Gräfin Gerdrud in der Kreuzmitte in edelsteinverziertem Nimbus einen ovalen blauen Stein, hier einen Saphir. Auf den Kreuzarmen und dem Kreuzstamm sind vier quadratische Zellenschmelzplatten mit den Evangelistensymbolen eingesetzt. Die Reliquien befinden sich unter der oberen Schmelzplatte mit dem Adler des Evangelisten Johannes. Die in perlstabverzierte Kastenfassungen eingesetzten Edelsteine sind wie beim ersten Kreuz in der Mehrzahl in Dreiergruppen angeordnet, jedoch mit je einem kleineren zwischen zwei größeren Steinen. Die Zwischenräume sind mit Filigran ausgefüllt. Die Inschriften befinden sich auf der mit getriebenem Goldblech belegten Rückseite des Kreuzes. In der Mitte das Agnus Dei mit Nimbus und Kreuzstab. Die Inschriften oben auf dem Kreuzstamm (A) und auf den Kreuzarmen (B) bezeichnen die Reliquien. Auf dem Stamm unten, oberhalb einer weiblichen, mit Mantel und Kopfschleier bekleideten Halbfigur, die Stifterinschrift C. Ein eiserner durchlochter Dorn an der Unterseite weist auf die Verwendung als Stab- oder Zeremonialkreuz hin.
Inschriften nach Photographie des Cleveland Museum of Art.
Maße: H.: 24,2 cm; Br.: 21,3 cm1).
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
- A
RELIQVIAE / S(AN)C(T)I PETRI / AP(OSTO)LI
- B
ET / S(AN)C(T)AEa)/ LIVTRVDIS / VIRG(INIS)b)
- C
HOC / GERDRVDc) / COM(ITISSA) FIERI / IVSSIT
Übersetzung:
Reliquien des heiligen Apostels Petrus (A) und der hl. Jungfrau Liutrudis. (B)
Dieses ließ Gräfin Gerdrud anfertigen. (C)
Textkritischer Apparat
- Auf dem linken Kreuzarm.
- Auf dem rechten Kreuzarm.
- GERTRVD de Winter.
Anmerkungen
- Die Buchstabenhöhe konnte nicht gemessen werden.
- Im Essener Münsterschatz; de Winter, S. 51f. mit Abb. 35, 36.
- Hiltrud Westermann-Angerhausen, Westfälische Goldkreuze und ihre Voraussetzungen in Rheinland und Westfalen, in: Kat. Rhein und Maas 2, S. 181–190, hier S. 186.
- Neumann, S. 96f.; Falke/Schmidt/Swarzenski, S. 39f.; Gosebruch, 1979, S. 22ff., 28, 32.
- Neumann, S. 27.
- Kraus 2, Nr. 645, S. 296: Domina Mathildt me fieri iussit; ebd., Nr. 639, S. 294: Mathild Abbatissa me fieri iussit; vgl. ebd. Nr. 637/638, S. 293f.; ebd., Nr. 641–643, S. 295.
- Vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen bei Ruth Schölkopf, Die sächsischen Grafen: 919–1024, Göttingen 1957 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen, Bd. 22), S. 109 mit Anm. 7–9.
- Vgl. Hlawitschka, S. 144–148.
Nachweise
- Abb.: Neumann, Nr. 2, S. 95; de Winter, S. 30f.; Gosebruch, 1979, S. 22ff.
- Lit.: Neumann, Nr. 2, 3, S. 96f., 99f.; Falke/Schmidt/Swarzenski, Nr. 3, S. 101f.; de Winter, S. 33ff.
Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 2 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0000209.
Kommentar
Die Inschriften sind, anders als beim Kreuz für den Grafen Liudolf, nicht in zwei Blöcken auf dem Kreuzstamm, sondern freier und deutlich gegliedert um die Kreuzmitte angeordnet. Die Buchstaben sind dadurch auseinandergerückt und wirken ausgeprägter, obwohl sie in der Form von denen des Liudolf-Kreuzes nicht abweichen. Auch hier begegnet das E in zweifacher Form sowie unziales H und stark eingerolltes G. Das brezelförmige, unziale M, das beim Liudolf-Kreuz in COM(ITIS) nur noch schwach zu erkennen ist, tritt nun im Wort COM(ITISSA) mit starkem, fast verdoppeltem Mittelschaft und gerollt eingeschlagenen linken und rechten Bögen deutlich hervor. Die oberen Bögen von E und S sowie die Querbalken von L und T laufen keilförmig aus; beim S sind nach innen gewölbte Sporen sichtbar. Die Rundungen von C, D und Q sind als Schwellungen angedeutet, jedoch nicht beim ganz kreisrunden O. Das Schriftbild entspricht in seiner größeren Ausgewogenheit gegenüber dem ersten Kreuz der in sich vollendeteren Komposition der Vorderseite.
Das Reliquienkreuz war, als Parallelstück zum Liudolf-Kreuz, dem Seelenheil der Stifterin Gräfin Gerdrud gewidmet. Die weibliche Stifterfigur am unteren Ende des Kreuzstammes, mit verhülltem Kopf, die rechte Hand anbetend oder auf das Kreuz weisend vor die Brust gelegt, wird mit der der Äbtissin Mathilde von Essen verglichen, die an ähnlicher Stelle, aber als ganze Figur, auf dem von ihr und ihrem Bruder Otto von Schwaben um 980 gestifteten Altarkreuz dargestellt ist2). Beide Stifter halten dort ein zwischen ihnen aufragendes Stabkreuz. Auch hier ist die rechte Hand der Stifterin in gleicher Geste erhoben. Stifterinnen in ähnlicher Haltung finden sich auf dem Einband des Echternacher Codex Aureus der Kaiserin Theophanu (um 990) und auf dem Borghorster Kreuz der Äbtissin Berhta (um 1050). Auf dem letztgenannten Kreuz ist die Stifterin wie diejenige auf dem Kreuz der Gräfin Gerdrud als Halbfigur mit verschleiertem Kopf dargestellt. Doch lassen sich vom Typus der Stifterinnen keine unmittelbaren Zusammenhänge zwischen den Kreuzen ableiten3). Die Bestimmung des Herstellungsortes und damit eine stilistische Einordnung des Gerdrud- und des Liudolf-Kreuzes ist auf die wenigen vorhandenen Vergleichsmöglichkeiten eingeschränkt. Seit den ausführlichen Beschreibungen und Untersuchungen Neumanns ist der Hinweis auf Essen und eine ‚Theophanu-Werkstatt‘ immer wieder aufgenommen worden4). Im selben Zusammenhang wies Neumann auf die Reliquie der hl. Liutrudis hin, einer Heiligen, die in Essen in einem besonders kostbaren, noch auf eine Stiftung der Äbtissin Mathilde zurückreichenden Schrein verehrt wurde5). Trotz des stereotypen Wortlauts der Stifterinschriften des 11. Jahrhunderts, die sich auf den beiden Kreuzen wie auch in den überlieferten Essener Inschriften finden lassen, fällt hier die jeweils betonte Nennung des Ranges der Stifterinnen (abbatissa-comitissa) neben dem gleichen Wortlaut der Widmungsformel auf6). Folgt man der seit dem 18. Jahrhundert geäußerten Vermutung, Gerdrud sei die Tochter eines Grafen von Holland gewesen7), so wäre dies ein Hinweis auf den geographischen Raum, in dem die beiden Kreuze hergestellt worden sein könnten. Auch die neuere Forschung hat über die Herkunft Gerdruds keine gesicherten Nachweise liefern können8).