Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)
Nr. 1 The Cleveland Museum of Art nach 1038
Beschreibung
Reliquienkreuz1); Goldblech auf Eichenholzkern. Auf den Kreuzarmen und auf dem Kreuzstamm, die einander in den Ausmaßen stark angeglichen sind, befinden sich vier quadratische Zellenschmelzplatten mit je zwei gegenständigen Vögeln. Die obere Platte ist quer eingelegt, darunter waren die Reliquien geborgen. Die Kreuzmitte nimmt ein in einer Kastenfassung mit umgebendem Perlstab gehaltener ovaler blauer Chalzedon in einem edelsteinverzierten Nimbus ein. Kreuzartig darum angeordnet sind drei (ehemals vier) dunkelrote Glasflußgemmen mit eingeschnittenen Herrscherbildern und imitierten griechischen und lateinischen Buchstaben. Auf den vier Kreuzenden ist je ein ovaler Bergkristall zwischen zwei kleineren Steinen und Perlen eingesetzt. Die Zwischenräume sind mit Filigran ausgefüllt. Die Inschriften befinden sich auf der mit getriebenem Goldblech belegten Rückseite des Kreuzes in zwei Blöcken oberhalb (A) und unterhalb (B) des in der Kreuzmitte in einem Kreis dargestellten Agnus Dei. Die Kreuzenden tragen Evangelistensymbole in von schmalen Linien gebildeten Kreisen. Unterhalb des Kreuzes ragt ein eiserner durchlochter Dorn hervor. Inschriften und Darstellungen sind stark zerdrückt. Dieses und das Kreuz Nr. 2 befanden sich bis 1930 als Teile des Welfenschatzes im Besitz des Hauses Hannover und wurden 1931 an das Cleveland Museum of Art verkauft2).
Inschrift A nach Photographie des Cleveland Museum of Art. Inschrift B nach Neumann.
Maße: H.: 24,5 cm; Br.: 21,5 cm3).
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
- A
REL(IQVIAE) · S(ANCTI)a) VALERII / EP(ISCOP)I · PANCRAT/II M(ARTYRIS) · DE LAPID/E POSITO SVP(ER) / SEPVLCHRV(M)b) / D(OMI)NI
- B
HOC IVSSITc) C(OMITISSA)d) / GERDDR(VDIS)e) FABRI(CARI) / P(RO) ANIMA LIV/DOLFI COM(ITIS)
Übersetzung:
Reliquien des hl. Bischofs Valerius, des Märtyrers Pankratius, vom Stein, der über das Grab des Herrn gelegt war. (A)
Dieses ließ Gräfin Gerdrud anfertigen für die Seele des Grafen Liudolf. (B)
Textkritischer Apparat
- S seitenverkehrt Neumann.
- S seitenverkehrt Neumann.
- Beide S seitenverkehrt Neumann.
- C, bei Neumann deutlich sichtbar, kann nur als Titel comitissa, wie er auch in Nr. 2 erscheint, gedeutet werden.
- Lesung nach de Winter; GERTR(VDIS) Neumann.
Anmerkungen
- Falke/Schmidt/Swarzenski hatten das Kreuz der Gerdrud (Nr. 2) als das erste, möglicherweise frühere, danach das Kreuz Liudolfs verzeichnet. Es liegt jedoch näher, daß das Kreuz für Liudolf nach seinem frühen Tode zunächst angefertigt wurde; vgl. Gosebruch, 1979, S. 21 und 27f.; de Winter, S. 33, 48.
- de Winter, S. 150.
- Die Buchstabenhöhe konnte nicht gemessen werden.
- Immerhin war noch auf beiden Kreuzen der Name Gerdrud zu lesen, denn beide Kreuze wurden als von ihr gestiftet bezeichnet. Weiter heißt es in einem Reliquienverzeichnis der Braunschweiger Stiftskirche St. Blasii aus den Jahren 1482/1483 (Wolfenbüttel, Niedersächsisches Landeshauptarchiv, VII B 166, im folgenden: ‚Reliquienverzeichnis von 1482‘), S. 32: in uno continentur (‚in einem [Kreuz] sind enthalten‘), doch werden nun die Reliquien des hl. Petrus und der hl. Liutrudis aus dem zweiten Kreuz, dann aber die Reliquien des hl. Valerius und anderer Heiliger im Zusammenhang aufgezählt, d. h., man hat offenbar von beiden Kreuzen abgelesen, was noch lesbar war.
- quae sequuntur, legi amplius non possunt (‚was folgt, ist weiter nicht zu lesen‘), Molanus, S. 3.
- Neumann, S. 93–103.
- Falke/Schmidt/Swarzenski, S. 103.
- Gosebruch, 1979, S. 36.
- de Winter, S. 29.
- Zu Gerdrud vgl. auch die folgenden Artikel; Hlawitschka, S. 146–150.
- II cruces preciose que portantur cum vexillis optimis in festiuitatibus quas contulit gertrudis cometista (!); Reliquienverzeichnis von 1482, S. 32. Ein Stabkreuz mit Fahne trägt z. B. der hl. Bartholomäus auf dem Widmungsbild des Evangeliars Heinrichs des Löwen.
- Falke/Schmidt/Swarzenski, S. 104; Gosebruch, 1979, S. 32.
Nachweise
- Abb.: Neumann, Nr. 3, S. 98; Falke/Schmidt/Swarzenski, Taf. 9, 10, S. 14, 39; de Winter, S. 30.
- Lit.: wie Anm. 1–7.
Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 1 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0000102.
Kommentar
Der Erhaltungszustand der Inschrift läßt keine detaillierte Beschreibung der Buchstaben zu. M und E begegnen in kapitaler und runder Form, das unziale E ist durch Sporen fast geschlossen. Ein unziales H ist erkennbar. Auffallend ist das in breiter Kontur getriebene O mit sehr kleinem Innenkreis. – Durch Verformung und Abnutzung des Goldblechs auf der Rückseite des Kreuzes waren die Inschriften offenbar schon im späten Mittelalter kaum mehr lesbar4). Molanus konnte 1713 noch die oberen vier Zeilen abschreiben und setzte ausdrücklich hinzu, mehr könne man nicht lesen5). Neumann rekonstruierte die Stifterinschrift und brachte erstmals den Namen des Grafen Liudolf mit dem Kreuz in Verbindung6). Ihm folgten Falke/Schmidt/Swarzenski7) und schließlich Gosebruch8). Beachtung verdient die von Neumann abweichende Lesung des Namens Gertrud in der Form GERDDR(VDIS), die de Winter vermerkt9). Die Gräfin Gerdrud († 1077)10) stiftete das Reliquienkreuz wahrscheinlich nach dem Tode ihres Gemahls Liudolf († 1038), des in Braunschweig herrschenden Brunonengrafen, in die von beiden um 1030 gegründete Stiftskirche bei der Burg Dankwarderode. Das Kreuz sowie sein Gegenstück (Nr. 2) waren Stabkreuze, die bei Kirchenfesten oder feierlichen Anlässen in Verbindung mit Fahnen getragen wurden. In dieser Funktion sind sie auch im Verzeichnis des Braunschweiger Reliquienschatzes von 1482 aufgeführt11). Die Herstellung der Kreuze wurde in Niedersachsen, möglicherweise in Hildesheim, vermutet, auch eine Braunschweiger Werkstatt wurde nicht ausgeschlossen12).